Wo der Wind weht

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The Pizen Sarpint

Am 7. August 1761 starb Timothy Nyrick aus Springfield, Massachusetts an den Folgen des Bisses einer Klapperschlange. Ein örtlicher Dichter verfasste über dieses Ereignis eine ernstgemeinte elegische Ballade, aber die Leute fanden die Reime des Textes mehr zum Lachen als zum Weinen. Das Lied wurde später in abgeänderter Form häufig in der Music-Hall gesungen und beklatscht.


In Springfield mountain there did I dee-i-ell

A lovely youthz I knew full we-iell

Chorus: Riturinu, ritudinay, riturinu, ritudiday

One day this youth did chance to go-i-o,

Down in the meadow for to mow-i-o.

He skeerst had mowed half round the fie-i-ield,

When a pizen sarpint tuck him by the he-i-eel.

He laid right down upon the grou-ow-ound,

Shut both his eyes and looked all ar-ow-ow-ound.

»O pappy da-wa-wad, go tell my ga-wa-wal,

That I'm goin' fer to die, I know I sha-wa-wal.«

»O John, O John, why did you go-wo-wo

Out in the meadow for to mo-wo-wow?«

»O Sal, O Sal, why don't you kno-wo-wow

When the grass gits ripe, it must be mo-wo-wowed?«

Sal tuck his heel all in her mou-ow-wouth,

And tried to suck the pizen ou-ow-wout.

But Sal she had a rotten too-oo-ooth,

And so the pizen kilt them bo-o-oth.

Come all young girls and shed one tear-weer-weer,

For these young folks who died right here-weer-weer.

Come all young men and warnin' ta-wa-wake,

Don't never get bit by a rattle-sna-wa-wake.

Im Springfield-Gebirge, wo ich wohnte,

kannte ich einen netten Jungen.

Eines Tages lief er durch eine Wiese.

Er wollte Gras mähen gehen.

Kaum war er über das halbe Feld hin gelaufen,

als ihn eine Schlange in die Ferse biss.

Er legte sich auf den Boden und verdrehte die Augen.

»Ach, mein lieber Vater, sag doch bitte meinem Mädchen,

ich werde gewiss sterben müssen.«#

,,O John, warum bist du nur in diese

Wiese gelaufen, um zu mähen?«

»Ach Sally, weißt du denn das nicht: Wenn das

Gras gewachsen ist, muss es gemäht werden!

Sally nahm seine Ferse in den Mund

und versuchte das Schlangengift auszusaugen.

Sally hatte einen verfaulten Zahn.

Beide mussten von dem Schlangengift sterben.

Ihr jungen Leute, vergießt eine Träne: so jung

waren sie, und mussten doch schon sterben.

Deswegen, junge Männer, seht euch vor.

Passt auf, dass euch keine Schlange beißt.

(Die deutsche Übersetzung ist – wie bei den anderen Liedern dieses Buches auch – lediglich als Verständnishilfe gedacht. Ich gehe davon aus, dass die Lieder in englischer Sprache gesungen werden.)

Über den Hexenglauben in Neu-England

Der Glaube, dass der Teufel in einen Menschen fahren könne und sich diesen mit Gold und Versprechungen untertan mache, ihn dann aber um seine Seele bringe, war unter den Puritanern Neu-Englands besonders ausgeprägt. Cotton Mather, einer der Chronisten der Kolonie, fürchtete allen Ernstes, dass Anhänger des Satans ganz öffentlich in Neu-England die Macht übernehmen würden. Als Gegenmaßnahme empfahl er drakonische Strenge und äußerste Wachsamkeit. Es kam zu einer ganzen Kette von Hexenprozessen, wobei vor allem die Geständnisse hysterischer Frauen, die man folterte, immer neue Verdächtigungen, Verhöre und Todesurteile auslösten. Auch in der Folklore hat der Satans- und Hexenglaube tiefe Spuren hinterlassen, und es gibt im Osten Amerikas eine Fülle von Teufelsmärchen und Hexensagen. Über die tieferen Ursachen des Hexenglaubens ist seither viel geschrieben worden. Das Problem bedarf einer weit ausholenden und genauen Auseinandersetzung, auf die wir uns hier nicht einlassen können. Recht pauschal ließe sich sagen, dass sich in den Hexenjagden unterdrückte Schuldgefühle, verdrängte Sexualität und Neid entluden. Auf welch geringfügige und noch dazu phantastische Behauptungen hin Menschen der Hexerei angeklagt (und schließlich auch hingerichtet) wurden, geht aus dem folgenden Gerichtsprotokoll aus Little Harbor in New Hampshire hervor:

Am Tag des Herrn, dem 30. März, ist die Zeugin (Susanna Trimmings) mit der Frau Bartons abends heimgegangen. Sie trennten sich an einem Bach nahe ihrem Haus. Als die Zeugin dann umkehrte, hörte sie zwischen Herrn Evens und Robert Davids Haus im Wald ein Rascheln, von dem sie zunächst meinte, es müsse wohl von einem Schwein herrühren. Unmittelbar darauf aber sah sie sich einer alten Frau gegenüber, die sie als Frau Walford erkannte.

»Sie fragte mich, ob noch jemand bei mir sei. Ich verneinte. Darauf sagte sie: ›Die bei dir war, ist jetzt daheim. Leih mir ein Pfund Baumwolle.‹ Ich sagte ihr, ich hätte noch zwei Pfund daheim, aber selbst für meine Mutter hätte ich keines übrig. Sie erwiderte, ich würde besser daran tun, es ihr doch zu geben, denn seien meine Sorgen jetzt schon groß, so würden sie sonst noch größer werden. Ich würde auf eine lange Reise gehen, aber niemals am Ziel ankommen. Sie ging dann fort, und mir war es, als träfe mich ein Blitzschlag auf den Rücken. Sie verschwand gegen den Bach hin, nach meiner Vorstellung in Gestalt einer Katze. Sie trug auf dem Kopf eine weiße Leinenhaube, die unter dem Kinn zusammengebunden war, ihr Rock und ihr Unterrock waren rot, und darüber trug sie eine alte grüne Schürze, und über der Leinenhaube hatte sie einen schwarzen Hut auf.«

Zu Protokoll genommen und beschworen am 18. April 1665 vor Bryan Pendleton, Henry Sherburne und Renald Fernald.

Aussage des Ehemanns Oliver:

»Sie kam heim und war ganz elend. Sie ging an mir vorbei mit dem Kind auf dem Arm und legte das Kind ins Bett, setzte sich auf eine Kiste und stützte den Kopf auf die Hände. Dreimal fragte ich sie, was denn sei. Sie konnte nicht sprechen. Ich nahm sie in die Arme, tröstete sie und wiederholte die Frage. Sie rang nach Atem. Es war, als würge sie etwas im Hals. Ich schnürte ihr das Kleid auf, da redete sie und sagte: ›Der Herr sei mir gnädig, dieses böse Weib wird mich noch töten.‹ Ich fragte sie, was für ein Weib. Da sagte sie: ›Frau Walford!‹ Ich versuchte, sie davon zu überzeugen, dass sie sich das in ihrer Schwäche nur einbilde. Sie antwortete: ›Nein‹, und erzählte, auf ihrem Rücken sei eine Feuerflamme eingeschlagen und der Unterleib sei ihr ganz gefühllos gewesen. Ich kniff sie und sie spürte nichts. Die Nacht über, den anderen Tag und die nächste Nacht war sie krank. Es war ihr übel, und sie war so schwach, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Und sie ist immer noch schlecht auf den Beinen.«


Der Teufel ist tot

Anno 1668. In Neu-England traf ein Einwohner von Boston, ein gewisser J. Bradbent, seines Zeichens Steuereinnehmer und dazu ein Bursche, der gern in Saus und Braus lebt, auf der Straße ein ehrliches einfältiges Bäuerchen und sprach zu ihm:

»Na, was gibt es Neues, guter Mann?«

»Ich weiß keine Neuigkeit«, antwortet der Bauer.

»Aber ich«, spricht der andere, »soll ich sie dir sagen?«

»Und was wäre das?«

»Der Teufel ist tot.«

»Wie?« sagt der Bauer, »das kann ich nicht glauben.«

»Ja doch, er ist tot … ganz gewiss.«

»Nun«, erwidert der Bauer, »gestorben mag er wohl sein, aber zurückgelassen hat er zu Boston viele vaterlose Kinder!«


Blow ye winds in the morning

Das nördliche Neu-England war bis ins 20. Jahrhundert das Zentrum der Walfängerei in der Neuen Welt. Eine Anzeige aus einer Zeitung des 19. Jahrhunderts, mit der Walfänger angeworben wurden, hatte folgenden Wortlaut:

Hilfskräfte gesucht! Für die Walfangexpeditionen, die wöchentlich Boston, New Bedford und andere Häfen verlassen, werden 500 Seeleute gesucht. Erfahrungen wünschenswert, jedoch nicht Bedingung. Wir bitten in Brigg's Counting House, North-Spruce-Street, Boston, Massachusetts vorzusprechen.

Matrosen- und Seefahrerlieder gibt es viele. Die meisten davon wurden jedoch wohl von Leuten verfasst, die vom warmen Ofen her durchs Fenster auf die stürmische See hinausschauten.

Die echten Seemannslieder entstanden und wurden gesungen auf dem Vorschiff bei sehr harter Arbeit.

 


Tis advertised in Boston,

New York and Buffalo,

Five hundred brave Americans,

A-whaling for to go.

Chorus: Singing

Blow ye winds in the morning,

And blow ye winds, high-o!

Clear away your run-rung gear,

And blow ye winds, high-o!

They send you to New Bedford,

That famous whaling port,

And give you to some land-sharks

To board and fit you out. (Chorus)

They send you to a boarding-house,

There for a time to dwell;

The thieves there they are thicker

Than the other side of hell!

They tell you of the clipper-ships,

A-going in and out,

And say you'll take five hundred sperm,

Before you're six months out.

It's now we're out to sea my boys,

The wind begins to blow,

One half of the watch is sick on deck

And the other half below.

The skipper's on the quarter-deck

A-squinting at the sails,

When up aloft the look-out

Sights a school of whales.

Now clear away the boats, my boys,

And after him we'll travel,

But if you get too near his fluke,

He'll kick you to the devil!

Now we've got him turned up,

We tow him alongside,

We over with our blubber hooks

And rob him of his hide.

Next comes the stowing down, my boys,

T'will take both night and day,

And you'll all have fifty cents apiece

on the 190th lay.

Now we are bound into Tuckoona,

Full more in their power,

Where the skippers can buy the Consul up

For half a barrel of flour.

When we get home, our ship made fast,

And we get through our sailing,

A winding glass around we'll pass

And damn this blubber-whaling.

Man liest in Boston, New York

und Buffalo Anzeigen, dass fünfhundert

tapfere amerikanische Seeleute

für den Walfang gesucht werden.

Blast ihr Winde am Morgen, macht die Segel klar,

dann mag der Wind blasen und auf!

Sie schicken dich nach New Bedford,

dem berühmten Walfanghafen.

Dort gehst du zu Landhaien, die besorgen dir

ein Zimmer und verschaffen dir die Ausrüstung.

Sie schicken dich in ein Gasthaus

und lassen dich eine Zeitlang dort schmoren.

Diebe sind das -

dicker als die andere Seite der Hölle!

Sie lassen dich an Bord

der Klipperschiffe gehen und sagen,

wir haben 500 Pottwale,

ehe noch sechs Monate vergangen sind.

Und jetzt sind wir auf See, Jungens.

Der Wind fängt an zu wehen.

Die Hälfte der Wache liegt krank auf Deck

und die andere Hälfte unten.

Der Schiffer steht auf dem Quarterdeck

und blinzelt hinauf in die Masten,

bis aus dem Krähennest

ein Schwarm Wale gemeldet wird.

Nun die Boote klar, Jungens, und auf geht's.

Aber passt auf,

dass ihr dem Burschen nicht zu nahe kommt.

Er schlägt um sich wie der Teufel.

Und jetzt haben wir ihn gewendet

und ihn zum Schiff bugsiert.

Wir machen uns über ihn her

nd schlagen ihn aus seiner Haut.

Als nächstes kommt das Verstauen.

Da schafft man Tag und Nacht,

und für jede der 190 Lagen

kriegt ihr fünfzig Cent.

Jetzt sind wir unterwegs nach Tuckoona.

Dort kann der Schiffer

den Konsul bestechen,

mit nicht mehr als einem halben Sack Mehl.

Wenn wir heimkommen, wenn das Schiff festgemacht hat

und wir nicht mehr rauf auf die Rahen müssen,

dann stoßen wir alle an,

und verfluchen den blasenden Wal!

Die Hexe von Wellfleet

Der Hexenglaube in Neu-England steigerte sich im 17. Jahrhundert in Salem zu einer Massenhysterie. Aber auch andere Teile der Kolonie glaubten an Hexen und verfolgten Hexen. Die Leute von Kap Code, von denen viele zur See fuhren, machten sich eine Seehexe zurecht und verlegten deren Aufenthaltsort in die düsteren winddurchheulten Dünen weit draußen am Kap. Ein ganzer Kranz von Geschichten rankt sich um diese Hexe von Wellfleet.

Für mehr als hundert Jahre, von den Tagen der Gründung der Kolonien bis ins Jahr 1802, spielte die Hexe von Wellfleet dem seefahrenden Volk von Kap Code ihre Streiche.

In dieser Zeitspanne änderte sie ihren Namen und selbst ihre Hautfarbe, aber man konnte sie dennoch immer an den scharlachroten Schuhen mit hohen roten Absätzen erkennen, die sie trug, und an ihren zwei immertreuen Gefährten, einer schwarzen Katze und einer grauen Ziege mit einem Glasauge.

Mit bürgerlichem Namen hieß die Hexe Goody Hallett. Goody war ein hübsches Mädchen von fünfzehn Jahren aus Eastham und wurde von dem Piraten Samuel »Black« Bellamy verführt. Man fand sie in einer Scheune, mit ihrem toten Baby in den Armen. Sie wurde zum Schandpfahl geführt, dort festgebunden, ausgepeitscht und dann ins Gefängnis geworfen.

Während sie auf ihr Gerichtsverfahren wartete, spazierte angeblich Luzifer als vornehmer Fremder mit einem goldverzierten Spazierstock und angetan mit Kleidern aus bester französischer Seide unter ihrem Zellenfenster vorbei und begann mit ihr eine Unterhaltung. Sie benutzte den Knauf seines Spazierstockes, um ihr X unter das Dokument zu setzen, das er ihr vorlegte, nachdem er die Gitter fortgezaubert und sie aus dem Gefängnis befreit hatte.

Als sie im Abendlicht nach Eastham zurückkehrte, wurde sie erkannt. Die Leute warfen ihr Steine nach und vertrieben sie aus dem Ort.

Goody ließ sich in einer Hütte im Dünenland am Kap nieder. Die Gegend bekam bald den Namen Goody Halletts Wiese und jeder, der dort draußen entlangging und nicht dabei ein Gebet murmelte, hatte angeblich Unglück.

Als Bedingung des Vertrages, mit dem sie ihre Seele dem Teufel verkaufte, hatte Luzifer ihr versprochen, der Schwarze Bellamy werde vor ihrer Hütte ertrinken. Und dahin kam es dann auch. Das Schiff Whiddah, das der Pirat befehligte, ging vor Kap Code in einem Wirbelsturm unter. Bellamy wurde auf Goodys Wiese begraben.

Aber das war der Rache nicht genug. Goody hatte es immer besonders auf Männer abgesehen, die zur See fuhren, und bei Hurricans und Stürmen versuchte sie, deren Seelen an sich zu bringen.

Wenn man an der Küste einen Schrei im Heulen des Windes hörte, rückte man näher ans Feuer, schlug ein Kreuz und sagte: »Das ist die arme Goody, die mit den verlorenen Seelen tanzt.«


Einer ihrer beliebtesten Tricks war es, sich in einem Wal zu verstecken und dem Tier eine Schiffslaterne an den Schwanz zu binden. Das Licht verlockte die arglosen Kapitäne dazu, dem Wal zu folgen, bis sie mit ihren Booten an gefährlichen Riffen scheiterten oder auf Sandbänke aufliefen.

Goody und ihr Wal rammten auch Schiffe. Und in bitterkalten Nächten, wenn sich auf dem Deck der Schiffe Eis bildete, saßen Goody und der Teufel im vorderen Salon im Bauch des Hais im Warmen und würfelten um die Seelen der Matrosen.

Ihre Gefährten, die schwarze Katze und die Ziege mit dem Glasauge, ritten auf Tümmlern. Und wenn sie sich in der Nähe eines Schiffes zeigten, dann war es bald um das Fahrzeug und seine Besatzung geschehen. Die Fischer wussten, wenn sie die zwei grünen Augen der Katze aus dem Schaum aufblitzen sahen, dass Goody nur darauf wartete, ihre Seelen zu fangen. Dann trimmten sie sofort die Segel. Einen Augenblick später zeigte sich dann meist eine kleine schwarze Wolke am Himmel.

Goody suchte die Seeleute auch im Hafen heim und hinderte sie daran auszulaufen, indem sie eine Windstille herbeihexte.

Ab und zu pflegte Goody auch den einen oder anderen der Kapitäne vom Deck seines Schiffes weg zu entführen. Sie zäumte ihn dann auf, wie man ein Pferd aufzäumt, und ritt mit ihm hinaus nach Kap Code. Dann trieb sie die ganze Nacht hindurch die wildesten Streiche, bis sie den erschöpften Mann vor Morgengrauen wieder auf sein Schiff zurückbrachte.

Wenn sie an Land war, tanzte sie die Nacht hindurch in einer Senke nahe dem Friedhof von Eastham und nicht weit von einem Wirtshaus.

Die Landratten fürchteten sie ebenso wie die Seeleute, und man sagte, selbst die Pferde würden die Gefahr wittern.

Wenn jemand draußen in den Dünen durch die Senke ritt, ging sein Pferd immer schneller, bis die Lichter des Wirtshauses in Sicht kamen.

Die Matrosen sagten, Goody habe den Teufel schließlich beim Würfelspiel besiegt. Er sei darüber so wütend geworden, dass er sie erdrosselte.

Ein paar.Jahre später wurde auch ein Wal erlegt, und als man ihn aufbrach, fand man in.seinem Leib ein Paar rote Lackschuhe.

Mud Sam und der verschwundene Schatz

Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts arbeitete ein Schwarzer, der Mud Sam gerufen wurde, auf der Farm von Killian Sydam am Westende von Long Island und fischte oft in den Gewässern zwischen diesem Landstrich und der Insel Manhattan.

Eines Abends, das Tagwerk war getan, wagte Sam sich in die gefährlichen Gewässer von Hellgate. Er verlor sich so in die Beschäftigung des Fischens, dass er nicht bemerkte, wie die Gezeiten umschugen, bis dann Strudel und Wirbel sein kleines Boot durchschüttelten. Gleichzeitig kam ein Sturm auf.

Nur unter Schwierigkeiten erreichte er die Landspitze von Blackwells Island, wo er Anker warf, um zu warten, bis die Gezeiten abermals wechselten.

Aber nun wurde es Nacht, der Wind wehte heftig, und so entschloss sich Sam, über den Wasserarm zu rudern und auf der Leeseite von Manhattan Island Zuflucht zu suchen. Er fand eine Stelle unter den hohen überhängenden Felsen, die zudem noch durch herabhängende Äste von Bäumen geschützt war. Hier gedachte er abzuwarten, bis der Sturm sich etwas gelegt hatte. Er schlief fest ein.

Als er aufwachte, war der Sturm vorbei und am Wasserstand ließ sich ablesen, dass es gegen Mitternacht gehen musste. Er wollte gerade wieder ablegen, als er ein Licht sah, das vom Wasser aufblitzte. Das Licht rührte von einem Boot her, das sich mit beträchtlicher Schnelligkeit näherte. Während er es weiter beobachtete, fuhr das Boot in eine kleine Höhle ein. Sam sah, wie ein Mann an Land sprang, und hörte, wie dieser einem anderen, der im Boot saß, zurief: »Das ist die Stelle. Hier ist der Eisenring.« Die Männer trugen dann gemeinsam etwas Schweres an Land. Mud Sam sah, dass es ihrer fünf waren, alle groß, verwegen aussehend, mit roten Wollmützen auf dem Kopf, bis auf den Anführer, der dadurch zu erkennen war, dass er einen Dreispitz trug. Einige waren mit langen Messern bewaffnet, andere hatten Pistolen bei sich, und trotz der späten Stunde und dem abgelegenen Ort sprachen sie immer nur flüsternd.

 

Sie kletterten mit ihrer Last die Uferböschung hinauf. Sam verließ sein Boot und folgte ihnen in einigem Abstand. Er hörte, wie jemand fragte: »Hast du den Spaten?« Und ein anderer antwortete: »Ja, hier, aber wir müssen tief graben. Man darf es auf keinen Fall entdecken.«

Angst überkam Sam. Er hielt die Männer für Mörder, die dabei waren, ihr Opfer zu verscharren. Ergriff nach einem Ast vor sich und hielt sich daran fest. Dabei raschelten die Blätter.

»Was ist das denn?« fragte einer der Männer.

Er leuchtete mit der Laterne in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und Sam hörte, wie eine Pistole entsichert wurde.

Vielleicht war es das Blattwerk, das ihn verdeckte, vielleicht seine dunkle Hautfarbe, jedenfalls schienen die Männer ihn nicht entdeckt zu haben, denn der eine sagte gleich darauf:

»Ach was, da ist nichts. Feuere nur nicht etwa deine Pistole ab. Du würdest damit die ganze Gegend aufwecken!«

Dann gingen sie weiter.

Sam wusste, dass er jetzt ohne Gefahr zu seinem Boot hätte zurücklaufen können, aber er blieb, und bald hörte er das Geräusch der Spaten. Die Männer fingen an, ein Loch auszuschachten.

»Ein Grab!« dachte Sam voller Schrecken. Er war hin und her gerissen zwischen Furcht und Neugier. Die Neugier siegte. Er blieb, ja er wagte sich sogar noch weiter vor. Endlich kam er an einen steilen Felsen, den er lautlos erklomm und von dem aus er den Männern bei ihrer Arbeit zuschauen konnte. Was immer sie da verscharrt haben mochten, es war schon unter der Erde. Nun waren sie dabei, die Grube wieder aufzufüllen. Als sie auch damit fertig waren, streuten sie noch Blätter über die Stelle.

Einer von ihnen sagte leise:

»Das würde selbst der Teufel nicht herausfinden.«

Sam sah sich in seinem Verdacht bestärkt.

»Mörder!« rief er laut, voller Empörung.

Die Männer fuhren herum. Sie sahen das Weiße in Sams Augen.

»Entdeckt!« rief einer von ihnen und Sam hörte, wie er seine Pistole spannte. Fort, nur fort, dachte er. Er ließ sich den Abhang hinunterrollen. Er brach durch das Unterholz. Zweige peitschten in sein Gesicht. Steine prasselten auf ihn nieder, und bei all dem hörte er die Geräusche der Männer, die hinter ihm her waren.

Endlich versperrte ein großer Felsklotz ihm den Weg. Sam sah eine starke dicke Wurzel, griff danach und schwang sich auf den Felsen.

Dort stand er nun einen Augenblick. Seine Gestalt zeichnete sich gegen den klaren Nachthimmel ab. Ein Schuss fiel. Sam hörte, wie die Kugel an seinem Kopf vorbeipfiff.

Er stieß einen Schrei aus, so als sei er getroffen, warf sich flach hin, nahm einen größeren Stein und ließ ihn in den Fluss fallen. Der Stein schlug unten im Wasser platschend auf.

»Der erzählt keine Geschichten mehr«, hörte er einen der Männer zu einem anderen sagen, »oder höchstens den Fischen.«

Sam wartete, dann ließ er sich von dem Felsen herabgleiten und schlich sich zu seinem Boot. Als er abgelegt hatte, ließ er sich, ohne zu rudern, so lange treiben, bis er sicher war, dass ihn niemand verfolgte. Er fuhr nun, ohne sich lange aufzuhalten, auf dem kürzesten Weg heim.

Über viele Jahre hin kehrte er nie wieder zu dieser Stelle zurück. Er hatte Furcht. Einmal war er sich gar nicht mehr sicher, wo das gewesen war. Zum anderen, was für einen Sinn hätte es gehabt, das Opfer einer unbekannten Mordtat auszugraben?

Aber er erzählte die Geschichte hin und wieder, wenn er etwas getrunken hatte und ins Reden kam. Und es hörte sie einer, der hieß Wolfert Webber. Der fragte sich: »Woher wusste Sam eigentlich, dass es eine Leiche war, die dort verscharrt wurde?«

Sams Haar war weiß geworden, ehe Wolfert Webber sich entschloss, der Sache noch einmal nachzugehen.

Er ging sehr vorsichtig zu Werke, fragte den alten Schwarzen, ob er ihn an die Stelle führen wolle, wo sich ja vielleicht auch noch etwas anderes finden mochte als nur ein Grab ohne Grabstein.

Sam war einverstanden. Mit den Jahren dachte er nicht mehr daran, welche Ängste er in jener Nacht ausgestanden hatte, und Wolfert hatte ihm zudem eine Belohnung versprochen.

Während sie an der Küste von Manhattan entlanggingen, mussten sie sich mühsam den Weg durch ein Gewirr von Ranken und Luftwurzeln bahnen. Brombeerbüsche und Heckenrosen rissen an ihren Kleidern, eine Strumpfbandnatter ringelte sich über ihren Weg. Die gefleckte Kröte sprang aus ihrer Mulde hervor. Die ewig unruhigen Spottdrosseln schilpten in den Dickichten. Hätte Wolfert Webber alte Märchen gelesen, so hätte er sich wohl vorgestellt, dass er hier verzaubertes Gelände betrat oder dass dies die Wächter eines verborgenen Schatzes seien.


Nach einer Weile kamen sie zu einer kleinen Höhle, und der Alte sah sich eine Zeitlang um. Dann klatschte er in die Hände und deutete auf einen Eisenring, der in den Felsen eingelassen war. Ja, hier waren damals die Männer mit den roten Mützen gelandet. Dessen war er ganz sicher. Drei Kreuze waren in den Fels über dem Ring eingekratzt.

Langsam suchten sie sich ihren Weg, während die Schatten länger wurden und die Nacht kam, und als sie schließlich eine Lichtung erreichten, sagte Sam, dies könne die Stelle sein.

Wolfert untersuchte sorgfältig den Boden, und plötzlich schlug sein Herz rascher. Er stand vor einem Felsen, in dessen Oberfläche ebenfalls drei Kreuze eingeritzt waren. Sie waren an der rechten Stelle. Nun hieß es nur noch herausfinden, wo damals die Grube ausgehoben worden war.

Aber der altgewordene Sam war unterdessen ganz verwirrt. War es vielleicht dort an dem weißen Stein? Nein. Eher dort an dem großen Maulbeerbaum. Oder? Vielleicht auf dem kleinen Hügel? Oder da drüben in der Mulde?

Es war schon dunkel und außerdem hatten sie keine Schaufeln bei sich. Sie prägten sich die Umgebung genau ein und machten sich dann auf den Heimweg. Schatten und das brechende Licht ließen Geister und Chimären erwachsen. Piratenleichen schienen von jedem Baum herabzuhängen und als sie den überwucherten Garten um die Ruine eines Hauses betraten, sahen sie jemand einen Pfad entlanggehen. Die Gestalt trug eine rote Wollmütze und drohte Wolfert mit der geballten Faust.

Er und Sam, dessen alte Ängste nun wieder wach wurden, begannen zu rennen. Sie rannten, bis sie die feste Straße erreicht hatten, die in die Stadt hineinführte. Am nächsten Tag und am Tag danach war Wolfert unruhig, nicht aus Furcht, sondern aus Neugier. In der Nacht träumte er von Geldsäcken.

Seine Frau und seine Tochter ließen Dr. Knipperhausen rufen, der, wie sich herausstellte, nicht nur in der Medizin erfahren war, sondern auch etwas von Magie verstand und schon seit Jahren sich als Schatzsucher betätigte.

Der Doktor kannte alle Geschichten um Schätze aus alter Zeit in dieser Gegend. Als er hörte, wie nahe Wolfert daran gewesen war, einen solchen Schatz zu heben, bot er seine Dienste als Partner und seinen Rat als Sachverständiger an. Solche Schätze dürfe man nur in der Nacht ausgraben, sagte er, und dann auch nur nach gewissen Zeremonien. Vor allem würden sie eine Wünschelrute brauchen.

Wolfert war glücklich, endlich jemand gefunden zu haben, der seinen Spleen ernst nahm. Seine Nervosität verlor sich.

Nach Tagen der Vorbereitung brachen der Doktor, Wolfert und Mud Sam auf. Auch diesmal fand Sam den Eisenring. Auch diesmal gelangten sie auf die Lichtung. Nun ging der Doktor mit einer Wünschelrute ans Werk, während ihm Wolfert mit der Laterne leuchtete. Endlich begann die Rute auszuschlagen.

»Hier ist es«, rief der Doktor.

Sie zogen einen Kreis um die Stelle, an der die Rute ausgeschlagen hatte, machten ein Feuer und begannen, übelriechendes Laub zu verbrennen. Wolfert musste husten. Dann las der Doktor etwas auf lateinisch und deutsch aus einem Buch vor. Schließlich befahl er Sam, mit dem Graben zu beginnen. Sam schaufelte, und dann stieß er mit dem Blatt des Spatens gegen etwas, das hohl klang.

»Da, … eine Kiste!« rief Sam.

»Voller Gold«, sagte Wolfert tonlos.

Dann aber blickte er auf. Das grimmige Gesicht eines Seeräubers starrte auf ihn vom Felsen herab. Er schrie auf vor Schreck und ließ die Laterne fallen, aber ehe sie verlöschte, hatten die anderen das Gesicht auch gesehen. Alle rannten in verschiedene Richtungen davon.

Als Wolfert durch das Gebüsch hastete, merkte er, dass ihn jemand verfolgte. Dieser Jemand fasste ihn am Mantel. Eine Pistole wurde nahe seinem Ohr abgefeuert, aber dann wurde sein Verfolger selbst angegriffen. Nach den Geräuschen und von den Ausrufen her begriff er, dass da zwei Piraten miteinander in der Dunkelheit kämpften.

Er strangulierte sich fast mit dem Gürtel des Mantels, als er versuchte, sich von der Klippe zur Wasseroberfläche hinunterzulassen. Er stürzte, taumelte von Fels zu Fels. Dann verlor er das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, sah er, dass er auf dem Boden eines Bootes lag, das sein Freund Dirk Waldron ruderte. Dirk war von Mrs. Webber gebeten worden, den Schatzsuchern zu folgen und aus einiger Entfernung über sie zu wachen.

An Land dann musste Wolfert auf einer Bahre heimgetragen werden.

Auch Sam und der Doktor kamen daheim zerschunden und erschöpft an.

Als es sich herumsprach, wonach Wolfert und seine Freunde gesucht hatten, und was ihnen angeblich widerfahren war, machten sich viele Leute aus der Nachbarschaft auf und liefen, so schnell sie konnten, zu dieser Stelle auf der Lichtung und begannen dort zu graben.

Niemand fand einen Schatz, aber einige behaupten unverdrossen, er liege wohl dort, bewacht von Gnomen und Geistern, unsichtbar und unauffindbar bis zu der Stunde, da einer komme und die rechte Beschwörungsformel wisse.