Osterläuten

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Friederike Schmöe

Osterläuten

Kriminalroman


Zum Buch

Das letzte, was ich tue. Mia freut sich auf Ostern. Besonders das Glockenläuten in der Osternacht liebt sie sehr. Doch ihre Freude wird jäh getrübt: Als Waldarbeiter einen weiblichen Schädel finden und Forensiker das Aussehen der toten Frau rekonstruieren, trifft sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Die Tote ist ihre beste Freundin Monika, die vor 11 Jahren spurlos verschwand. Schnell ist klar, dass sie ermordet wurde. Zusammen mit Monikas Mann André will Mia herausfinden, wer einen Grund hatte, sie zu töten. Die Spur führt schnell zu Monikas früherer Clique, zu der auch Mias Eltern gehörten. Aus deren Dunstkreis ist Jahre zuvor bereits einmal ein junges Mädchen verschwunden. Mia vermutet einen Zusammenhang. Doch mit ihren Nachforschungen wirbelt sie Staub auf und als sie feststellt, dass der Mörder all die Jahre unbemerkt ganz in der Nähe lebte, überschlagen sich die Ereignisse. In der Osternacht muss Mia eine folgenschwere Entscheidung treffen …

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst unter anderem die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © manfredxy / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6778-3

Zitat

Ostern besagt, dass man die Wahrheit ins Grab legen kann, dass sie aber nicht darin bleibt.

Clarence W. Hull

Prolog

Sie rannte. Ihre Füße hämmerten auf den Asphalt.

Er war nicht so fit wie sie, besaß aber eindeutig die längeren Beine. Sie hielt nach rechts, überquerte den menschenleeren Parkplatz. Nur eine einzige Laterne verstreute ihr gelbliches Licht, das ab und zu flackernd erlosch, um kurz darauf wieder aufzuleuchten. Sie lief in den Wald.

Hatte er ihren Kurswechsel mitbekommen?

Der Waldweg war uneben und matschig, voller Wurzeln. Wenn sie stürzte, wäre das ihr Todesurteil. Er würde nicht zögern, sie umzubringen. So wie er anscheinend nie gezögert hatte, wenn es eng wurde für ihn.

Tatsächlich kannte er sich mit einsamen Stellen in Wäldern aus.

Stockfinster hockte die Nacht über ihr, vor ihr, neben ihr. Sie hörte seinen Atem hinter sich.

»Warte doch!« Seine Stimme, brutal nah.

Alles, nur das nicht. Der Weg machte eine Biegung. Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Sie duckte sich. Weiter!

Er besaß mehr Kondition, als sie gedacht hatte. Sie strauchelte. Fing sich. Rannte.

Hinter sich hörte sie einen Schmerzensschrei. Der Wald lichtete sich. Ausgerechnet jetzt gaben die Wolken den Mond frei. Silbern schien er auf die Lichtung, zwei Bänke standen da, eine morsche Holzfigur. Rechts lag der steile Hang, der rettende Weg zurück in die Stadt. Quer über die Wiese, sie lief, stolperte, stürzte, rollte sich ab, stechender Schmerz im Knie, sie kullerte zehn, 20 Meter die Steigung hinunter. Rappelte sich auf. Das Knie!

Er war da. Irgendwo, nahe. Sie konnte seine Anwesenheit spüren. Flog beinahe über die Wiese, bis sie wieder einen Weg erreichte.

Kein Mond mehr, alles still und dunkel. Keine Schritte hinter ihr. Sie keuchte, fiel in einen langsamen Trab. Wo war er? Er würde nicht aufgeben. Nicht jetzt. Wo es um alles für ihn ging. Ihre Lungen schmerzten. Der Weg war steinig, auf dem Kies geriet sie ins Rutschen, rechts gurgelte ein Bach.

Und weit unten, in der Stadt, begann eine Glocke zu läuten.

Eine Hand berührte sie an der Schulter.

»Warte!«

Sie roch seinen säuerlichen Atem, hörte, wie er nach Luft rang. Sein Griff war fest, die Finger krallten sich in ihre Jacke.

»Nein!« Sie riss sich los. Rannte. Das schmerzende Knie gab kurz nach. Sie lief, nicht hier sterben, in der Einsamkeit.

»Jetzt warte doch!« Irgendwie musste er Kraft gesammelt haben, kam wieder näher. Griff nach ihrer Jacke. Sie ließ sie von den Schultern gleiten, nutzte den Moment der Überraschung, als er stehen blieb, verblüfft. Ein Vorsprung, knapp.

»Lass mich!«, schrie sie. Unnötigerweise, sie brauchte all ihren Atem, aber sie schrie um Hilfe, hörte ihre eigene Stimme, dann seine, seine Schritte auf dem Kies, sie rutschte aus, fing sich, rannte.

Sie würde es nicht schaffen. Er hatte zu viel zu verlieren. Er würde nicht lockerlassen. Er hatte Kraft. Mehr als sie. Er würde sie einholen.

Aber ich habe auch was zu verlieren! Mein Leben!

5 Tage vorher – Montag der Karwoche

1.

Es war zu dunkel, um viel zu erkennen. Die Straßenlaterne an der Ecke war immer noch ausgefallen. Irgendwo kläffte ein Hund, und ein Lkw donnerte in der Ferne über den Berliner Ring. Ein Windstoß drückte gegen das Fenster. In der Nachbarschaft mühte sich jemand mit dem widerwilligen Motor eines Motorrades ab. Schließlich gab er auf. Die Nacht, die eben von ein paar harmlosen Sounds aufgescheucht worden war, sackte zurück, legte sich über die Straße.

Rein wettermäßig von Ostern keine Spur.

Die Stille schmerzte. Mia lehnte die Stirn gegen die eiskalte Scheibe. Die Heizung würde sich frühestens um 6 Uhr einschalten. Sie wollte keinen Frühling. Die dunklen Wintertage vermittelten ihr die Geborgenheit, die sie brauchte.

Seufzend schlurfte Mia in die Küche. Das Tablet lag noch auf dem Tisch. Eine Rotweinlache hatte sich daneben ausgebreitet. Sie stellte das Radio an, suchte den Lappen, fand ihn im schmutzigen Abwaschwasser. Rasch wischte sie den Tisch sauber und aktivierte den Browser. Im Radio lief Schumann, die Auslaufrille des Nachtprogramms.

In ihrem Feed waren die neuesten Nachrichten aufgelaufen. Sie hatte alle möglichen Seiten abonniert und scannte in der Regel sämtliche Meldungen gewissenhaft, bevor sie diejenigen auswählte, die sie genauer lesen wollte. Meistens blieb sie bei Neuigkeiten zu Theater, Kinofilmen, Büchern und Ausstellungen hängen. Politik ließ sie nur wohldosiert an sich heran, Regionales mied sie beinahe ganz.

Dies nicht:

Schädelfund bei Tiefenellern.

Mia vergrößerte den Artikel.

Anfang April fanden Waldarbeiter einen skelettierten weiblichen Schädel im Wald bei Tiefenellern. Mittlerweile haben Forensiker mit Hilfe der Weichteilrekon­struktion das Aussehen der Frau am Computer generiert. Gesucht werden nun Zeugen: Wer kennt die Frau, die seit etwa zehn Jahren tot ist und zum Zeitpunkt ihres Todes zwischen 30 und 40 Jahren alt war? Die Gesichtssimulation wurde absichtlich ohne Haare angefertigt, um nicht von den individuellen Zügen der Frau abzulenken. Bitte bedenken Sie, dass das Gesicht auch hagerer oder fülliger sein könnte. Weitere menschliche Knochen wurden nicht gefunden. Sachdienliche Hinweise …

Mia blinzelte. Sie klickte auf das Gesicht. Es sah aus wie eine Bleistiftzeichnung, irgendwie unfertig. Augen, Nase, Mund, Kinn, Halsansatz. Keine Haare.

Sie zoomte den Ausschnitt.

Ihr Herz schlug schneller. Sie rieb sich die Wangen, stand auf, goss Wasser in ein Glas. Trank.

Griff nach dem Handy und tippte Andrés Nummer.

Natürlich ging er nicht ran.

Sie drückte die rote Taste und wählte sofort wieder. Starrte durch das Fenster, in dem sie sich spiegelte, im bläulichen Licht des Tablets.

»Was ist denn!«, meldete er sich endlich.

»André? Ich bin’s, Mia.«

»Bist du verrückt? Weißt du, wann ich gestern ins Bett kam? Nicht gestern. Heute. Vor einer halben Stunde ungefähr.« Seine Stimme klang missmutig und alarmiert, beides zugleich.

»Hör mir zu, André: Ich schicke dir jetzt einen Link auf dein Handy. Versprich mir, dass du den gleich anklickst. Sofort, ja?«

»Ich surfe nie im Internet, und wenn, dann sicher nicht morgens um 5 Uhr.«

Wie zur Bestätigung der unchristlichen Uhrzeit ertönte in Mias Radio der Nachrichtenjingle.

 

»Bitte. Sieh. Dir. Diesen. Artikel. An.«

Sie legte auf. Griff nach dem Tablet und klickte auf »Teilen«.

Ging zum Fenster. Ein wenig Licht sickerte durch das Schwarz am Himmel.

Immerhin, wir haben April.

Direkt unter ihr startete jemand ein Auto und fuhr davon. Jemand, der zur Arbeit musste. Der eine Aufgabe hatte, mit der er den Tag füllen konnte. Womöglich ein ungeliebter Job, aber zumindest irgendeine Art von Sinn.

Mia stöhnte leise. Die Unentschlossenheit. Die Ängste. Die vielen Reisen, Fluchtwege durch die Welt, teuer bezahlt, und doch landete sie immer wieder bei sich selbst. In ihren eigenen Grenzen, die sich jeden Tag enger um sie schnürten. Unruhig setzte sie sich wieder vor das Tablet. Starrte das haarlose Gesicht an. Speicherte den Link ab.

Seit etwa zehn Jahren tot.

Verdammt. Zehn Jahre.

Zwischen 30 und 40 Jahre alt.

Kommt hin.

Das kommt verflucht noch mal hin.

2.

Sie konnte nicht auf Andrés Rückruf warten. Mia hastete ins Schlafzimmer, wühlte in den Kartons nach einem frischen Shirt, zog sich an. Sie wohnte seit fünf Monaten in dieser winzigen Wohnung im Bamberger Osten. Immer noch steckten ihre Anziehsachen in den Umzugskisten. Pro forma hatte sie im Netz nach einem günstigen Schrank gesucht. Ohne sich je für einen zu entscheiden. Worin sie ihre Klamotten aufbewahrte, war ihr herzlich egal.

Wie das meiste.

Schnell war sie zur Tür draußen.

Die kalte Luft wischte den letzten Rest von Müdigkeit weg, während sie in die Innenstadt radelte. Allmählich erwachte der Tag. Schwarz hoben sich die Doppeltürme der Gangolfskirche gegen den rötlichen Himmel ab. Hinter Andrés Fenstern brannte Licht. Sie drückte auf die Klingel.

»Mia?« Er trug einen Wollpulli mit Reißverschluss, Jeans und Crocs und ein bemüht freundliches Lächeln im Gesicht.

»Ich musste kommen.«

Damit du nicht wieder anfängst mit: du weißt schon, was.

Ihre Stimme zitterte, als sie hinzufügte: »Hast du das Phantombild gesehen?«

»Es ist … grauenvoll.«

Er ging ihr voraus in die Küche. In einem Glas schimmerte eine bernsteinfarbene Flüssigkeit.

»Nein, André! Du machst das nicht.«

»Der Schock. Mein Gott. So ein Schock.« Er griff nach dem Glas.

Sie nahm es ihm weg und trank die zwei Finger breit in einem Zug aus.

Die Verzweiflung. Die Panikattacken. Die Vernehmungen. Der Kampf gegen das eigene Gedächtnis. Die Angriffe der Medien. Der Alkohol. Alles kehrte zurück wie eine Meereswoge, die sie unter sich begrub.

»Ach. Du darfst?« Er stemmte die Hände in die Hüften. Nach Monikas Verschwinden hatte er zuerst abgenommen, aber mittlerweile wieder zugelegt. Mia war froh drum. Sie musste an den Spruch denken, wonach man niemals einem knochigen Koch trauen sollte.

Sie stellte das Glas ab.

»Für dich ist also der Brandy genau das passende Frühstück, wie?« André ließ nicht locker.

Schwindelig vom Alkohol, zog Mia sich einen Stuhl heran. Essensreste standen auf dem Tisch, der Boden war seit Wochen nicht gewischt worden. Resigniert ließ André sich ebenfalls auf einen Stuhl fallen.

»Ich hätte das Restaurant verkaufen sollen, als sie mich darum bat. Unsere Arbeitszeiten waren zu unterschiedlich. Wir haben uns praktisch nicht mehr gesehen.«

»Das Restaurant war dein Leben.«

»Nein. Mein Leben war Monika.«

Er war abgestürzt. Nach Monika. Hatte das Lokal aufgegeben und arbeitete heute in einer Kantine. Was er verdiente, reichte für die winzige Erdgeschosswohnung, in die nie ein Lichtschimmer drang. Er hatte keine Ambitionen mehr, keine Pläne, keine Wünsche. Außer dem einen: durchzuhalten, der Schlaflosigkeit Paroli zu bieten. Von der Straße drangen die Geräusche des allmählich anschwellenden morgendlichen Verkehrs herein.

Mia sah, dass André geweint hatte. Seine Augen waren gerötet, die weichen Gesichtszüge umschattet. Damals hatten sie gegenseitig ihre Krisen kennengelernt. Sich in allem gestützt.

Ich war zu jung. Ich war erst 18.

»Warum ist ihr Kopf in dem Wald? Warum nur der Kopf? Und da oben am Ellerberg, meine Güte. Warum hätte sie dorthin fahren sollen? Oh mein Gott.«

Sie sahen einander an. Seinerzeit hatten sie sich die Köpfe zermartert, versucht, sich an etwas zu erinnern, an einen kleinen Baustein nur, der den Gedankengebäuden, die die Polizei um sie herum errichtete, irgendetwas Sinnhaftes hinzuzufügen hätte. Vergebens. Es gab nichts, an das sie sich zu erinnern vermochten, denn Monika hatte nie etwas erzählt.

»Wo war noch mal dieser Wanderparkplatz?«, fragte Mia, als ihr die Stille zu tief und zu gefährlich wurde.

André stand auf und schlurfte aus der Küche. Sie hörte ihn mit Schranktüren klappern und Schubladen auf- und zuziehen. Schließlich kam er wieder, eine Landkarte in der Hand.

»Räum mal den Kram da weg.«

Mia kannte die Karte. Sie hatten sie gemeinsam mit Markierungen versehen, immer wieder neu, immer wieder aktuell, wobei es nichts zu aktualisieren gab. Alles nur Aktivismus, nur Vermutungen, nur ausgebrütete Geschichten. Wie der Plot für einen Film, der nicht von der Stelle kam. Mia stellte die Essensreste und das Brandyglas weg. »Zeig.«

Er breitete die Karte aus.

»Hier. Der Wanderparkplatz in der Fränkischen Schweiz. Im Aufseßtal. Da hat sie das Auto abgestellt.«

Mia starrte auf den Fingernagel mit dem Trauerrand. »Sie selbst. Oder jemand.«

»Jemand. Richtig. Irgendwer.« Sein Zeigefinger fuhr über die Karte. Wald. Höhenlinien. »Und dort …«

Der Kopf. Dort lag ihr Kopf. Mia spürte Brechreiz. »Das sind 30, 40 Kilometer.«

Sie sahen einander an.

»Was meinst du, wie lange hat er da gelegen?«, fragte André. »Der Schädel, meine ich.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.« Tränen kullerten aus ihren Augen. Sie wischte sie weg.

»Hast du Hunger?«

»Nach dem Brandy …«

»Macht Appetit. Ich weiß.« Er ging zum Kühlschrank. »Croque Monsieur?«

»Hm.«

Er schaltete den kleinen Grill an und ging zum Kühlschrank. Verquirlte Ei. Tunkte die Brotscheiben hinein. Belegte sie mit Emmentaler und Kochschinken.

»Béchamel?«

»Bitte!«

Er nickte, als habe er Mia ganz richtig eingeschätzt, kleckste Béchamelsoße auf die Sandwiches, deckte sie mit einer weiteren Toastscheibe zu und packte sie in den Grill.

»Kaffee?«

»Schwarz.«

Er mahlte Bohnen. Goss Kaffee auf. Obwohl Mia ahnte, dass er sich allzu oft gehen ließ, achtete er auf hochwertige Zutaten und sorgfältige Zubereitung. Mit Essen hudeln, das hatte er nicht einmal damals getan. Als Monika verschwand. Mit ihrem Auto. Als man das Auto an dem besagten Wanderparkplatz fand. Und keine Spur von ihr. Seit elf Jahren. Als habe es sie nie gegeben.

Und jetzt ein Schädel. Ein Phantombild ohne Haare. Ein wenig zu füllig gezeichnet, Monika war zierlich gewesen.

Keine anderen menschlichen Überreste. Zumindest nicht an dieser Stelle im Wald. Aber irgendwo musste doch der Rest sein.

Der Kaffeeduft belebte Mias Sinne. André stellte ihr eine Tasse hin.

»Danke!« Sie sog tief das Aroma ein. »Deine üblichen Keniabohnen?«

Er nickte. »Also. Wieso ist da der Kopf? Und sonst nichts?«

Rasch trank Mia einen Schluck Kaffee und verbrühte sich die Lippen. »Vielleicht war ein durchgeknallter Schädelsammler am Werk?«

»Wenn einer sammelt, ist der Schädel ja nicht im Wald, sondern bei dem Typen zu Hause.«

Sie drehten sich schon jetzt im Kreis. Monika war weggefahren, am Nachmittag des 11. April 2008, um welche Uhrzeit genau, hatte man nicht feststellen können, und genauso wenig, was ihr Ziel gewesen war. Fest stand nur, dass sie sich zuvor im Büro freigenommen hatte. Nur für diesen einen Nachmittag.

»Sie hatte was vor. Aber was? Keine ihrer Freundinnen hatte die leiseste Ahnung, und den Arbeitskollegen hat sie auch nichts gesagt.«

Sie hatten fantasiert. Mia und André. Vielleicht ein Arzttermin mit einer ungünstigen Diagnose, die sie erschüttert hatte? Doch bei keinem ihrer Ärzte hatte Monika für jenen Nachmittag einen Termin gehabt. Auch keiner der vielen anderen Erklärungsversuche – eine Affäre, eine neue Freundschaft – brachte irgendetwas über Monikas Verbleib ans Licht.

»Ich will den Schädel sehen«, sagte André.

»Mach das nicht.«

»Wieso denn nicht? Sie war meine Frau. Und jetzt kann ich sie endlich für tot erklären lassen. Damit sie ihren Frieden hat.«

Er nahm die Toasts aus dem Grill und servierte sie. Mit einer gelben Papierserviette.

»Stilvoll geht die Welt zugrunde«, murmelte er.

Zugrunde gegangen ist sie schon, dachte Mia. Hat sich aufgelöst in diffuse Schatten, zusammen mit Monika.

3.

Es regnete leicht, als Mia sich aufs Rad schwang und Richtung Berggebiet fuhr. Sie trat kräftig in die Pedale.

Ihre Eltern würden in einer guten halben Stunde zur Praxis aufbrechen, da blieb noch Zeit für ein kurzes Gespräch. Keinesfalls wollte sie ihnen die Neuigkeit am Telefon zumuten. Und vielleicht, hoffte sie irgendwo tief drin, hatten sie und André sich getäuscht. Womöglich war es nicht Monika. Sondern eine Frau, die ihr ähnlich sah. So etwas gab es.

Ihr Handy klingelte, als sie einem Taxi auswich, das knapp vor ihr nach rechts in die Lange Straße einbog. Sie geriet ins Schlingern.

»Idiot!«

Eine Frau, die Monika dermaßen ähnlich sah und genauso wie sie verschwunden war? Wer sollte das sein?

Das Klingeln brach ab, um gleich darauf wieder loszulegen. Mia rollte mit dem Verkehr mit. Er schwoll jeden Tag zwischen 7.30 und 8 Uhr an, lärmte, beschwor Abgaswolken hervor, verquirlte sie mit Hektik und Stress und löste sich dann in nichts auf. Zwar begannen heute die Osterferien, dennoch herrschte das übliche Chaos. Endlich verstummte der Klingelton.

Sie strampelte den Kaulberg hoch. Der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. In der Morgenkälte fühlten sich ihre Hände ganz taub an.

Ich hätte Handschuhe mitnehmen sollen.

Als sie das Rad vor dem Gartentor ihrer Eltern an den Zaun lehnte, klingelte das Handy erneut.

Sie kramte es aus der Tasche. »Hallo?«

»Morgen, mein Name ist Lars. Sie hatten sich für den Schrank interessiert?«

Die Kleinanzeige im Internet! Die hatte sie völlig vergessen.

»Ja, das stimmt.«

»Könnten Sie die Tage vorbeikommen? Es haben sich noch andere gemeldet.«

Alter Trick. Hochdruckverkauf. Aber sie brauchte endlich einen Schrank.

»Wann hätten Sie Zeit?«

»Heute muss ich um halb neun bei einer Haushaltsauflösung sein. Wird länger dauern. Geht es morgen? Am Nachmittag? Ich wohne in der Pödeldorfer Straße.«

»Okay.«

Mia legte auf.

Wie kommt es, dass ich mich um einen Schrank kümmere, wenn ich zugleich …

Sie klingelte. Das angelaufene Messingschild hing hier seit Jahr und Tag. »Wagner«. Schlicht und einfach. Keine Vornamen. Kein »Familie«. Nur »Wagner«. Rasch warf Mia einen Blick auf das Nachbargrundstück. Hier hatten Monika und André gewohnt. Ein Jahr lang. Bis Monika mit dem Auto fortfuhr und nicht wiederkam. Danach hatte André es in dieser Wohnidylle nicht mehr ausgehalten.

Der Türöffner summte. Mia drückte das Tor auf und spazierte zum Haus hoch. Ihre Mutter lehnte in der Tür.

»Hi, Mama.«

»So früh schon unterwegs?«

Klar, ich bin schlaflos. Ich gehöre zu denen, die noch früher auf sein könnten. Wie früh, das kannst du dir gar nicht vorstellen.

»Sieht so aus.«

»Wir frühstücken gerade. Magst du einen Kaffee?« Simone Wagner ging auf die 60 zu, und man sah es ihr an. Das Make-up verbarg kaum die vielen Fältchen rund um die schmalen Lippen. Sie wirkte immer ein wenig gehetzt, als könne sie einfach nicht Schritt halten mit ihrem Leben. Ihr gertenschlanker Körper steckte in einem dunkelblauen Hosenanzug.

»Gern.«

Mia kickte die Boots von den Füßen und folgte ihrer Mutter in die offene Küche.

»Hallo, Papa!«

»Sei mir gegrüßt, Sonnenschein. Was macht die Kunst?«

Mia ersparte sich eine Antwort und setzte sich.

»Hast du auf deine Bewerbungen hin was gehört?«, fragte Simone Wagner.

»Nein, leider nicht.«

Danke, dass du mich mal wieder verunsicherst.

 

»Habt ihr heute schon ins Internet geguckt?«

»So früh am Morgen?« Carsten Wagner stand auf und küsste seine Tochter auf die Wange. Obwohl ein Jahr älter als seine Frau, wirkte er jugendlicher. Einer, der gern mal ein Glas Wein trank und ein großes Schnitzel vertilgte. Der oft wandern ging und mit ein paar Freunden regelmäßig Volleyball spielte.

Mia zog ihr Handy hervor. »Hier.« Sie klickte im Browser auf »Synchronisieren«. Wenige Sekunden später baute sich das haarlose Gesicht auf.

Carsten Wagner nahm Mia das Telefon ab, fischte seine Lesebrille aus der Hemdtasche. »Ach du lieber Himmel. Kann das wahr sein?«

Mia zuckte die Achseln.

»Simone? Schau dir das mal an!«

Simone Wagner trug gerade eine Kanne Kaffee und eine Tasse für Mia herein. »Bediene dich, Mia. Was ist?«

Beim Blick auf ihren fassungslosen Ehemann nahm sie alarmiert das Handy.

»Sie ist es, oder?«, fragte Carsten Wagner.

»Was soll das bedeuten? Was heißt das? Mia?« Simone ließ das Handy sinken.

»Jemand hat im Wald bei Tiefenellern einen skelettierten menschlichen Schädel gefunden, daraufhin hat die Polizei mit Hilfe einer Weichteilrekonstruktion diese Zeichnung generiert.«

Simone und Carsten sahen einander an.

»Monika«, seufzte Carsten schließlich. »Mein Gott!«

Er goss sich Kaffee ein. »Mia, du auch?«

»Ich war eben bei André.« Mia schob ihm ihre Tasse hin.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Nur ein Schädel? Und was hat Monika dort im Wald gemacht? Ich dachte, das Auto war irgendwo im Aufseßtal.«

»Entscheidend ist im Moment nur, dass es Monika ist.«

Mia trank ihren Kaffee.

»Entschuldigt. Ich … das muss ich erst mal verdauen.« Simone hastete aus dem Zimmer.

Ich habe mich nicht getäuscht. Es ist Monika.

Monika und André Böhme, langjährige Freunde der Wagners und dann sogar deren Nachbarn. Für ein Jahr, ehe alles zerbrach. Ein Jahr, in dem Mia und Monika zusammenfanden. Monika, die mütterliche Freundin und Ratgeberin. Mia, die Tochter, die Monika sich wünschte. Monika war 16 Jahre älter als Mia, aber in vielerlei Hinsicht tickten sie ähnlich. Sie teilten Interessen, verstanden einander ohne viele Worte.

Mia stand auf, ging zum Fenster. Blickte auf das Nachbarhaus. Auf die Pergola, die mittlerweile komplett umwachsen war. Die Kletterpflanzen hatte André gesetzt.

Ein Jahr nach Monikas Verschwinden war er ausgezogen. Nachdem er seinen Job aufgegeben hatte, war ihm das Haus zu teuer gewesen. Und es erinnerte ihn zu sehr an die gemeinsamen Träume. Die er nie mehr verwirklichen würde.

Im selben Jahr war Mia zum Studium weggezogen.

»Wer wohnt jetzt eigentlich dort?«

»Das Haus hat eine Hallstadter Firma gekauft und stellt es ausländischen Mitarbeitern zur Verfügung«, sagte Carsten. »Bis Neujahr wohnte ein Paar mit zwei kleinen Jungs dort. Die sind inzwischen wieder in Alabama.«

»Es steht leer?«

»Im Moment schon.« Er trat neben seine Tochter.

Sie roch sein Aftershave. Der Zahnarzt. Der sich makellos gekleidet und gepflegt über seine Patienten beugte. Der Mann, der immer einen Weg wusste. Halb erwartete sie, dass er sie auf ihre berufliche Planlosigkeit hinweisen würde. Stattdessen sagte er: »Und jetzt?«

»André wird zur Polizei gehen.«

Ihr Vater drückte sie kurz an sich. Mia schloss die Augen.

Sag mir, dass das alles nicht wahr ist. Oder bring mich weg von hier.

»Wir müssen in die Praxis. Wenn du willst, trink in Ruhe aus. Um 9 Uhr kommt Frau Röder zum Aufräumen.«

»Geht klar.«

»Bis die Tage.«