Anderswelt

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ZUM BUCH

Wie verändert sich das eigene Denken, wenn man sich ein halbes Jahr ausschließlich aus rechten Medien informiert? Ein Bericht aus der Anderswelt über die schleichende Aushöhlung unserer Demokratie.

Während die klassischen Printmedien von der FAZ bis zum Spiegel an Auflage verlieren, legen die rechten Publikationen seit mehreren Jahren zu. Rechtes Gedankengut sickert immer mehr in die Mitte der Gesellschaft und wird attraktiv für Bürger, die sich lange ganz anders verortet haben.

Der Nachrichtenjournalist Hans Demmel und der TV-Journalist Friedrich Küppersbusch analysieren in Anderswelt die Wirkungsweise rechter Medien anhand von Tichys Einblick, MMNews, KenFM, Compact und Junge Freiheit, deren Websites und YouTube-Kanälen. In einem »Selbstversuch« hat sich Hans Demmel ein halbes Jahr ausschließlich die Lektüre und die Videos dieser Publikationen verordnet, Tagebuch geführt und den Einfluss auf sein Denken festgehalten. Friedrich Küppersbusch liefert dazu den Faktencheck und die notwendigen Hintergrundinformationen: Wer sind die Stammleser, wie werden neue Leser, User, Seher angezogen? Wer finanziert diese Publikationen? Und wie kommt es, dass einst als seriös anerkannte Journalisten wie Roland Tichy, Peter Hahne, Matthias Matussek oder der Radiomoderator Ken Jebsen die rechte Publizistik prägen?

Aus einer Mischung von Tagebuch, Dokumentation, Reportage und Interviews entsteht ein Einblick in eine Szene, die in ihrem Gefährdungspotential für die Demokratie nicht nur unbekannt ist, sondern sträflich unterschätzt wird.

ÜBER DIE AUTOREN

Hans Demmel, geb. 1956, ist Journalist und hat u.a. beim Bayerischen Fernsehen gearbeitet, war US-Korrespondent bei SAT 1, Chefredakteur von VOX und von 2006 bis 2018 Geschäftsführer bei n-tv sowie von 2016 bis 2020 Vorstandsvorsitzender des Privatfunkverbands VAUNET. Er lebt in Köln.

Friedrich Küppersbusch, geb. 1961, Studium der Journalistik in Dortmund. Nach Stationen bei der WAZ und WDR-Radio Moderation des politischen Magazins »ZAK« beim WDR. Seit 1996 Geschäftsführender Gesellschafter der probono Fernsehproduktion. Er wurde mit dem Grimme-Preis und dem Fernsehpreis Telestar ausgezeichnet. Kolumnen bei der taz, Radio Bremen, RadioEINS und »KüppersbuschTV« bei YouTube. Er lebt in Dortmund.

HANS DEMMEL

ANDERSWELT

Ein Selbstversuch mit rechten Medien,

begleitet von Friedrich Küppersbusch

VERLAG ANTJE KUNSTMANN

INHALT

RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN

Ein Selbstversuch in der Welt alternativer Medien

VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER UND DIE MITTE DER GESELLSCHAFT FINDEN ZUEINANDER

Erstes vorsichtiges Herantasten

Nur nette Menschen auf den Berliner Straßen

Die kurzen Wege in die Tiefen der Anderswelt

Der Tag danach

Erste Zweifel

Absurde Theorien verkaufen sich

Deutschlands bekanntester VerschwÖrungstheoretiker

Die Bedrohung durch das Fremde

Opposition als Grundprinzip

DIE REALITÄT WIRD AUSGEBLENDET, WENN SIE NICHT INS DENKEN PASST

Das angebliche Ende der Meinungsfreiheit

Donald Trump aus der Sicht der Anderswelt

Journalismus à la AfD

Meister der Selbstinszenierung

Trump forever

Der Fall George Floyd anders betrachtet

Nachwuchsautoren zur US-Wahl

Der Tag der US-Wahl

Die Anderswelt feiert Bidens Niederlage

Deutschland hat eine neue Wochenzeitung

Trumps Niederlage wird weiter angezweifelt

Das angebliche »ErmÄchtigungsgesetz«

Halbzeit in der Anderswelt

Jana aus Kassel

Höcke live

Wenig Fakten, wilde Storys

Lockdown verschÄrft, der Ton wird rauer

Grenzen verschwimmen

Eine Exklusivmeldung aus der Anderswelt

ZWEIERLEI MASS – DAS PRINZIP DER ANDERSWELT

Flucht und Migration. Wo die Verunsicherung der Mitte begonnen hat

Wer und was ist die Lügenpresse?

Verirrt in der Anderswelt

Feindbild Flüchtling

Die NPD am Kiosk

Migranten werden nur negativ dargestellt

Der Sturm aufs Kapitol wird geschrumpft

Die letzten Tage in der Anderswelt

WAS IST DA MIT MIR PASSIERT?

Ist die Anderswelt eine Alternative, vielleicht die bessere?

NACHWORT

DANK

QUELLENVERZEICHNIS

Prolog
RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN
EIN SELBSTVERSUCH IN DER WELT ALTERNATIVER MEDIEN

Schlecht geschlafen, wirr geträumt. Um halb vier Uhr früh aufgestanden. Gelesen. Ich frage mich, was ich mir da vorgenommen habe: heute also ist der Tag, an dem aus einer spielerischen Idee Ernst werden soll. Und ich frage mich, ob das wirklich eine gute Idee war?

Bei den ersten Anti-Corona-Demonstrationen in den vergangenen Wochen war immer wieder ein Stichwort deutlich zu hören, das mich seit Jahren bewegt: Lügenpresse. Und es sind nicht so sehr die lauten Pegida-Schreier in Dresden und anderswo, die Sorgen machen, es sind die vielen, leisen Zweifler. Diejenigen, die dem Medien-Mainstream immer mehr misstrauen. Diejenigen, die im Internet ihr Informationsheil suchen, die googeln und recherchieren verwechseln, diejenigen, die nur noch das glauben wollen, was die eigene Meinung, das eigene Vorurteil bestätigt.

Langsam fräst sich so fremdenfeindliches, antidemokratisches Gedankengut in alle Gesellschaftsgruppen, unabhängig vom sozialen Status. Die Medien, die dies befeuern, geben oder besser nennen sich mal liberal-konservativ, mal offen rechts.

Es sind zum Teil bekannte Journalisten aus dem Mainstream, die sich in den letzten Jahren radikalisiert haben. Namhafte und früher zu Recht geschätzte Kollegen wie Roland Tichy, Matthias Matussek, Boris Reitschuster oder Ken Jebsen. In unterschiedlicher Intensität, aber unüberhörbar. Mich verunsichert dies schon länger und ich frage mich, welche Motivation dahintersteht.

Während die Auflagen fast aller etablierter Printmedien fallen, melden Compact und Co deutliche Zuwächse. Was genau ist in diesen Publikationen zu lesen? Wohin führt der Weg Leser, User, Zuschauer, wenn sie sich ausschließlich in diesen sogenannten alternativen Medien informieren?

Um dies herauszufinden, werde ich mich über ein knappes halbes Jahr hinweg aus meinem gewohnten Nachrichtenumfeld ausklinken. Also kein Spiegel, keine Zeit, keine FAZ, keine Süddeutsche Zeitung, kein Deutschlandfunk, kein n-tv, keine Tagesschau, keine sonstigen Nachrichten im Fernsehen und im Internet. Im selben zeitlichen Umfang wie sonst auch werde ich mir meine Nachrichten aus »alternativen Quellen« holen.

 

Es ist jetzt Ende August. Die Diskussion um Corona nimmt an Aggressivität zu, die US-Wahlen stehen bevor, das Dauerthema Migration wird voraussichtlich gerade in diesen sogenannten alternativen Medien auch weiter eine zentrale Rolle spielen. Der Plan ist relativ simpel: Tagebuch führen und hinschauen, wo es wahrscheinlich wehtut.

Mehr als vierzig Jahre habe ich in unterschiedlichen Funktionen im »Medien-Mainstream« gearbeitet und gelebt. Volontariat beim heimischen Lokalblatt in Oberbayern. Gute zehn Jahre als Reporter in München, in Diensten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Reporter, Korrespondent, Magazin-Chef, Chefredakteur dann im privaten Fernsehen, und schließlich zwölf Jahre als Geschäftsführer eines Nachrichtensenders. Themen vom Trachtenumzug am Chiemsee bis zum Trump’schen Wahlkampf, von Tschernobyl bis Fukushima, vom Sommermärchen bis 9/11, von FJS bis NYSE.

Nach langer Erfahrung sollte ich gestählt sein für diesen Selbstversuch, für diese Reise ins Dunkel der deutschen Medienlandschaft. Angst vor dem, was mich erwartet und was die Lektüre bei mir auslöst, habe ich dennoch. Diese Angst soll mir ein Begleiter auf dieser Reise nehmen.

Friedrich Küppersbusch, mein langjähriger Freund und Kollege wird mir für die nächsten knapp sechs Monate auf die Finger und in den Kopf schauen. Wie wird sich mein Kenntnisstand des öffentlichen Geschehens von dem des durchschnittlichen Nachrichtenkonsumenten unterscheiden? Wird, und wenn, wie wird sich meine Wahrnehmung verändern? Friedrich Küppersbusch soll die notwendigen Einschübe liefern, die Fakten einordnen und so helfen, Differenz und Desinformation deutlich zu machen. Und er soll mir, sollte es so weit kommen, den Aluhut vom Kopf reißen.

Im Wesentlichen wird meine Lektüre auf Websites stattfinden, doch auch Gedrucktes und Videos, vornehmlich auf YouTube, gehören dazu. Es sind fünf Publikationen, denenich regelmäßig folgen will, aber ich werde auch den Algorithmus-Empfehlungen folgen und Seitenwege einschlagen. Und, das sei vorab verraten: Es werden sich »Preziosen« finden wie ein fast einstündiges, bewundernd-unterwürfiges Interview von Frau von Storch mit Steve Bannon, dem weltweit wohl einflussreichsten aller rechten Publizisten.1 Und ich werde zwanzigjährige Nachwuchsautoren kennenlernen, die voller Überzeugung für ihre Version eines neuen Deutschland brennen, und ich werde lesen müssen, wie ein Ex-Kulturchef des Spiegel eine Ikone der Identitären Bewegung hochjubelt: Brittany Sellner-Pettibone, die Frau von Martin Sellner.

Am nächsten noch am bürgerlichen Rand scheint Tichys Einblick zu stehen.2 TE startete 2014 als Ein-Mann-Blog und erscheint seit 2016 auch in gedruckter Form. Es ist, so Roland Tichy, der Kopf dahinter, »das Magazin für alle, die die Nase voll haben vom bevormundenden Mainstream-Journalismus«.3 Das, so der herausgebende Finanzenverlag, »Monatsmagazin für die liberal-konservative Elite« hat nach offiziellen Verlagsangaben eine gedruckte Auflage von 37.000 Exemplaren. Die Website wird laut Eigenangabe Monat für Monat von 650.000 Lesern genutzt. Seit sechs Jahren nutzt Tichy sein Know-how als früherer Chefredakteur bei den Wirtschaftsmagazinen Impulse, €uro und WirtschaftsWoche für seine eigenständigen Aktivitäten. Bei ihm werden Politiker wie Thilo Sarrazin und Hans-Georg Maaßen nahezu kritiklos hochgejubelt. So trifft er anscheinend den Lesegeschmack einer verunsicherten, migrations- und europaskeptischen Leserschaft. Damit hat er ein multimediales Medienangebot geschaffen. Offenbar ein wirtschaftliches Erfolgsmodell.

Auch Michael Mross, Kopf und Hauptautor der MMnews, ist ein ehemals bekannter Wirtschaftsjournalist.4 Er setzt bei seinen MMnews auf ein offenbar unzufriedenes, zumindest finanziell gehobenes Bürgertum. MMnews startete er schon 2008. Die Website ist von allen Medien aus diesem Gesinnungs-Dunstkreis die mit dem umfangreichsten Angebot an aktuellen News. Der Schwerpunkt liegt auf den Rubriken Wirtschaft und Börse, inklusive aktueller Ticker-Meldungen. Daneben bietet Mross gegen Bezahlung einen Börsenbrief an, der regelmäßig dreistellige Aktiengewinne in Aussicht stellt. Die Trennlinien zu klassisch-konservativen Medien sind auch bei den MMnews nicht auf den ersten Blick erkennbar. Bei genauerem Hinsehen ist es ein ähnliches Geschäftsmodell wie bei Tichy, vordergründig wirtschaftsnah, bei genauerem Hinsehen jedoch durchsetzt mit radikaler Kommentierung. Offizielle Zahlen zur Reichweite nennt Mross nicht. Der Stern ist schon 2016 deutlich in seiner Beschreibung der Publikation: Mross wettere auf seinem Portal gegen die EZB und die »Medienhuren«. Außerdem gegen nahezu alle, die »behaupten, es gebe einen Klimawandel.«5

KenFM war ursprünglich der Titel einer vierstündigen Hörfunksendung bei Radio Fritz unter dem Dach des öffentlich-rechtlichen RBB, ausgestrahlt in den Jahren 2001 bis 2011. Moderiert wurde die Sendung von Kayvan Soufi Siavash, der für sich den Künstlernamen Ken Jebsen wählte. Die Rechte am Titel behielt Jebsen nach einer spektakulären Trennung vom RBB. Die aktuellen Inhalte der Website6 und des Kanals werden gemeinhin von Journalisten und Wissenschaftlern als verschwörungstheoretisch eingeordnet. Nur ein kurzer Blick in den YouTube-Kanal belegt dies. Das Spektrum reicht von einem Aufruf zur »Stiftung Aufarbeitung der Verbrechen des Corona-Schreckensregimes« bis zu »Es war kein Mordanschlag von Putin«. Sein bislang erfolgreichstes Video wurde im Mai 2020 hochgeladen. Eine Breitseite gegen Bill und Melinda Gates. Jebsen wirft deren Stiftung vor, die Corona-Pandemie ausgelöst zu haben, um über ein anschließendes Impf-Programm die Weltherrschaft an sich zu reißen. Mit deutlich mehr als drei Millionen gingen die Abrufe durch die Decke, auch wenn nach Faktenchecks alle Kernaussagen falsch waren.7 Jebsens Youtube-Kanal wird Ende Januar abgeschaltet werden, weil er mehrfach die »Community-Regeln« des Netzwerks verletzt hat. Er weicht aus auf Telegram, einen Instant-Messaging-Dienst, der ursprünglich in Dubai entwickelt wurde, auf dessen Homepage aber kein Impressum oder ein Hinweis darauf zu finden ist.8

Das Eigenverständnis von Compact findet sich auf der Website klar umrissen: »Lesen, was andere nicht schreiben dürfen. Für alle, die Mut zur Wahrheit haben, ist Compact das scharfe Schwert gegen die Propaganda des Imperiums. Eine Waffe namens Wissen, geschmiedet aus Erz wirtschaftlicher und geistiger Unabhängigkeit.«9 Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise verkaufte sich das Heft laut Spiegel Online 85.000 Mal, derzeit sind es etwa 40.000 Exemplare.10 Der starke Mann hinter Compact ist der ehemals ausgewiesen linke Journalist Jürgen Elsässer, der als Autor und Redakteur für Arbeiterkampf, konkret und Neues Deutschland gearbeitet hat. Mitte der Nullerjahre wandte er sich immer mehr dem Rechtspopulismus und dem Rechtsextremismus zu. Elsässer, der auch bei mehreren Pegida-Mahnwachen in Dresden als Redner auftrat, hat Compact bewusst zum Sprachrohr des radikalen Flügels der AfD entwickelt.

Das schließlich letzte Medium, das regelmäßig verfolgt werden soll, ist die Junge Freiheit, führenden Politikwissenschaftlern wie Gideon Botsch oder Hajo Funke zufolge das Sprachrohr der Neuen Rechten. Dem heutigen Wochenblatt geht eine vom aktuellen Chefredakteur Dieter Stein 1986 gegründete Schüler- und Studentenzeitung voraus. 1990 dann gründen zehn Autoren und Redakteure die »Junge Freiheit Verlag GmbH«. In den letzten zwölf Jahren ist die Auflage des Blattes stetig gestiegen. Von verschwindend kleinen 4.500 Exemplaren 2008 auf aktuell 31.000. Laut Eigenwerbung in einem PR-Video füllt die JF »eine gravierende Lücke im veröffentlichten Meinungsspektrum. Mit Informationen, Perspektiven und Hintergründen, die andere meistens ausblenden.«11 Die sanft-säuselnde Stimme im Video dann weiter: »Die Junge Freiheit ist wirklich unabhängig und bewahrt sich so die Freiheit, brisante Themen ohne political correctness zu behandeln.« In der heute, zu Beginn meines Versuchs, aktuellen Ausgabe Nummer 36/20 sind dies eine Eigenumfrage zu Corona, die zu dem Schluss kommt, das Land sei gespalten, ein »Zwischenbilanz« genanntes Interview mit einer »Flüchtlingshelferin«, Tenor: die deutsche Flüchtlingspolitik sei gescheitert.12 Dazu findet sich eine hymnische Buchbesprechung eines Titels namens »Corona-Alarm« der »Wissenschaftler Sucharit Bhakdi und Karina Reiss«. Dem Buchtitel werde ich in den nächsten Wochen mehrfach wiederbegegnen.

Diese fünf Publikationen, Tichys Einblick, MMnews, KenFM, Junge Freiheit und Compact, wurden ausgewählt, weil sie am bekanntesten und am stärksten verbreitet sind. Sie decken beispielgebend das Spektrum vom sich liberal gebenden seriös wirkenden Angebot wie Tichys Einblick über verworrene Verschwörungstheorien bei Jebsen bis zum unverhohlenen Rechtsradikalismus bei Compact ab.

Was sie eint: Alle verstehen und verkaufen sich als Alternative zu den von ihnen so genannten »System-Medien« und reklamieren, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein. Der Wahrheit, der sich die »Lügenpresse«, wie sie ständig betonen, verweigert.

Der Beobachtungszeitraum endet in den letzten Januartagen 2021, der Stand der Recherche ist vom 31. März 2021.

Die Wege vom liberal-konservativen Report hin zu den absurdesten Verschwörungstheorien sind kurz. Am letzten Wochenende im August 2020 kreuzen sie sich in Berlin auf den Straßen rund um den Reichstag.

I VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER UND DIE MITTE DER GESELLSCHAFT FINDEN ZUEINANDER
ERSTES VORSICHTIGES HERANTASTEN

Es ist Freitag früh, der 28. August 2020. Ein trüber Spätsommermorgen und Tag eins meines Selbstversuchs. Für das bevorstehende Wochenende sind in Berlin Großdemonstrationen angekündigt. Vor drei Wochen schon haben nach Polizeiangaben zwischen 15.000 und 20.000 Menschen in Berlin gegen die Anti-Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern demonstriert. Offiziellen Angaben zufolge. Von den Organisatoren und den sie unterstützenden, meist rechten Medien werden diese Zahlen aggressiv bestritten. Sie wollen in etwa eine Million Menschen gezählt haben.

Gestern Abend habe ich mich noch einmal bei den von rechts so genannten System-Medien informiert. Dieser Begriff der System-Presse stammt aus einer Zeit, als es Medien in der heutigen Vielfalt von Verbreitungsformen noch nicht gab und Informa tionsvermittlung und politische Kommentierung fast ausschließlich in Zeitungen stattfand. Das Radio wurde zwar für die NS-Propaganda immer wichtiger, stand aber seit der ersten Sendung im Oktober 1923 unter staatlicher Kontrolle. Der Begriff der System-Presse entstand 1933, wie Cornelia Schmitz-Berning in ihrem Buch »Vokabular des Nationalsozialismus« festhält.1 Er war fester Bestandteil des offiziellen Sprachgebrauchs der Nazis. »Am 8. 4. 1933 verkündete Goebbels vor dem SA-Appell: ›Wir dürfen heute mit stolzem Selbstbewusstsein sagen, dass an unserer Kraft das System zerbrochen ist.‹ Zu System, verächtlich für die Weimarer Republik benutzt, gebildete Komposita sind Systembeamte, Systembonzen, Systempresse.«

Eines der großen Themen an diesem Tag ist in eben all diesen »System-Medien« die Entscheidung des Berliner Innensenators Andreas Geisel, die für das Wochenende geplante »Anti-Corona-Demonstration« zu verbieten. Sein Argument: der Infektionsschutz sei nicht gewährleistet. Zeitgleich hat die Kanzlerin die Ministerpräsidenten für den heutigen Tag geladen, um einheit lichere Anti- Corona-Maßnahmen zu verabreden. Mit mehr oder weniger Erfolg. So will Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff nichts von Strafen gegen Maskensünder wissen. Auch Außenminister Maas hat seine Kollegen aus den anderen EU-Staaten eingeladen, um eine gemeinsame Strategie zu den Demokratiebestrebungen in Belarus zu erarbeiten. Auch mit mehr oder weniger Erfolg. Nikos Dendias, der griechische Außenminister, hat sein Veto angedroht, sollte Belarus sanktioniert werden und nicht gleichzeitig auch die Türkei wegen deren Vorpreschens im Kampf um das Erdgas im Mittelmeer. Und dann noch ein Blick nach Milwaukee, wo die Basketball-Stars der Milwaukee Bucks den Ball niedergelegt haben, um so gegen den Rassismus in ihrem Land zu demonstrieren.

Nichts davon wird sich in der von mir verfolgten alternativen Presse wiederfinden, nicht einmal in Spurenelementen.

Freitag früh gehe ich zum Bahnhof. An den Kiosk oder die Tankstelle, wo mich ein Nachbar sehen könnte, habe ich mich nicht getraut, erkannt zu werden wäre mir dann doch peinlich. Schlimmer wäre es noch, wenn mir jemand aus meinem gutbür-gerlichen Wohnumfeld auf die Schulter hauen würde: »Freut mich, dass du einer von uns bist.« Das würde ich nicht hören wollen. Am Bahnhof muss ich mich erst einmal nach Tichys Einblick erkundigen. Es liegt ein bisschen versteckt in einer Ecke.

 

Gleich daneben, in räumlicher und inhaltlicher Nähe, die Junge Freiheit und daneben wiederum ein Heft, das mir bisher nicht bekannt war: »Zuerst! Deutsches Nachrichtenmagazin« mit dem Titelthema »Gibt es Rassismus in Deutschland? Angriff auf die weiße Welt«. Beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses schaudert es mich: »Gute, alte Zeit, als in Europa weiße Völker in weitgehend ritterlicher Weise gegeneinander fochten«, »Wird Wien zum Babylon? Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist auf bestem Weg, die gebürtigen Österreicher zu überflügeln«. Auf Seite fünf lese ich beim Durchblättern: »Doppelt so viel Geld für Auschwitz«. Außenminister Maas hat der Meldung zufolge bei einem Besuch in Polen zugesagt, die Summe für die Stiftung Auschwitz-Birkenau von 60 auf 120 Millionen zu erhöhen. »Der deutsche Steuerzahler kann sich gerade in Krisenzeiten darauf verlassen, dass die Politik die ihr zur Verfügung gestellten Mittel nur für die absolut wichtigsten und notwendigsten Zwecke ausgibt.«2

Ein erstes Fundstück, ein erster Abzweig vom gemäßigt scheinenden in den radikalen rechten Weg.

Das gedruckte Compact-Magazin ist hier am Kölner Bahnhofskiosk hinter einem vorgeschobenen Miniregal nur schwer zu finden. Seit Publikation und Verlag vom Verfassungsschutz beobachtet werden, wird es in manchen Zeitungskiosken gar nicht mehr angeboten.

Im Netz dann langsames Warmlaufen bei Tichys Einblick. Noch sind die für Samstag geplanten Demos in Berlin verboten, die Entscheidung dafür wird erst in der Nacht zum Samstag vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg getroffen werden.

Zeit für den ersten Fakteneinschub von Friedrich Küppersbusch:

Demo Genehmigungen

Freitag 13:47 Uhr: Spiegel Online meldet, das Berliner Verwaltungsgericht habe die Verbotsverfügungen der Polizei aufgehoben. Es gebe »keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit«. Der Veranstalter habe ein Hygienekonzept vorgelegt. Das Land habe die Auflagen nicht hinreichend geprüft.3

Samstag 3:02 Uhr: Tagesspiegel Online berichtet, das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg habe in der Nacht die Eilbeschlüsse des Verwaltungsgerichtes »im Wesentlichen« bestätigt. Schlagzeile: »Demonstrationen gegen Corona-Politik dürfen stattfinden.«4

Dazu schreibt Dushan Wegner, Gastautor bei Tichys Einblick: »Berlin verbietet Corona-Demos, liest man im Staatsfunk.«5 Na ja, im Funk zu lesen ist irgendwie ein bisschen schwierig, und ziemlich verschwurbelt geht es dann auch weiter. Eigentlich nicht nachvollziehbar verbindet Wegner (wie gerne würde ich ihn jetzt googeln, aber das scheint mir gegen die Spielregeln zu verstoßen) das Demonstrationsverbot mit dem »Brüsseler New pact on immigration and asylum« und flicht den von ihm als bekannt vorausgesetzten Roman »Hitchhikers Guide to the Galaxy« ein.

Dushan Wegner

Dushan Wegner, geboren als Dušan Grzeszczyk 1974 in der Tschechoslowakei, kam mit sechs Jahren nach Deutschland. Seiner Amazon-Autorenbeschreibung nach arbeitete er »als Programmierer, als Videojournalist, Politikberater und Publizist. Er studierte Theologie, dann Philosophie, Medienwissenschaften und Germanistik«, nach Angaben seines Verlages Westend war er »vormals Ausbilder und Redakteur beim Fernsehen … derzeit Texter und Politikberater. Sein Spezialgebiet ist die systematische Entwicklung von politischen Slogans und Talkingpoints.«6,7

Per Anhalter durch die Galaxis

»The Hitchhiker’s guide to the Galaxy« ist der Originaltitel der auch in Deutschland bekannten Science-Fiction-Komödie »Per Anhalter durch die Galaxis« von Douglas Adams. Erstveröffentlichung auf BBC Radio4 1978.8

Es ist mein erster bewusster Kontakt, mein erster für diesen Versuch gelesener Text. Ihn nachzuvollziehen fällt mir schwer. Ein Zitat vom Anfang: »… in den sozialen Medien liest man den Jubel der Staatsfunker und Gleichgeschalteten, und einem wird nicht-nur-leicht-übel.« Dieser Textteil ist noch halbwegs verständlich, für den Rest braucht es immense Konzentration: »Niemand hat nicht erwartet, dass im Schatten des Virus die ›üblichen Verdächtigen‹ drangehen würden, ihre ohnehin gehegten Ziele zu beschleunigen.« Zumindest mich, den Neuling in der Anderswelt, lässt dies ratlos zurück. Aber: Es gibt klar erkennbare Feindbilder bei Wegner: »Wolfgang ›schwarzer Koffer‹ Schäuble«, den »später an Ischias leidenden Wolfgang Juncker«, die »Chefin Deutschland ist die Jungkommunistin«. Gemeint ist wohl die Bundeskanzlerin.

Der zweite Kontakt: ein Video auf der Homepage von TE: Achim Winter und Roland Tichy am Tisch, ähnlich wie Statler und Waldorf aus der Muppet-Show, aber nicht in der Theaterloge und auch nicht ganz so witzig.9 Die Geschichte will Satire sein: Winters wohl fiktiver Freund aus Schwäbisch Gmünd hätte die Reise zur Demo ja schon gebucht, wüsste aber jetzt nicht so recht, was dort anfangen im fernen Berlin, sollte die Demo verboten werden. Tichys Tipps für den Ausflug in die Hauptstadt, in der es anscheinend drunter und drüber geht, versprechen ein unterhaltsames Wochenende. Winters Freund könne ja im Görlitzer Park unter Polizeischutz kiffen, sich am Abend dann Grillanzünder besorgen und straffrei einen Porsche anzünden und so weiter. In Berlin ginge das alles ganz problemlos. Satire? Na ja, ich komme mir beim Zusehen auf YouTube ein bisschen vor wie Fozzie Bär, der nichts versteht und sich nur wundern kann. Achim Winter kommt vom ZDF, und seine Kolumne auf Tichys Einblick verträgt sich offenbar mit seinen öffentlich-rechtlichen Kamera-Auf-tritten.

Dann lese ich bei Tichys Einblick noch ein Interview mit Diet rich Murswiek, der vorgestellt wird als »anerkannter Verfassungsrechtler, nachdem er bereits auf Bitten des Landtags von Rheinland-Pfalz gutachterlich tätig geworden ist«10.

Dietrich Murswiek

Deutscher Rechtswissenschaftler, gehörte von 1972 bis 2015 der CDU an und berät seit Mitte der 80er Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU-Fraktion in staats- und völkerrechtlichen Fragen. »Bei seiner Berufung an die Universität Freiburg wurde ihm vorgeworfen, dass er in jungen Jahren im Umfeld rechtsextremer Kreise aktiv war.« 2018 verfasste Murswiek im Auftrag der AfD ein Gutachten zu »deren womöglich drohender Beobachtung durch den Verfassungsschutz«11.

Schon die Frage, die an Murswiek gestellt wird, warum »Black livesmatter-Demos anders behandelt« werden, anders als Anti-Corona-Demonstrationen nämlich, verweist darauf, dass diese von staatlichen Autoritäten aus politischen Gründen benachteiligt würden. Auf die Frage »Lassen sich Abstands- und Maskenpflicht bei Demonstrationen überhaupt noch rechtfertigen?« antwortet Murswiek mit der Gegenfrage, ob das Robert Koch- Institut gesicherte Erkenntnisse habe, dass »sich die Massendemonstrationen von BLM oder … von Gegnern der Coronapolitik … nachträglich als Hotspots für die Verbreitung des Virus erwiesen haben«.

Auf den ersten Blick, denke ich, ist dies zumindest nicht völlig von der Hand zu weisen. Doch wie wäre eine Nachverfolgung bei nicht registrierten Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet überhaupt möglich?

Ich klicke weiter zu Michael Mross, dem Kopf des Online-Konglomerats MMnews. Das Video ist etwa zehn Minuten lang, gedreht direkt vor dem Brandenburger Tor.12 Selbstsicher, redegewandt. Ein Profi, einer, der das Spiel mit der Kamera beherrscht.

»Berlin! Berlin! Hier spricht Berlin«, jubelt er in einer Großeinstellung. Die Vorfreude ist ihm anzusehen. Er erwartet Großes. Die Schätzung der Polizei, die bei etwa 30.000 zu erwar tenden Demonstranten liegt, hält er »für ein bisschen niedrig gegriffen. Ich denke, es werden sicher eine Million sein.«

Zehn Minuten lang spricht er ganz im Stil der von ihm so verachteten Mainstream-Medien in die Kamera. Und interviewt dann Menschen auf der Straße. MoS, men on street, nennt sich das im professionellen, sicherlich nicht mehr ganz politisch korrekten Vokabular. Die Menschen, die er interviewt, kommen sichtlich aus der Mitte der Gesellschaft. So wie das Ehepaar, das aus Brühl bei Köln angereist ist. Beide schätzungsweise um die fünfzig. Gutbürgerlich. Sie sind hier, um »das Grundgesetz zu verteidigen«. Beide loben die gelöste Stimmung und freuen sich, dass sie keine Masken sehen. Eine Werbe-Einblendung der Neuen Zürcher Zeitung unterbricht die Reportage, dann kommt eine junge Frau zu Wort. Um die dreißig, dezenter Chic. Ihre Empörung merkt man ihr an, es sei ja »wissenschaftlich erwiesen, dass die Masken gesundheitsschädlich sind«. Alle Interviewten sind sympathische, ruhige, nachdenkliche Menschen. Bei Mross tauchen keine Verschwörungstheoretiker auf, keine Neonazis, keine QAnon-Anhänger, wie sie beispielsweise die Berichterstattung von Spiegel TV über die erste Berliner Anti-Corona-Demo vor zwei Wochen geprägt haben.

Das, was ich da sehe, lässt mich über meine nicht wegzuleugnende Voreingenommenheit nachdenken. Geht es wirklich so schnell, Zweifel im Kopf zu säen? Die Sympathie-Werbung für die Protestierenden ist professionell gemacht und leicht durchschaubar. Doch wie wirkt das auf die ohnehin Zweifelnden?