Seewölfe - Piraten der Weltmeere 214

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 214
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-550-7

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Den ersten leichten Ärger gab es am fünften Tag, als die „Isabella VIII.“ den Äquator überquerte.

Der Kompaß zeigte Südsüdwest, und am Ruder stand der Decksälteste Smoky, der gerade Pete Ballie abgelöst hatte.

Der bullige Mann blickte ausgesprochen finster zu den Flögeln hoch, korrigierte leicht den Kurs und nahm sein mißmutiges Starren wieder auf. Ab und zu blies er die linke Wange auf, fuhr mit der Zunge im Mund herum und fluchte verhalten.

Kein Zweifel: Smoky hatte Zahnschmerzen und daher verständlicherweise ziemlich üble Laune.

Philip Hasard Killigrew hatte Smoky den Rücken zugedreht, sich mit den Ellenbogen auf die Schmuckbalustrade gelehnt und blickte zwischen den Segeln hindurch nach vorn zur Kuhl, wo ziemlich lautes Gebrüll herrschte.

Dort begossen sich die Kerle gegenseitig mit Pützen voller Seewasser und vollführten ein lautes Spektakel.

Dieses Spielchen trieben sie seit etwa einer halben Stunde, und es sah nicht danach aus, als würde es gleich aufhören.

„Verdammter Mist!“ ertönte es laut hinter Hasards Rücken.

Der Seewolf drehte sich um und sah Smoky an, der das linke Auge zusammenkniff und die Wange aufblies, als hätte er einen faustgroßen Klumpen Kandiszucker darin.

„Weshalb fluchst du dauernd, Smoky?“ fragte er gelassen. „Dieses ‚Verdammter Mist‘ höre ich schon fast zehnmal. Laß dir doch mal was anderes einfallen. Oder möchtest du dich an der Wasserschlacht beteiligen? Wenn es dir zu heiß ist, übernehme ich das Ruder für eine Weile.“

„Zahnschmerzen“, maulte Smoky, und es hörte sich verdammt kläglich an, wie er das hervorbrachte. „Mir tut die ganze Schnauze weh, Sir.“

Der Decksälteste war wahrhaftig kein wehleidiger Mann, aber bei Zahnschmerzen war das etwas anderes, da bildete auch Smoky keine Ausnahme. Er bot ein Bild des Jammers und sah genauso hilflos aus wie an dem Tag, als seine Mutter ihn einfach vor einer Kirchenschwelle deponiert und damit seinem Schicksal überlassen hatte.

„Geh zum Kutscher, Smoky“, sagte er daher. „Shane wird das Ruder für dich übernehmen.“

„Ich will aber nicht zum Kutscher, Sir“, murrte Smoky.

„Anders kann dir aber nicht geholfen werden.“

„Zum Kutscher geh ich aber nicht“, sperrte sich Smoky. „Der fummelt mir doch gleich mit dem Kalfateisen im Maul rum. Ich halte es noch eine Weile aus, Sir.“

Smoky hielt es wirklich noch eine Weile aus, aber dann hörte Hasard wieder die gemurmelten Flüche, und die steigerten sich langsam von „verdammter Mist“ bis zu äußerst seltenen Ausdrücken, die selbst den Seewolf gelinde erschauern ließen. Ein paar Minuten lauschte er andächtig und wunderte sich über Smokys unermeßlichen Wortschatz, doch dann wurde es ihm zuviel, als Smoky die ganze Welt und selbst den „Scheißäquator“ zum Teufel wünschte.

„Du gehst jetzt zum Kutscher!“ befahl Hasard.

„Ich will aber nicht, Sir!“

„Verdammt noch mal!“ schrie Hasard. „Entweder gehst du jetzt sofort zum Kutscher, oder ich werfe dich eigenhändig bis zur Kuhl. Hast du verstanden?“

Als der Blick aus eisblauen Augen ihn streifte, verschwanden Smokys Zahnschmerzen schlagartig.

„Aye, aye, Sir“, nuschelte er. Er übergab Big Old Shane das Ruder und schlich wie ein geprügelter Hund den Niedergang hinunter.

Auf der Kuhl war immer noch die Wasserschlacht im Gange, und Smoky paßte mit seinem wehleidigen Gesicht überhaupt nicht unter die johlenden und brüllenden Kerle.

Er starrte mißmutig auf den Profos, der gerade dem Gambianeger Batuti die mit Wasser gefüllte Pütz auf den Schädel stülpte und sich lachend auf die Schenkel hieb, weil Batuti Mühe hatte, die Holzpütz wieder zu entfernen.

Smoky hatte allerdings kein Verständnis für irgendwelche Späße, und das Lachen war ihm schon vor Stunden gründlich vergangen.

Als er weiterschleichen wollte, geriet er an den Hitzkopf Luke Morgan. Der hatte gerade eine gefüllte Pütz in der Hand und grinste den Decksältesten schon erwartungsvoll an.

Es passierte das, was passieren mußte.

Luke hob die Pütz und schleuderte den Inhalt mit voller Kraft in Smokys Gesicht. Der harte Schwall warf den Decksältesten fast um, und das kühle Wasser traf ausgerechnet seine schmerzende Wange und drückte auf den Zahn. Der explosionsartige Schmerz ließ Smoky fast wahnsinnig werden. Am liebsten wäre er senkrecht in den blauen Tropenhimmel gestiegen.

Luke Morgan erwartete nun natürlich, daß Smoky ebenfalls begeistert nach einer Pütz griff, um sich zu revanchieren.

Daher war er sehr erstaunt, als ihm statt dessen Smokys bratpfannengroße Faust an den Schädel flog. In seinem Schädel ging eine riesige Sonne auf, und die zerplatzte gleich darauf in Millionen kleiner funkelnder Sternchen.

Luke Morgan segelte über die Kuhlgräting, und noch während er mit ausgebreiteten Armen darüber hinwegrutschte, grinste er. Er hatte noch nicht richtig mitgekriegt, was da passiert war, und nun lag er benommen an Deck und hörte die Englein singen.

Aber der Engelschor hörte sehr schnell auf zu singen, und mit Lukes Grinsen war es auch vorbei. Sein jähzorniges Temperament erwachte, er lief dunkelrot vor Wut an, sprang auf und stürmte auf Smoky zu, der sich schmerzerfüllt die Wange hielt.

„Du verstehst wohl überhaupt keinen Spaß, du Gammelfisch!“ brüllte er. „Dir werde ich’s zeigen!“

Diesmal fing sich Smoky ein Ding ein, noch ehe er reagieren konnte.

Da Luke Morgan nichts von Smokys Zahnschmerzen wußte, hieb er ihm die Faust auf die linke Wange, und das veranlaßte den Decksältesten zu einem mörderischen Schrei.

Smoky sah nur noch rot. Ganz automatisch flogen seine Fäuste hoch, und er drosch auf Luke ein. Für Morgan wäre es schlecht ausgegangen, denn Smoky hatte sich sein ganzes Leben lang seinen Rang mit den Fäusten erkämpft, und er war nicht gerade zimperlich im Faustkampf. Dazu gesellte sich der wahnsinnige Zahnschmerz, den Luke durch seinen Wasserguß noch verschlimmert hatte.

Als die beiden Kampfhähne erneut aufeinander losgingen, drängten sich zwei mächtige behaarte Arme dazwischen. Die beiden Arme gingen auseinander und schoben die Männer mühelos beiseite.

Doch Luke Morgan hatte schon ausgeholt, und sein Schlag war nicht mehr zu bremsen. Seine knochenharte Faust landete mit einem dumpfen Ton auf Carberrys mächtigem Brustkasten. Es hörte sich so an, als schlüge ein großer Hammer auf einen Gong. Es brach ihm fast das Handgelenk, so hart war der Schlag, aber genausogut hätte er auch in ein Eichenbrett hauen können, denn auf Carberrys Brust bogen sich nur die Haare um. Der Profos schluckte diesen Hieb, ohne eine Miene zu verziehen. Er wich auch nicht um Haaresbreite zurück.

„Seid ihr verrückt, ihr triefäugigen Bordgespenster!“ brüllte er mit seiner Donnerstimme. „Wenn ihr nicht augenblicklich aufhört, schlage ich euch den Großmast um die Ohren.“

Luke massierte seine Faust, aber in seinen Augen blitzte es drohend auf, und Smoky hielt ihm die Faust unter die Nase, zog sie aber zurück, als der Profos ihn ansah.

„Was ist in dich gefahren, Smoky?“ grollte Ed. „Verträgst du keinen Spaß mehr, oder bist du wasserscheu, was, wie?“

Smokys linke Wange schwoll sichtbar an.

„Ich hab Zahnschmerzen!“ schrie er zurück. „Und dieser halbverhungerte Rübenlümmel gießt mir ausgerechnet kaltes Wasser auf die entzündete Stelle.“

„Warmes hatten wir leider nicht“, sagte Ed ungerührt. „Geh doch zum Kutscher, der wird dir schon helfen.“

„Dahin wollte ich ja gerade“, knurrte Smoky. „Aber dann kam dieser …“

„Sag noch einmal halbverhungerter Rübenlümmel!“ schrie Luke. „Dann brauchst du nicht mehr zum Kutscher, ich schlag dir deine Milchzähne einzeln aus!“

Lukes Narbe über der Stirn, die von einem Messerkampf herrührte, war jetzt tiefrot und zeichnete sich deutlich ab. Bei ihm war das ein Zeichen von ungeheurer Wut, und die hätte er am liebsten gleich abgelassen, wenn Ed nicht gewesen wäre.

„Du hast selbst gesagt, daß du als Rotznase jeden Tag nur Rüben gefressen hast, jahrelang“, wetterte Smoky. „Und zwar Futterrüben, deshalb bist du auch so klein und mickrig, du Rübenschwein!“

Inzwischen hatte sich der größte Teil der Crew um die beiden versammelt und hörte belustigt zu, wie sie sich gegenseitig beleidigten.

Morgan wollte schon wieder los, doch des Profos mächtige Linke stoppte ihn. Er hatte Luke am Gürtel seiner Hose gepackt und hielt ihn auf Distanz. Dann beendete er das Spielchen.

„Schluß jetzt!“ donnerte er. „Du gehst sofort zum Kutscher, und du kannst dich weiter abkühlen, sonst werde ich mal den Staub von der Neunschwänzigen blasen und sie tanzen lassen. Die liegt schon viel zu lange nutzlos herum!“

 

Smoky wandte sich ab, Luke schnaufte wie ein angestochener Stier und drehte sich um.

Inzwischen war der Kutscher schon auf der Kuhl erschienen und schüttelte indigniert den Kopf.

„Daß diese ungeistigen Tranköpfe immer gleich prügeln müssen“, tadelte er. „Kann man das nicht mit Worten beilegen? Aber nein, die ehrenwerten Gents müssen sich den Rest Verstand, den sie noch haben, gleich aus den Köpfen hauen wie der letzte Pöbel!“

Für Luke Morgan war das Faß schon wieder übervoll, und da sein Zorn noch nicht verraucht war, nahm er den Kutscher aufs Korn.

„Du karierte Kombüsenwanze kriegst gleich eins aufs Geweih. Latscht der abgewrackte Küchenhering daher und tönt wieder das Deck voll! Sollen wir uns vielleicht freundlich unterhalten, wenn er mir eins aufs Auge haut, he? Ich kann dir ja mal eine kleben, und dann kannst du das mit Worten beilegen, du – du …“

„Sprich nicht weiter“, bat der Kutscher mild. „Deine üblen Wörter beleidigen mein ästhetisches Empfinden.“

„Was für’n Ding?“ fragte Luke. „Wo sitzt das denn?“

„Bei mir im Kopf“, sagte der Kutscher würdevoll. „Bei dir vermutlich in dem matschigen Sumpfgelände, das du fälschlicherweise als dein Gehirn bezeichnest. Ich kann mich aber auch irren, denn unter deinen Haaren befindet sich möglicherweise auch eine langgestreckte Trockenzone.“

Die umstehenden Seewölfe lachten und amüsierten sich köstlich, denn bei einem Disput gewann immer der Kutscher. Da er sich mitunter so geschraubt ausdrückte, trug er nur noch mehr zur allgemeinen Erheiterung bei.

Luke Morgan überlegte noch krampfhaft, was der Kutscher wohl genau gemeint hatte, aber als ihm endlich ein Licht aufging, hatte der Kutscher sich schon umgedreht und ging gemessenen Schritts davon.

Luke goß ihm voller Zorn eine Pütz Seewasser nach, die den Kutscher von oben bis unten näßte, aber der drehte sich nur gelassen um und lächelte nachsichtig.

„Auch dieses Argument spricht nicht für deinen Geist“, sagte er hoheitsvoll. „Aus einem Bauernlümmel wird nie ein Gentleman.“

Dann wollte er sich um Smoky kümmern, doch der hatte genauso eine Wut im Bauch wie Luke, und als er dessen Wange betasten wollte, hielt Smoky ihm seine gewaltige Faust unter die Nase.

„Kümmer dich um deine Kakerlaken in der Kombüse“, sagte er. „Und nimm deine Gräten aus meinem Gesicht!“

„Der Zahn muß raus“, erklärte der Kutscher, ohne auf die freundlichen Worte einzugehen. „Du kriegst sonst noch mehr Schmerzen. Ich werde ihn dir ziehen!“

„Gar nichts wirst du, verstanden? Das vergeht von allein.“

„Eben nicht“, belehrte ihn der Kutscher. „Das kann eine böse Entzündung geben. Dein Gesicht schwillt ja schon auf Backbord an.“

„Das ist von dem Schlag und nicht vom Zahn. Glaubst du etwa, ich lasse mir im Hals rumfuhrwerken, und die anderen stehen lachend um mich herum? Nee, Kutscher, ohne mich. Probier deine Knochenbrecher meinetwegen an Walfischen aus, aber nicht an mir.“

Der Kutscher versuchte, Smoky zu überzeugen, und glänzte mit beschwörenden Gesten, aber Smoky hatte auf stur geschaltet.

„Mein Zahn bleibt jedenfalls da, wo er ist“, sagte er. „Und das ist, verdammt, mein letztes Wort.“

„Dann geh doch zu einem von diesen Wunderärzten, wenn wir wieder an Land sind“, sagte der Kutscher beleidigt, „und jammere mir bloß nicht die Ohren voll, du sturer Klotz!“

„Jawoll, das werde ich auch tun“, sagte Smoky wütend. „Die Burschen verstehen ihr Handwerk.“

Jetzt war der Kutscher ehrlich empört. Er war ein guter Feldscher, der sein Handwerk verstand, und dann kam so ein sturer Bock wie Smoky und wollte sich absolut nicht behandeln lassen, nur weil er alles besser wußte. Oder weil ihm etwas gegen den Strich ging. Jedenfalls fühlte sich der Kutscher ungerecht behandelt.

„Hoffentlich fällst du einem in die Hände“, sagte er inbrünstig, „dann lernst du mal die andere Seite kennen. Ich habe euch viel zu sehr verwöhnt. Überlege es dir also noch einmal.“

„Bei mir gibt’s nichts zu überlegen. Übermorgen sind die Schmerzen weg, und zwar von allein.“

„Gute Besserung“, wünschte der Kutscher ironisch.

Smoky aber kehrte verbiestert aufs Achterdeck zurück und übernahm wieder das Ruder.

„Die Schmerzen sind schon vorbei“, behauptete er, als der Seewolf ihn daraufhin ansprach.

2.

Aber auch zwei Tage später waren Smokys Schmerzen nicht vorbei, und alles gute Zureden half nichts. Er ging nicht zum Kutscher.

Die „Isabella“ segelte weiterhin Südsüdwest und näherte sich den Chagos-Inseln, die auf Hasards Karte nur als winzige Punkte eingezeichnet waren.

„Wir werden dort anlegen, Ben“, sagte er zu dem untersetzten Bootsmann Brighton, der die Seekarte studierte. „Dort können wir vielleicht unsere Vorräte ergänzen und frisches Trinkwasser übernehmen. Dann segeln wir weiter mit Kurs auf Südafrika.“

„Bist du sicher, daß es die Inseln wirklich gibt?“ fragte Ben skeptisch. „Diese drei Punkte können auch genausogut Fliegendreck sein.“

„Sicher bin ich mir nicht, ich vermute nur, daß diese Inselgruppe existiert. Ich kenne nicht einmal den Namen.“

„Es können kahle, unbewohnte Inseln sein“, warnte Ben.

„Das ist unser Risiko, auf der Karte sind keine anderen Inseln eingezeichnet. Wir haben eine weite Reise vor uns.“

Hasard hatte seine Männer dahingehend informiert, daß es Richtung Südafrika weiterging, und damit über den Südatlantik zur Schlangen-Insel, dem geheimen Stützpunkt der Seewölfe. Dort mußte inzwischen allerlei geschehen sein, und der Seewolf war neugierig darauf, die Insel und ihre Bewohner wieder einmal zu sehen.

Doch der Weg bis dorthin war noch sehr weit. Noch befanden sie sich im Indischen Ozean, und um zur Schlangen-Insel und damit in die Karibik zu gelangen, mußte noch ein großer Teil der Welt umsegelt werden.

„Verdursten und verhungern werden wir schon nicht“, sagte Ben nach einer Weile. „Notfalls können wir immer noch die afrikanische Küste oder die Insel Madagaskar anlaufen.“

Doch ihre Sorgen waren unbegründet. Am frühen Morgen des nächsten Tages gab es eine Überraschung.

„Land, zwei Strich Backbord voraus!“ schrie Jeff Bowie, der im Großmars Ausguck hatte.

„Also doch kein Fliegendreck“, sagte Hasard lächelnd und deutete mit dem Finger auf eine winzige, verschwommen scheinende Nebelbank, die an der Kimm aufwuchs.

Es grenzte fast an ein Wunder, daß sie diese kleine Inselgruppe gefunden hatten und nicht daran vorbeigesegelt waren.

Hasard ließ den Kurs ein wenig korrigieren, bis die dunstige Bank vor dem Bug der „Isabella“ stand. Dann griff er nach dem Spektiv und blickte lange hindurch. Aber dadurch wurde das Bild kaum deutlicher, denn um die Inseln lag ein feiner Schleier aus Dunst oder Nebelschwaden. Er sah nicht einmal, ob das Land flach oder bergig war.

Er setzte das Spektiv ab und blickte zu den beiden O’Flynns, die in stiller Eintracht nebeneinander standen und sich leise unterhielten. Offensichtlich erklärte Dan seinem Vater etwas, und der alte O’Flynn nickte auch ganz friedlich, ohne rot anzulaufen oder „der Rotznase“ mit dem Holzbein zu drohen. Sie schienen ein Herz und eine Seele zu sein, und als sich die Zwillinge Hasard und Philip dazugesellten, war das schon fast so etwas wie eine Familienidylle, denn auch die beiden heckten ausnahmsweise mal nichts aus.

So war der einzige, der verbiestert herumlief, der Decksälteste Smoky. Seine linke Gesichtshälfte war noch stärker angeschwollen, das Auge kaum noch zu sehen und die Wange aufgeblasen wie ein Ochsenfrosch.

Jeder ging ihm aus dem Weg, denn Smoky war gereizt und sauer, und er hatte es sicher längst bereut, nicht zum Kutscher gegangen zu sein.

Das verstand weder Hasard noch die anderen, aber Smoky war nun mal ein sturer Klotz, und jetzt ging er erst recht nicht zum Kutscher. Er wollte sich doch nicht blamieren. No, Sir! Dann hielt er die Schmerzen eben noch länger aus.

Sollte es schlimmer mit ihm werden, überlegte Hasard, dann würde er sich den Decksältesten noch einmal vorknöpfen. Wenn er dann auch nicht reagierte, nun, dann konnte er was erleben. Ein Schlag an der richtigen Stelle, und bis Smoky wieder zu sich kam, war er seinen Zahn los. Hinterher konnte er sich dann austoben.

Die Insel rückte näher heran, und aus dem Dunst schälten sich die ersten Konturen heraus. Eine lange Bucht war zu erkennen, palmenumsäumt, menschenleer, ein Punkt im Ozean, an dem die Schiffe anscheinend achtlos vorbeigesegelt waren.

„Koralleninseln“, sagte Hasard. „Der Vegetation nach zu urteilen, muß es hier Trinkwasser in Mengen geben.“

Sehr dicht konnten sie an die malerische Bucht allerdings nicht heran, denn weit davor türmte sich Wasser auf, als würde jene Stelle im Meer kochen. Eine langgestreckte Korallenbank verbot jede weitere Annäherung. Dort brachen sich kleine Wellen, wenn sie gegen die Korallen anrannten, und wurden hochgeschleudert. Überall gab es grünliche Schaumwirbel. Die Riffe ragten so weit aus dem Wasser, daß man Mühe hatte, selbst mit einem kleinen Boot ungeschoren daran vorbeizugelangen.

„Schade“, sagte der Seewolf nach einem bedauernden Blick auf die wilden Wirbel, „aber hier ankern bringt uns nichts ein. Wir segeln ein Stück weiter, bis wir die kleinen Felsen erreicht haben. Die Insel wird ja nicht von allen Seiten von Korallen umgeben sein. Irgendwo finden wir sicher einen Platz.“

In respektvollem Abstand umsegelte die „Isabella“ die tödlichen Riffe. Hasard ließ immer wieder Tiefe loten, denn es gab auch tückische Stellen im Meer, wo die Korallen wie scharfgeschliffene Dolche dicht unter der Wasseroberfläche lauerten. Mitunter waren es nur kopfgroße Stellen, aber sie hätten völlig genügt, das Schiff von vorn bis achtern aufzuschlitzen.

Gleich darauf wurde eine weitere Insel gesichtet. Sie lag südwestlich, war aber nur ein kleiner Punkt. Dicht hinter ihr schien eine weitere zu liegen, wie ein aus dem Meer ragender Buckel verriet.

Die große Überraschung folgte etwas später, als die „Isabella“ eine Landzunge gerundet hatte. Ihr folgte ein gerader Strand, üppig bewachsen mit undurchdringlichem Gebüsch, und dahinter, etwa eine Meile entfernt, lag ein Ort.

Hasard brachte im ersten Moment vor Verblüffung keinen Ton heraus. Die Bucht war tief eingeschnitten, und der natürliche Hafen wirkte fast wie ein Umschlagplatz für Güter aus aller Welt. Schon von hier aus waren die Masten von mindestens fünf anderen Schiffen zu erkennen. Dahinter waren Holzhäuser, zwei kleine, in der Sonne glitzernde Moscheen und eine längliche, aus Ziegeln erbaute Baracke. Es war keine Faktorei, eher ein Treffpunkt für Seefahrer verschiedener Nationen. Allem Anschein nach wurde dort auch gehandelt, geschachert und verhökert, wie es in kleinen Häfen dieser Art durchaus üblich war.

„Himmel, wo sind wir denn hier gelandet?“ fragte Ben Brighton erstaunt und kopfschüttelnd. „Dabei sah alles so einsam und verlassen aus!“

„Ja, das wundert mich auch. Ich habe noch nie etwas von diesen Inseln gehört“, erwiderte der Seewolf. „Aber andere sind anscheinend auch schon weit in der Welt herumgekommen.“

„Laufen wir den Hafen an, Sir? Oder willst du darauf verzichten?“ erkundigte sich Ben und warf einen schnellen Blick auf den Profos Carberry, der sich in Vorfreude auf bevorstehende Genüsse bereits die mächtigen Pranken rieb.

„Hier scheint jeder willkommen zu sein“, entgegnete Hasard. „Weshalb nicht auch wir? Natürlich laufen wir den Hafen an, schließlich wollen wir unsere Vorräte ergänzen.“

Er blickte zum Land, dem sie sich jetzt rasch näherten, und erkannte weitere Einzelheiten.

Eine Mole lief ein Stück ins Meer hinaus, die mit Sicherheit künstlich angelegt worden war. Man hatte große Steine transportiert und sie in das flache Wasser geworfen, bis sie einen langen Damm ergaben. Gestützt wurde das alles von einer weit ausladenden Korallenbank, die man als Mole geschickt ausgenutzt hatte.

Ein fleißiges Völkchen war hier offenbar am Werk, ein internationales höchstwahrscheinlich, und die hatten hier eine prächtige Anlage geschaffen.

Und alles ging friedlich zu. Ein Holländer hatte hier vor der Korallenbank geankert, an der Mole lag eine kleine portugiesische Galeone, weiter nach Backbord schien eine Karavelle direkt auf dem Sand zu liegen, und schließlich entdeckten sie einen arabischen Segler, eine Art Riesendau, aber von einer Bauweise, wie sie sie selbst im Mittelmeer noch nicht gesehen hatten.

 

Neben der Karavelle wurde ein neues Schiff gebaut. Es lag auf dem Trockenen, und eine Unmenge Leute war damit beschäftigt, Holz zu bearbeiten, Planken zu sägen und stabile Träger in die rechte Form zu bringen.

Männer mit weißen Turbanen werkten herum, dunkelgesichtige Männer schleppten Säcke an Bord der portugiesischen Galeone, und auch Europäer wirkten am Bau des Schiffes mit, das allerdings noch aus einem groben Gerippe bestand. Vermutlich handelte es sich um Holländer, die hier einen kleinen Stützpunkt errichtet hatten, um auf dem Weg nach Indien ihre Vorräte zu ergänzen.

Ganz weit hinten, wo sanfte Felsen anstiegen und gerade ein schauerartiger Regenguß niederging, wurde Wald gerodet. Der flackernde Schein eines leicht qualmenden Feuers war gerade noch zu erkennen. Einzelne Baumstämme hatte man bereits bis in die Nähe der Mole transportiert, wo sie neben dem Portugiesen im Wasser trieben. Wahrscheinlich war es kostbares Edelholz, das hier in stiller Eintracht von Holländern und Portugiesen gemeinsam geschlagen wurde.

Der indische Einschlag jedoch war unverkennbar und vorherrschend, denn es gab sehr viele Inder in diesem Hafen.

Die „Isabella“ segelte mit schwacher Fahrt in den Hafen. Die Leute unterbrachen ihre Arbeit und starrten das Schiff an, dessen schlanke Bauweise überall Aufsehen erregte. Auch die Masten zogen durch ihre Überlänge neugierige Blicke auf sich.

„Na, auf das Kaff bin ich schon gespannt“, sagte Ben Brighton.

„Ja, das läßt sich nicht leugnen, zumal ich nicht damit gerechnet habe“, erwiderte Hasard. „Also hinein mit der Tante. Wir legen dort drüben an der Mole an!“

Das Anlegemanöver ging in aller Ruhe vonstatten. Auf der Mole standen bunt gekleidete Leute herum, die das Schiff und die Männer anstarrten, die auf ihm fuhren. Die hier vorherrschenden Inder hatten die hellere Hautfarbe der Tamilen. Sie schienen schon vor langer Zeit hier eingewandert zu sein. Möglich, daß sie von Ceylon oder teilweise von den Malediven stammten oder sogar aus Indien selbst waren. Das ließ sich nicht mehr feststellen, und im Grunde war es unwichtig. Es war jedenfalls ein kunterbuntes Volksgemisch, und viele Seefahrer aus verschiedenen Nationen waren hier vertreten.

Ein paar Burschen mit abgewetzten Turbanen auf den Schädeln umschlichen das Schiff und belauerten die Seewölfe. Sie hatten scharfe durchdringende Blicke, wirkten ein wenig verschlagen und schienen auf irgend etwas zu lauern.

Carberry grinste sie freundlich an, und wenn der Profos freundlich grinste, dann sah er noch gefährlicher aus, als er ohnehin war. Sein narbiges Gesicht verzog sich, und sein Kinn wirkte wie ein gewaltiger Amboß. Seine drei Tage alten Bartstoppeln wirkten ebenfalls furchteinflößend, denn sie standen wie winzige scharfe Nägel in seinem Gesicht.

„Wenn ihr glaubt, hier gäb’s was zu klauen“, sagte er gemütlich, „dann versucht es nur! Aber der alte Carberry wird euch so lange auf den Turban klopfen, bis auch die letzte Laus darunter ausgestorben ist. Habt ihr das verstanden, ihr Rübenschweine?“

Ein paar grinsten ganz infam zurück, Gestalten in zerlumpten Gewändern, die vor Jahren mal weiß gewesen sein mußten. Einer von ihnen, der sich angesprochen fühlte, zog einen Krummdolch aus seinem Gürtel und reinigte sich demonstrativ die Fingernägel damit. Dabei starrte er Ed unverwandt an.

„Damit hättest du schon vor zwei Jahren beginnen sollen“, sagte Carberry. „Den Dreck schaffst du doch gar nicht mehr allein.“

Als die anderen lachten, hob der Inder seinen Dolch und zeigte damit auf seinen Hals. Dann steckte er ihn ein, warf Ed noch einen verschlagenen Blick zu und sah sich die „Isabella“ weiter an.

„Das sind Abstauber“, sagte Matt Davies. „In jedem Hafen lungern solche Kerle herum und klauen alles, was nicht angenagelt ist. Das verscheuern sie dann an die anderen Schiffe.“

Die „Isabella“ war kaum vertäut, da erlosch die allgemeine Aufmerksamkeit schon wieder, und die Arbeit ging weiter. Das war ein Zeichen dafür, daß dieser Hafen von vielen Schiffen angelaufen wurde und ein neues Schiff keine große Sensation mehr darstellte.

Nur die Inder trieben sich noch in der Nähe herum und schienen auf etwas zu warten. Sie hockten sich auf die Mole und dösten vor sich hin, aber immer wieder musterten sie aus ihren kohlschwarzen Augen das Schiff.

Lediglich vor Smoky hatten sie ganz offene Angst, denn der sah jetzt mit seinem aufgequollenen Gesicht direkt zum Fürchten aus. Immer wenn die Inder ihn sahen, wandten sie schnell den Blick ab und sahen auf die Mole hinaus.

Nach einer Weile jedoch verschwanden auch die Inder in auffallender Eile.

Schuld an ihrem rasanten Aufbruch war der Bordschimpanse Arwenack, der in den Wanten hing und gemächlich zum Großtopp hangelte.

Von dort oben in luftiger Höhe ging er einer seiner Lieblingsbeschäftigungen nach, und die bestand darin, fremde Leute, die ihm nicht gefielen, mit Kokosnüssen zu bombardieren. Es waren nur noch leere Nußhälften, aber der Effekt war aus dieser Höhe im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend.

Zielen konnte der Affe so gut wie Al Conroy mit seinen Kanonen, und nun holte er aus und feuerte die erste halbe Nuß hinunter. Sie traf den Inder, der dicht vor der „Isabella“ hockte. Der fiel vor Schreck der Länge nach auf die Mole und stieß einen lauten Schrei aus. Zum Glück dämpfte der Turban die Wucht ein wenig, aber der Inder sprang auf wie von der Tarantel gestochen und rannte schreiend davon.

Der zweite, der ihm noch verständnislos nachstarrte, wurde das nächste Opfer von Arwenack. Die Sicherheit, mit der er traf, verblüffte selbst die Seewölfe, die auf der Kuhl standen und sich die Bäuche vor Lachen hielten.

Es klang ein wenig hohl, der Inder zuckte zusammen, griff mit schmerzverzerrtem Gesicht nach seinem Turban und blickte angstvoll in die Höhe, aus der das Geschoß herangeflogen war.

Dort sah er einen zähnefletschenden Affen hocken, der sich mit seinem haarigen Arm im Want festhielt und im Begriff war, den nächsten Schuß abzufeuern.

Jetzt rannten auch die anderen davon, so schnell ihre dürren Beine sie trugen. Sie schimpften und schnatterten. Gleich darauf waren sie in der Menge verschwunden.

Arwenack keckerte laut, hopste erfreut von einer Webleine zur anderen und genoß sichtlich seinen Erfolg. Unterstützt wurde er durch den Arakanga Sir John, der laut kreischend auf der Rahnock hockte und unanständige Flüche an Deck krächzte, wie er sie im Lauf der Jahre von Carberry gelernt hatte.

Etwas später näherte sich ein Mann der Mole. Er war breit gebaut und wirkte wuchtig. Er trug eine abgewetzte Leinenhose und ein ärmelloses Hemd. Sein Haar war dunkelbraun, seine Augen grau. Er trug einen gewaltigen Schnauzbart von rötlicher Farbe, der ihm wie Sauerkraut über die Lippen wucherte.

In Höhe der Kuhl blieb er stehen, musterte das Schiff und nickte schließlich anerkennend.

„Ihr seid Engländer“, sagte er mit hartem Slang, wie ihn die Holländer sprechen, auf englisch. „Ihr seht zwar wie Spanier aus, aber die Dons bauen keine solchen ranken Schiffe. Also seid ihr Engländer.“

Hasard musterte den Mann und fand ihn sympathisch. Ehrliches, offenes Gesicht, klare Augen, ein Kerl, der wußte, was er wollte, und sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Keiner von diesen lausigen Hafenkommandanten, die sich immer so großkotzig aufspielten.

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