Das GEHEIMNIS der TRINAKRIA

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Das GEHEIMNIS der TRINAKRIA
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Freda Kurto

Das GEHEIMNIS der TRINAKRIA

Eine schicksalhafte Reise durch Sizilien

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Impressum neobooks

Prolog

Es ist schon erstaunlich, welche versteckten Schachzüge das Leben parat hält. Vermeintliche Launen des Schicksals, über deren tatsächliche Wurzeln man erst viel später stolpert. In meinem Fall handelte es sich um eine ausgesprochen profane Unlust. Genauer gesagt, um einen Anflug äußerst schlechter Laune. Herbeigeführt durch eine Vielzahl von Tiefschlägen jeglicher Art. Verstärkt durch die Novemberatmosphäre, die sich alljährlich über die Stadt legte. In diesem Jahr zu allem Überfluss schon Anfang Oktober. Blauer Himmel und Sonnenschein schienen den Vorboten des auslaufenden Jahres endgültig Platz gemacht zu haben: ungemütliche Temperaturen, gedeckte und gedämpfte Stimmung allerorts, die Natur grau in grau, der Blick von meiner kleinen Dachwohnung auf die Donau eingehüllt von undurchdringlichen und hartnäckigen Nebelschwaden. Kurzum, ein Klima, bestens geeignet für eine saftige Weltuntergangsstimmung.

Ich hatte schon seit Tagen keinen unnötigen Schritt vor die Tür gesetzt. Das Telefon war ausgestöpselt und sogar der Griff zum Fernseher zu anstrengend. So hegte und pflegte ich meine Depression. Kleinste Anzeichen der Besserung erstickte ich im Keim. Schließlich war meine Bereitschaft zu leiden längstens nicht ausgeschöpft. Im Gegenteil. Um mir den deprimierenden Kontrast zwischen meiner Wenigkeit und dem Rest der Menschheit vor Augen zu führen, bedurfte es keiner großen Anstrengung. Ich brauchte nur meiner Leseleidenschaft nachzugeben. Schließlich gab es keinen Schmöker, der mich nicht früher oder später mit der Erkenntnis konfrontierte, wie sehr sich das eigene Leben von dem anderer Genossen unterschied.

Was hatte mein monotones Dasein schon mit den so genannten Geschichten gemein, die das Leben schrieb? Nichts! Absolut nichts! Genauso gut hätte ich meine Existenz auch auf einem anderen Planeten fristen können. Unzählige Papierseiten lieferten mir den Beweis. Die anderen, ja, die sonnten sich auf der guten Seite des Lebens. Ein Erfolg jagte den anderen. Eine glückliche Beziehung ging nahtlos in die nächste über. Und zeichnete sich ausnahmsweise ein kleiner Misserfolg ab, so war er unter Garantie für etwas Überwältigendes gut.

Ja, andere standen morgens auf, ohne zu wissen, was der Tag für sie bereithielt. Ihr Alltag wurde von Abwechslung, Spannung, Abenteuer und Leidenschaft bestimmt. Sie wurden im positiven Sinne Opfer der unglaublichsten Zufälle. Der kleinste Schritt konnte sich als eine vom wohlwollenden Schicksal gesteuerte Bewegung in eine wundervolle und grenzenlose Zukunft offenbaren. Gefolgt von der wohligen Gewissheit, dass sich ihr Leben innerhalb weniger Stunden um 180 Grad gewandelt hatte. Natürlich zum Besten.

Ich hingegen? Was immer ich auch anpackte – es ging schief. Der fragwürdige Trost, dass auch meine Patzer irgendwann für etwas gut sein könnten, hielt sich in Grenzen. Denn selbst wenn, da war ich mir sicher, stand zu befürchten, dass mir der Genuss des schwer verdienten Glücks infolge frühzeitigen Ablebens verwehrt bleiben würde.

Auf was ich mich hingegen felsenfest verlassen konnte, war das morgendliche Wissen, wie mein Tag ablaufen würde. Und zwar nicht nur der aktuelle Tag, sondern jeder Tag, die nächsten Wochen, Monate, Jahre ... Da half es auch nichts, Umwege gedanklich oder tatsächlich zu gehen. Egal wie viele Schritte ich in die entgegengesetzte Richtung setzte, stets führte mich der Weg über die verschmähte Ziellinie. Daher beschäftigte ich mich vor dem Einschlafen meist mit der Frage, warum der Zufall, dem ich weiß Gott genug Chancen bot, so undankbar war, keine zu nutzen.

Eines Tages kam, was kommen musste: Eine ernsthafte Krise drohte auszubrechen. In meinen vier Wänden gab es keine einzige schriftliche Zeile mehr, die ich mir nicht zumindest einmal verinnerlicht hatte. Was nun? Etwa meinen Schutzwall verlassen, um für Nachschub zu sorgen? Ein Akt der Willensanstrengung, den ich mir in meiner momentanen Gemütsverfassung wahrlich nicht abverlangen konnte.

Rat- und rastlos tigerte ich durch meine Kemenate, als sich ein Krimi in mein Blickfeld schob, den ich vor geraumer Zeit nach wenigen Seiten in die hinterste Ecke des Bücherregals verbannt hatte. Angesichts der akuten Notlage schien es mir angebracht, meine Abneigung gegen Kriminalromane für die Dauer einer einmaligen Lektüre zu ignorieren.

Was ich in diesem Augenblick nicht ahnte: Es war der richtige Schritt zum richtigen Zeitpunkt in die richtige Richtung. Ein Schritt, der mich direkt und ohne Umwege zu dem bislang so schmerzlich vermissten Zufall führte. Zu einer Reihe von Ereignissen, nach deren Durchlaufen nichts mehr so sein würde, wie es einmal war. Ereignisse, die nicht nur meinen Moralischen beendeten, sondern den Schlüssel zu meiner Vergangenheit darstellten.

Kapitel 1

Schon nach wenigen Minuten nahm mich der einst verschmähte Krimi wider Erwarten gefangen. Nicht so sehr die Story an sich, vielmehr der Ort des Geschehens: SIZILIEN!

Im Mittelpunkt ein kleines Bergdorf namens Erice. Einsam in 900 Meter Höhe gelegen, bei schlechtem Wetter von der Umwelt abgeschnitten, teils bewohnt, teils verlassen. Dazu eine kleine versteckte Badebucht, die sich nach einem halbstündigen Fußmarsch durch die gleißende Sonne Siziliens dem überraschten Auge des Wanderers darbietet. Das Ganze gekrönt mit einer kürzlich entdeckten Höhle, die sagenhafte Abenteuer versprach.

Kurzum, dem Autor war es gelungen, mit vereinzelten Schilderungen der örtlichen Gegebenheiten und einheimischen Bevölkerung nachhaltige Eindrücke von der Insel zu wecken.

Obwohl ich zuvor niemals einen Gedanken an diesen Teil Italiens verschwendet hatte, überfiel mich während des Lesens eine seltsame Aufgeregtheit, die ich kaum nachvollziehen konnte. Zumal dieser Effekt kaum auf die sparsam eingesetzten Spannungsmomente des Krimis zurückzuführen waren. Wie auch immer, mit fortschreitender Seitenzahl wuchs auch mein Interesse an Sizilien.

Als ich das Buch zuklappte, hatte es zweierlei bewirkt. Was meinen Ausflug in diese Literatursparte betraf, stand für mich fest: einmal und nie wieder. Darüber hinaus setzte das Ende des Romans zugleich den Schlusspunkt unter meine freiwillige Isolationshaft. Ich konnte es nicht erklären, kam aber nicht umhin einzugestehen, dass die Lektüre eine Art unsichtbares Band gewebt hatte. Ein mit den Sinnen nicht wahrnehmbares Phänomen, das mich unwiderruflich mit dieser Insel verband und eine ungeheure Faszination auf mich ausübte.

Während der nächsten Tage wurden meine Gedanken nur von einem Thema beherrscht: Sizilien. Ich besorgte mir Unmengen Informationsmaterial. Je mehr ich über die Insel las, desto größer wurde mein Interesse. Mein Wissensdurst schien unstillbar. Außerdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass eine unbekannte Kraft am anderen Ende jenes unsichtbaren Bandes zog. Mir wurde schnell klar, dass es nur eine Lösung gab: Ich musste Sizilien in natura sehen. Und das so schnell wie möglich.

Urlaub auf Sizilien! Das hieß, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Erstens würde ich meinem Novemberfrust entkommen und die Kälte gegen annehmbare Temperaturen eintauschen können. Zweitens, so hoffte ich, bekäme ich Gelegenheit herauszubekommen, was es mit diesem geheimnisvollen „Band“ auf sich hatte.

 

Ohne es auch nur im Geringsten zu ahnen, hatte ich soeben den Grundstein für die heiß begehrte Rolle in „Geschichten, die das Leben schreibt“ gelegt. Noch weniger war ich mir bewusst, dass das Drehbuch für diese Geschichte schon vor sehr langer Zeit geschrieben worden war.

Dann ging alles Schlag auf Schlag. Mein Job als selbstständige Fotografin, für den ich nach einer so kurzen wie enttäuschenden Erfahrung als Angestellte ein kleines Zimmer in meiner Wohnung als Fotoatelier zweckentfremdete, brachte den Vorteil mit sich, mich bei Bedarf kurzfristig aus dem Alltag zu verabschieden. Da ich zurzeit ohnehin nicht gerade unter Überarbeitung litt, beschloss ich kurzerhand, für zehn Tage das Weite zu suchen. Dummerweise bin ich in jedoch in meinem Freundeskreis die einzige, die mit 19 den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hatte. Zu hoffen, derart überstürzt eine Reisebegleitung aufzutreiben, war utopisch. Folglich blieb die Qual der Wahl: entweder solo oder gar nicht. Die Entscheidung, mich alleine auf die Socken zu machen, zog zwar ein leicht mulmiges Gefühl nach sich. Wenn es um komplexere Aktivitäten geht, bin ich nämlich dank meines mitunter recht unbeholfenen Wesens äußerst ungern auf mich gestellt. Doch in diesem Fall erstickte ich sämtliche Befürchtungen im Keim. Dem Zwang, nach Sizilien zu kommen, konnte ich mich einfach nicht entziehen.

Mein nächster Gang führte ins Reisebüro. Binnen einer halben Stunde war alles erledigt. Meine Reisepläne nahmen greifbare Formen an: Eine Woche „Sizilien für Entdecker“. Konkret gesagt: Sieben Tage mit einem Mietwagen kreuz und quer über die Insel, alle Übernachtungen gebucht, unverbindliche Routenvorschläge und im übrigen: die totale Freiheit.

Für mein Vorhaben die perfekte Reisegestaltung. Zum einen würde ich die Gelegenheit haben, umfassende Eindrücke zu sammeln, ohne mir von anderen aufzwängen zu lassen, wann, wo und wie. Zum anderen bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen, wo ich des Abends mein Haupt zur Ruhe betten würde. Bei allem Freiheitsdrang kann ein gewisses Sicherheitsgefühl schließlich nicht schaden.

Beschwingt vor lauter Vorfreude verließ ich den Laden. In drei Tagen würde ich mich in die Lüfte schwingen. Wer hätte das gedacht! Noch vor einer Woche Opfer von Depressionen der Sonderklasse und heute bereits Anwärter auf den Entdeckerstatus! Da sollte jemand behaupten, mein Leben hieße Monotonie.

Kapitel 2

Fünf Minuten vor Zwölf! Im übertragenen Sinn versteht sich. Heute war es soweit. Aufgeregt schnürte ich mein Bündel. Der Flieger ging zwar erst am späten Nachmittag, aber keine zehn Pferde würden mich davon abhalten, mal wieder viel zu früh loszufahren. Zwar sollte die Strecke Regensburg-München, günstige Umstände vorausgesetzt, selbst in meiner von den Jahren arg gebeutelten Ente in einer großzügig bemessenen Stunde problemlos zu bewältigen sein. Aber, man konnte ja nie wissen.

Ausgerechnet heute erinnerte sich die Großwetterlage an ihre guten Seiten. Ausnahmsweise lichtete sich der Nebel in den frühen Morgenstunden und ließ stellenweise Reste eines strahlend blauen Himmels erkennen. Gegen Mittag bahnten sich sogar trügerische Sonnenstrahlen den Weg, um das nasskalte Novemberklima kurzfristig zu verdrängen. Sollte es sich hierbei etwa um einen Wink mit dem Zaunpfahl handeln? Getreu dem Motto: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute ist so nah? Quatsch! Froh, auf dieser Fahrt nicht die fehlende Ausstattung meines Vehikels mit einem Nebelscheinwerfer bedauern zu müssen, tuckerte ich in Richtung Autobahn.

Unmittelbar vor der Auffahrt fiel er mir das erste Mal auf. Schätzungsweise in meinem Alter, um die Zwanzig, ungefähr 1.80 Meter lang, schmal, kurze braune verstrubbelte Haare, salopp, aber keineswegs schlampig gekleidet. Alles in allem kein Anhaltertyp. Dennoch wies das hochgehaltene Pappschild unmissverständlich auf entsprechende Aktivitäten hin.

Allein wegen seines sympathischen, regelrecht vertrauenerweckenden Gesichts wäre ich nicht im Traum auf die Idee gekommen, anzuhalten. Seit ich meinen Führerschein habe, beherzige ich konsequent und unnachgiebig den Grundsatz, keine fremden Leute mitzunehmen. Um so erstaunlicher, dass in diesem Fall mein Verhaltenskodex ansatzweise ins Schwanken geriet.

Vermutlich lag der Grund hierfür in der Richtung, die der Unbekannte anvisierte. Die stimmte nicht nur mit meiner überein, sondern zeugte auch von einer gewissen exzentrischen Veranlagung des Unbekannten. Denn auf dem Schild des Trampers stand keineswegs München, sondern: Sizilien. War es ein verfrühter Aprilscherz? Oder nur Ausdruck eines über alle Maßen optimistischen, wenn nicht gar naiven Gemütes? Jedenfalls schien selbst mir die These unhaltbar, dass seine Ambitionen in Richtung „potentieller Gewaltverbrecher“ gingen. Wie auch immer, seinetwegen würde ich sicherlich nicht das Risiko eingehen, eines Besseren belehrt zu werden. Eigentlich schade, dachte ich, als ich im Rückspiegel sah, dass auch er mir hinterher schaute.

Der arme Kerl! Irgendwie wurde ich den Gedanken an ihn nicht los. Während ich gemütlich im Warmen saß, das idyllische Hopfenanbaugebiet Holledau an mir vorbeiziehen ließ, und meine Ente ausnahmsweise ohne aufzumucken einen Kilometer nach dem anderen verschlang, konnte er sich kalten Fußes dieselben in den Bauch stehen. Während ich in der sicheren Gewissheit schwelgte, mich mit jeder Minute, die verstrich, unweigerlich meinem Ziel zu nähern, musste er sich früher oder später mit dem eindeutig vorprogrammierten Scheitern seines Vorhabens auseinandersetzen. So etwas Verrücktes aber auch. Denn wer würde angesichts des nahenden Winters auf die idiotische Idee kommen, eine Fahrtstrecke von rund 2.000 Kilometern auf sich zu nehmen, wenn er genauso gut und vor allem bequem nach läppischen zwei Stunden Flugzeit am Ort seiner Träume ankommen konnte? Nun, wie ich das sah, konnte er von Glück reden, wenn er überhaupt irgendwohin käme. Aber was kümmerte mich die Zukunft eines Möchtegernvagabunden?

Die raue Wirklichkeit hielt mich davon ab, nach einer Antwort zu suchen. Ein kleines rotes Licht flackerte am Armaturenbrett auf und lenkte meinen Blick auf die Tanknadel, die sich jenseits der Reservemarkierung aufhielt. Mist. Mir würde es wohl nie gelingen, rechtzeitig an den unverhältnismäßigen Spritbedarf meines vierrädrigen Vielfraßes zu denken. Mit Hängen und Würgen, unter Inanspruchnahme des allerletzten Reservetropfens, fuhr ich die nächste Tankstelle an. Vielmehr rollte ich die letzten Meter.

Da sich die Zapfsäulen äußerster Beliebtheit erfreuten, konnte ich mich entspannt zurücklehnen und dankbar durchatmen. Das wäre ein echter Hammer gewesen. Wegen eines leeren Tanks: Sizilien ade! Mein Blick streifte zufällig den Rückspiegel und fiel auf das Prachtexemplar eines Zweisitzers, der hinter mit wartete. Ein knallig orangefarbener Fiat Barcetta mit geöffneten Verdeck beherbergte zwei den Elementen Wind und Wetter trotzende, dick vermummte Gestalten.

„Auch eine Möglichkeit zu reisen“, murmelte ich mit einem kleinen Anflug von Neid. Ich war so in die Betrachtung des seltenen Flitzers versunken, dass ich weder Fahrer noch Beifahrer eines Blickes würdigte. Entsprechend überrascht vernahm ich ein Klopfen an meinem Seitenfenster. Ich drehte mich um, und mein Erstaunen nahm kein Ende. Wer deutete mir an, die Fensterscheibe herunterzukurbeln? Der zum Scheitern verurteilte Sizilienreisende höchstpersönlich! Es war nicht zu fassen. Und ich hatte mir auch noch Sorgen um sein Fortkommen gemacht. Dabei war seine Fahrt in diesem Luxusschlitten doch erst durch mich und meine mangelnde Hilfsbereitschaft möglich geworden.

Leicht verärgert öffnete ich mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen das Fenster. Was wollte er von mir? Eine Dankeschön hatte ich ja wohl kaum zu erwarten. „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, aber ...“ Schroff unterbrach ich ihn: „In der Tat. Und? Was wollen Sie?“ „Nun, ja also, eigentlich – , aber ich glaube, ich sollte mir einen zweiten Versuch lieber ersparen.“

Wunderbar. Er hatte mich verstanden. Doch anstatt das Gespräch zu beenden, hakte ich nach. „Jetzt stellen Sie sich mal nicht so an. Wenn Sie sich derart anschleichen, besteht ja wohl kein Anlass zu glauben, dass ich Sie mit offenen Armen empfange. Außerdem, was meinen Sie mit zweitem Versuch? Können Sie sich nicht klarer ausdrücken?“ Er unterbrach meinen Redeschwall: „Wenn sich eine Gelegenheit dazu ergibt, gerne. Gut, wie fange ich am Besten an? Erinnern Sie sich denn nicht an mich?“

Natürlich tat ich das. Aber das ging in ihn schließlich nichts an. Außerdem, wenn ich zu etwas keine Lust hatte, dann einen potentiellen Anhalter abzuwimmeln. „Wissen Sie, wenn Sie meinen, eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten zu müssen, kann ich auf die Fortführung unseres Gespräches gut verzichten.“ Gott sei Dank wurde in diesem Augenblick mein Vordermann fertig. Mit einem betont freundlichen „Ich muss jetzt tanken. Auf Wiedersehen“ knallte ich ihm die Autotür um ein Haar direkt vor die Nase, stieg aus, machte mich an die Arbeit und ging zahlen.

Als ich zu meinem Auto zurückkehrte, ließ ich dezent meine Blicke schweifen. Schon wieder Glück gehabt. Mein gewinnendes Wesen hatte ihn offensichtlich davon überzeugt, dass er von mir keine Chauffeursdienste zu erwarten hatte. Ein weiterer Blick auf die Uhr ergab, dass ich genug Zeit hatte, um mir eine kleine Kaffeepause zu gönnen. Ich deponierte meine Ente und peilte zielstrebig die Cafeteria an. Trotz des eigentümlichen Charmes, den solche Raststätteneinrichtungen verbreiten, war der Andrang gewaltig. Ich wollte schon umdrehen, als in der hintersten Ecke ein kleiner Tisch frei wurde.

Während ich behutsam ein Gebräu, laut Karte handelte es sich um Kaffee, schluckte und mechanisch eine Zeitschrift durchblätterte, hing ich meinen Gedanken nach. Es ist schon tragisch, dass die Menschheit so verkommen ist. Wer war heutzutage noch hilfsbereit? Insbesondere gegenüber Fremden – vor lauter Angst, im günstigsten Fall ausgenutzt und über den Tisch gezogen zu werden. Obwohl, Argumente wie diese waren vermutlich nur allzu oft eine willkommene Ausrede, um nicht behilflich zu sein. Wenn aber die grundsätzliche Bereitschaft vorhanden war, sollte man sich vielleicht einfach auf seine Menschenkenntnis verlassen. Zum Beispiel Mr. Sizilien. Er machte nun wirklich einen ganz harmlosen, regelrecht seriösen Eindruck. Stellte sich allerdings die Frage, warum er sich ausgerechnet auf diese Art und Weise fortbewegen musste. Immerhin sah er keineswegs so aus, als müsse er am Hungertuch nagen. Aber das konnte mir nun wirklich egal sein. Zumal ich ihn ja endgültig und erfolgreich abgewimmelt hatte.

Welch grobe Fehleinschätzung. An nichts Böses denkend, vernahm ich ein zurückhaltendes: „Ist hier noch ein Platz frei?“ Die Stimme kannte ich doch. Sichtbar genervt schaute ich hoch. Himmel sakra, blieb mir denn auch nichts erspart! Unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung stand das Subjekt meiner Gedanken samt Gepäck vor meinem Tisch. Mit gespielter Verzweiflung zuckte er die Schultern und erklärte mit kummervoller Stimme: „Eine wirklich unangenehme Situation. Sie müssen ja glauben, dass ich Sie verfolge. Hätte ich eine Alternative, aber Sie sehen ja selbst, nirgends ein freies Plätzchen.“

Sarkastisch antwortete ich: „Tja, das Leben ist eines der härtesten.“ Mit einem leicht belustigten Grinsen entgegnete er: „Sie haben völlig Recht. Mein Pech.“ Er bückte sich, um seinen Seesack zu schnappen. „Los, setzten Sie sich schon!“, brummte ich widerwillig. Immerhin befanden wir uns in einem der Öffentlichkeit zugänglichen Lokal. Wenn ich ihm den Zutritt zu meiner Ente verwehrte, war das mein gutes Recht. Aber hier den Tisch zu verteidigen? Ich wollte mich ja schließlich nicht lächerlich machen. Mit dieser Geste sollte mein Entgegenkommen jedoch endgültig ausgeschöpft sein. Mit einem betont dynamischen Blättern in besagter Illustrierten signalisierte ich meine mangelnde Bereitschaft zu einem Small Talk.

Doch Undank ist der Welt Lohn. Entweder war er unfähig, meine Körpersprache richtig zu interpretieren, oder es entsprach seinem selbstbewussten Naturell, sich von kleinen Hindernissen nicht entmutigen zu lassen. Jedenfalls machte er keinen Hehl aus seinem Kommunikationsbedürfnis. „Ihre Ente hat es mir auf den ersten Blick angetan. Leider sieht man dieses Modell nur noch selten. Ist sie noch voll einsatzfähig? Haben Sie heute noch eine lange Strecke vor sich?“

 

Bei diesem Redefluss konnte ich mich beim besten Willen nicht konzentrieren. Gezwungenermaßen schaltete ich mich ein. „Erste Frage: Ja. Zweite Frage: Wie man’s nimmt. Immerhin heißt mein Ziel Sizilien.“ Teufel, wieso konnte ich nie meine Klappe halten? Ein falsches Wort und schon hatte ich ihm die nächste Frage auf einem goldenen Tablett serviert.

„Das gibt’s ja gar nicht. Das muss reine Vorsehung sein. Da kann ja von Zufall wohl kaum mehr die Rede sein. Sie wissen, was ich meine?“ Natürlich wusste ich, was er meinte. Schließlich war sein Pappschild nicht zu übersehen gewesen. Allerdings wusste ich auch, dass ich „unser“ Wissen nicht in seinem Sinne umzusetzen gedachte. „Da muss ich Sie leider enttäuschen. Wenn Sie wissen, was ich meine? Erstens, werde ich Sizilien nicht anfahren, sondern anfliegen. Zweitens, nehme ich grundsätzlich, das heißt ohne Ausnahme, keine Anhalter mit. Drittens ...“Er winkte ab. „Ist schon gut. Ich habe die Botschaft verstanden. Wenn ich zu penetrant gewesen sein sollte – “

Im Geiste wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Schon wieder Glück gehabt. Schweigsam widmeten wir uns, beide mit angewidertem Blick, der Flüssigkeit, die in unseren Tassen überzuschwappen drohte. Die wohlige Gewissheit, soeben eine gefährliche Klippe umschifft zu haben, wirkte sich positiv auf meine Geselligkeit aus. Ich fragte ihn nach den Gründen, warum er sich unbedingt eine Zweitagesreise per Auto auf sich nehmen wolle.

So erfuhr ich, dass mein Gegenüber, wenn irgendwie möglich, lieber mit dem Auto fuhr, um mehr zu sehen und zu erleben. Sein ursprüngliches Vorhaben, mit dem eigenen Auto zu fahren, sei in dem Augenblick geplatzt, als vor wenigen Tagen ein Betrunkener in seinen Wagen gedonnert sei. Totalschaden. Dann habe er kurzerhand beschlossen, sich auf die mir bekannte Weise seinem Ziel zu nähern. Er sehe aber nach diversen Fehlschlägen ein, dass er vermutlich auf die Alternative Flugzeug zurückgreifen müsse.

Automatisch schrillten in meinem Kopf die Alarmglocken. Doch die befürchtete Frage, ob ich ihn nicht ausnahmsweise vielleicht zum Flughafen ..., blieb aus. Angenehm berührt von seiner unerwartet vornehmen Zurückhaltung wünschte ich ihm eine gute Reise und wollte mich auf nimmer Wiedersehen verabschieden. Doch beim Aufstehen fiel plötzlich mein Blick auf die Vorderseite seines Seesackes. Das Reiseutensil, an sich von unscheinbarem Äußeren – schlichter schwarzer Leinenstoff – , fiel durch eine eingearbeitete sonnengelbe, etwa tellergroße Abbildung auf.


Unwillkürlich griff ich zum Hals. Ein typischer Reflex, eine Handbewegung, die ich immer wieder unbewusst ausführe, um zu kontrollieren, ob sich meine Kette mit dem Talisman noch an Ort und Stelle befindet. Erleichtert fühlte ich die beruhigende Kühle des unter dem Pullover verborgenen, 2-Euro-Stück großen goldenen Anhängers. Dennoch hatte ich das Gefühl, zu glühen und zu schwanken. Eine Hand drückte mich auf den Stuhl zurück und eine besorgte Stimme bahnte sich den Weg zu meinem Ohr. „Ist Ihnen schlecht? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Sie sehen ja aus, als wären Sie gerade einem Gespenst begegnet.“ In gewisser Weise traf die Floskel direkt ins Schwarze. Genau genommen hatte mich soeben das Gespenst meiner Vergangenheit gestreift. Aber auch das ging ihn nichts an. Zudem hatte es mir die Sprache so gründlich verschlagen, dass ich nur mit Mühe ächzen konnte: „Alles in Ordnung!“

Wie ich später erfuhr, war ich die nächsten Minuten nicht ansprechbar. Den Anhänger nach wie vor krampfhaft festhaltend, zogen in Windeseile Bruchstücke meines Lebens an mir vorbei. Sinnlose, quälende Gedanken, die ich schon vor langer Zeit und nach etlichen Rückschlägen unter der Kategorie „vorbei und vergessen“ abgehakt hatte. Endgültig, wie ich damals meinte.

Dreh- und Angelpunkt des momentanen Desasters war mein Anhänger. Das dargestellte Motiv hatte ich bislang noch nie woanders gesehen. Auch war es mir nicht gelungen herauszufinden, was es mit dem Schmuckstück auf sich hatte. Ich wusste nicht, wem es einst gehört hatte und unter welchen Umständen der Anhänger in meinen Besitz gekommen war. Sollte er ein bestimmtes Symbol abbilden? Oder handelte es sich lediglich um eine der Phantasie entsprungene Darstellung? Kurzum, ich hatte niemanden gefunden, der das Motiv kannte und mir etwas über die Bedeutung des geheimnisvoll anmutenden Gebildes hätte sage können.

Bis heute! Denn gerade eben hatte ich ein identisches Exemplar gesehen. Nicht in Form eines Schmuckstückes, sondern als Emblem auf seinem Seesack. Dort prangte es und ließ meinen Blick nicht mehr los: Ein Frauenkopf, umrahmt von drei abgewinkelten Beinen sowie je zwei Schlangen und Flügeln.

Vielleicht würde er mir ein paar Informationen über das Motiv geben können. Was hieß hier vielleicht? Er musste einfach etwas wissen. Schließlich ging es hier nicht um ein in jedem x-beliebigen Laden zu kaufendes Standardmodell. Mit Sicherheit war der Frauenkopf erst nachträglich angebracht worden. Vielleicht von ihm selbst, zumindest aber von einer ihm bekannten Person. Ich war sicher, er wusste, was er da mit sich herumschleppte.

Doch selbst wenn ich richtig lag, war mir letztlich nicht geholfen. Denn seine Informationen konnten zwangsläufig nur allgemeiner Natur sein. Die Fragen, die mir besonders am Herzen lagen, würde auch er nicht beantworten können: Wem hatte die Kette ursprünglich gehört? Ich bin immer davon ausgegangen, dass sie von meiner Mutter stammte. Aber Beweise für diese Theorie gibt es nicht. Ebenso wenig für die Annahme, dass es sich um eine Art Erbstück handelt. Das einzige, was die Frau, die mich auf die Welt gebracht hat, mir auf meine einsame Reise ins Leben mitgeben wollte, konnte ... Aber wissen? Von Wissen konnte keine Rede sein.

Ich wusste nicht, wer meine Eltern waren oder sind. Ob sie verheiratet waren. Warum meine Mutter weder sich noch mir die Chance gegeben hat, einander kennenzulernen. Genau genommen kannte ich weder meinen richtigen Namen noch den exakten Geburtstag. Und das wenige, was ich wusste, weckte lediglich die Erinnerungen an eine vergeblich verdrängte unglückliche Kindheit und Jugend. Ich wusste, dass ich ein Findelkind bin. Der Anfang meiner dokumentierten Geschichte fiel auf einen kalten, dunklen Novemberabend vor fast zwanzig Jahren. Die Glocken der neben dem Pfarrhaus stehenden Kirche schlugen zehn Mal, als die Haushälterin des Pastors ein Klopfen an der Haustür hörte. Ganz kurz und so leise, dass sie es beinahe überhört hätte.

Von Rheuma geplagt, dauerte es eine Weile, bis sie die Tür erreichte. Draußen herrschte tiefe Dunkelheit. Das einzig Helle waren die aufkommenden Nebelschwaden, unter denen der angrenzende Friedhof kaum noch zu erkennen war. Die gute Seele schaute sich erstaunt um und kam zu dem Ergebnis, sich doch getäuscht zu haben. Sie war gerade im Begriff, sich umzudrehen und die Türe wieder zu schließen, als sie eher zufällig auf den Boden schaute. Und damit auf mich: einen winzigen, in eine weiße Decke gewickelten Säugling mitsamt seiner komfortablen Behausung in Gestalt einer Strohtasche.

Um es kurz zu machen: Der herbeigerufene Arzt behauptete, ich sei allenfalls vierzehn Tage alt und attestierte mir, von einer leichten Unterkühlung abgesehen, einen robusten gesundheitlichen Zustand. Des Weiteren ergab der Inhalt besagter Notunterkunft keine Hinweise auf meine Identität. Abgesehen von einem Zettel, auf dem der Name Anna stand. Ansonsten fand man lediglich eine goldene Kette mit einem goldenen, im Design recht ausgefallenen Anhänger. Eben jenes Schmuckstück, dass ich seitdem immer trage.

Die nächsten Tage wurde ich im Pfarrhaus aufgepäppelt. Als feststand, dass alle Versuche, meine Mutter ausfindig zu machen, gescheitert waren, lief ich die nächste Station an. Das Waisenhaus. Dort blieb ich vier Jahre, bis mich eine Pflegefamilie aufnahm. Ein absoluter Glückstreffer, denn die Begeisterung meiner „neuen Eltern“ führte zu dem Wunsch, mich zu adoptieren. Doch dann kam es zu einem schrecklichen Verkehrsunfall, dem meine Familie in spe zum Opfer fiel. Also landete ich erneut im Heim. Mit sechzehn begann ich eine Fotolehre, mit achtzehn ließ ich den Ort meiner Kindheit hinter mir, und seitdem ist nichts Weltbewegendes passiert.

Solange meine Erinnerung zurückreicht, waren Kette und Anhänger für mich von größter Bedeutung. In den ersten Jahren im negativen Sinne. Damals hatten mir die Schwestern erzählt, es sei ein Geschenk meiner leiblichen Mutter. Zu der Zeit fing ich an, mir Gedanken zu machen. Was hatte ich Schlimmes getan oder an mir gehabt, dass diese Frau mich nicht haben wollte? Ich war unendlich wütend. Auf mich, weil ich mir die Schuld für diese Entwicklung gab. Auf diese herzlose Frau, die mir das angetan hatte. Auf die Kette, die mich immer wieder an meine fehlende Vergangenheit erinnerte. Zudem ängstigte mich die bizarre Gestalt des Anhängers. Am liebsten hätte ich das Schmuckstück weggeworfen. So wie sie mich entsorgt hatte. Andererseits stellte die Kette die einzige Verbindung zu meiner Vergangenheit dar. Also beschränkte ich mich in meinem kindlichen Zorn darauf, Kette und Anhänger für geraume Zeit in einer kleinen, aus der Küche stibitzten Holzspanschachtel, einst Aufbewahrungsort eines Camembert, zu deponieren, und den Gedanken daran einfach zu verdrängen.