Zuhause wartet schon dein Henker

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Aus der Reihe: Mord und Nachschlag
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7

Ulrika hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt.

Starrte auf den Bildschirm ihres Computers und schüttelte angeekelt den Kopf.

»Geht es dir jetzt besser?«, zischte die Witwe die Absenderin der Mail an, die sich gerade geöffnet hatte. »Unfassbar, was für einen Müll ihr nach dem Verstorbenen werft! Ihr habt doch nicht einmal eine ungefähre Vorstellung von der Wirklichkeit. Wie soll ich je wieder in diesem Dorf durch die Straßen gehen, wenn ich glauben muss, dass nur solche Menschen wie du hier wohnen? Mörder und Verleumder.«

Wirst du seinen Tod feiern? Grund genug dazu hättest du allemal. Dieser Bettenspringer und Fremdschläfer! Der hat es mit allen getrieben, die sich noch auf den Rücken legen konnten! Alter egal! Als Bezahlung hat er ja keine andere Währung akzeptiert. Eigentlich dachte ich, du wirst mir leidtun – aber ganz ehrlich: Für eine Frau wie dich, die sich so ein Verhalten bieten lässt, empfinde ich nur tiefste Verachtung! Im Dorf wird gemunkelt, es könnte noch mehr Tote geben. Pass gut auf, dass du nicht eines der nächsten Opfer bist!

Verschickt ohne konkreten Absender, irgendein Fantasiename. Weiblich. Zumindest gab es diesen nicht. Diese Person musste sich also mit Rechnern immerhin so gut auskennen, dass sie das Verschleiern beherrschte. Damit fielen schon mal einige weg, die sie gern verdächtigt hätte. Ulrika hob das Glas mit zitternden Fingern an die Lippen, hörte, wie ihre Zähne gegen den Rand klapperten. Trank dann entschlossen die Hälfte des Weines in einem Zug.

Warm breitete sich der Alkohol in ihrer Mitte aus.

Die Finger erreichte das nicht, die blieben eisig, weigerten sich, über die Tastatur zu huschen, um zu erledigen, was nun anstand. Eine Mitteilung zu verfassen, eine Anzeige für die Zeitung zu entwerfen, einen Brief an Arnes Vorgeseteten zu schreiben – müde stand sie auf.

Schaltete das Licht aus.

Spätestens morgen wüssten alle, dass Arne gekreuzigt wurde.

Mit dem Glas in der Hand trat sie wieder ans Fenster.

Flackernde Lichtchen näherten sich von allen Seiten, einige standen vor dem Gartenzaun. Im ersten Moment erschrak Ulrika, dachte an die Mail, hielt es für eine neue Bedrohung aus dem Dorf – doch dann, als ihre Augen sich besser an die Schwärze gewöhnt hatten, erkannte sie eine Art Altar. Hummelgaard kam, um für den Pfarrer zu beten. Bestimmt würde sie morgen gute Wünsche lesen können, Fragen nach dem Warum und Verständnislosigkeit für den Mörder. Arne hätte es gefreut. Ulrika spülte mit einem großen Schluck die Bitterkeit hinunter, die sie beim Anblick der Gemeindemitglieder empfand. Heuchler, dachte sie, ihr widerwärtigen, kleinen Mistheuchler. Wahrscheinlich glaubt ihr, der Platz im Himmel ist schon reserviert, wenn ihr nur möglichst viele ergreifende Worte zum Tod des Pfarrers auf Karten und Zettelchen schreibt! Aber so wird es nicht sein. Arne ist nämlich keines natürlichen Todes gestorben – das ändert die Lage vollständig, ihr habt es nur noch nicht bemerkt!

Es wird nicht lange dauern, bis euch einfällt, dass ein Mörder in eurer Mitte lebt.

Dreht euch um, schaut schnell über die Schulter zurück – vielleicht pirscht er sich schon wieder an!, kreisten Ulrikas Gedanken weiter, nicht frei von Häme.

Olaf verarbeitete die neue Situation im Kreis seiner Freunde.

»Und deine Mutter hat ihn gefunden? Echt krass!« Malte versagte fast die Stimme. »Mann! Da liegt eine echte Leiche in deinem Garten und du merkst nicht mal was davon!«, grollte er dann. »Wir hätten das gern sehen wollen! Was glaubst du – wozu gibt es Mobiltelefone? Hä?«

»Es war immerhin sein Vater, hör auf!«, tönte Hiltrud schrill. »Wenn ich mir das vorstelle!«

»Ermordet. Damit hat er wohl nicht gerechnet, was? Dass ihm einer mal alles heimzahlt?« Till zischte wie ein Dampfdrucktopf.

»Nein, sicher nicht. Wir auch nicht.« Olaf wollte diese Diskussion nicht länger ertragen. Jeder, aber wirklich jeder, meinte, der Tod des Pfarrers sei überfällig gewesen. So kam es ihm zumindest vor. Er hatte das am Anfang auch so gesehen, aber inzwischen belastete der Verlust doch ein wenig seine Seele. Das Gerede über die Notwendigkeit bekam einen schalen Beigeschmack – verlor von Minute zu Minute an Berechtigung. Zorn perlte langsam in kleinen Blasen in ihm auf. »Trotzdem: Er war mein Vater. Auch Esther meinte, wir werden ihn vermissen, obwohl er ein mieser Vater war. Und ich denke, sie hat Recht. Also! Können wir das Thema lassen?«

»Willst du nicht wissen, wer es war?«, erkundigte sich Malte neugierig. »Ich meine, das Leben ist in jedem Fall endlich – aber es wäre doch mal spannend, jemanden zu treffen, der diese Endlichkeit herbeigeführt hat. Oder?«

»Um dann auch gleich ins Gras zu beißen? Wenn du den Mörder erkennst, bist du Wissender. Das wird ihm nicht gefallen und du bist sein nächstes Opfer«, gab Wolf zu bedenken.

Olaf seufzte. »Die alte Greta denkt auch, dass noch mehr Leute sterben werden. Hat sie mir vorhin erzählt, als ich aus dem Haus geschlichen bin.«

»Na ja. Die Alte hat einen Knall, der an den Urknall ranreicht. Auf deren Geschwätz kann man nichts geben.« Hiltrud machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die ist so alt, dass man sich schon fragen muss, ob sie der Typ mit der Sense schlicht vergessen hat.«

»Du meinst, bei seinem ersten Besuch hat er sie nicht angetroffen und dann versäumt, ihren Namen auf die To-do-Liste für den nächsten Tag zu übertragen?«

»Ist doch wahr. Die ist bestimmt Hundert!«

»Meiner Mutter hat sie die Zukunft weisgesagt. Und – ganz ohne Scheiß – alles ist eingetroffen.« Stellan war offensichtlich noch immer tief beeindruckt. »Die ist mit schwarzen Mächten so eng vertraut, da können wir nur von träumen!«

In der Garage hatten sich die Engel der Finsternis einen Treffpunkt eingerichtet. Maltes Großvater brauchte sie nicht mehr, seit seiner Pensionierung besaß das Ehepaar nur noch ein Auto. Die schwarzen Gestalten hatten sich um einen Holzcouchtisch versammelt. Eine Kerze spendete unruhiges Licht, ein Gewirr aus Knochen diente als Ständer. Schafsknochen – von Menschen waren keine zu kriegen. Der örtliche Bestatter passte gut auf, seit die Engel der Finsternis sich gegründet hatten. In Glastassen dampfte schwarzer Kaffee. Leise Musik im Hintergrund – sakralen Gesängen nicht unähnlich.

»Klar, ich wüsste ganz gern, wer ihn umgebracht hat«, murmelte Olaf leise.

»Du wirst ja seinen Tod nicht rächen wollen? Das wäre ja nun wirklich ziemlich scheinheilig.«

»Quatsch!«, wehrte Olaf ab. »Ich wüsste nur gern, wer sich so viel Mühe gemacht hat, ihn ›standesgemäß‹ um die Ecke zu bringen. Kopfüber am Kreuz – wie einen Verräter angebunden.«

»Irgendwie verstehe ich das alles nicht.« Till rieb sich mit Hand kräftig an der Nasenspitze. »Wieso kopfüber und tot? Hab ich da was verpeilt?«

»War er da schon tot?« Hiltrud wirkte ebenfalls verunsichert. »Echt, ich verstehe das alles auch nicht. Kopfüber?«

»Die Polizei wartet die Obduktion ab. Gewehrt hat er sich wohl nicht. Wie auch?«

»Wir werden ihn später mal in der Hölle treffen. Oder?« Zweifel waren in Hiltruds Stimme zu hören. »Oder kommen tote Pfarrer etwa automatisch in den Himmel?«

Greta saß in der Küche und starrte auf das Schmalzbrot.

Zählte die Krümel, die neben der Stulle auf dem Brettchen lagen.

25. Auch beim zwanzigsten Nachzählen.

»Soll ich – oder besser nicht?«, murmelte sie. »Es geht mich im Grunde nichts an. Ist ja nicht meine Angelegenheit.«

»Kraaah«, antwortete die zahme Dohle wenig erhellend.

»Auf der anderen Seite wird er nur auf sich aufpassen, wenn ich ihm sage, dass er es tun muss, oder?« Sie schob den Haarreifen neu in ihr weißes, schütteres Haar. Betrachtete dann ihre arthrotischen Finger. Seufzte.

Die Dohle legte den Kopf schief und musterte die alte Frau interessiert. Danach nahm sie das Brot ins Visier.

»Nein. Das ist nichts für dich. Zu fett. Reicht ja, wenn einer von uns zu dick ist.« Der zierliche Vogel hüpfte einen Schritt zur Seite. Die blauen Augen behielten die Hände und den Teller im Blick. »Er ahnt ja den Zusammenhang gar nicht. Außer mir weiß keiner Bescheid, fürchte ich. Und habe ich da nicht eine besondere Verantwortung?«

»Kraaah«, machte Gustav schlecht gelaunt.

Greta polkte ihm ein Stück Rinde von ihrem Abendessen und er stürzte sich hungrig darauf.

»Wird er mir überhaupt glauben?« Sie schob den Teller von sich weg. »Oder kommt es darauf gar nicht an? Wenn er eine Information bekommt, ist es nicht mehr meine Sache, was er damit beginnt. Schließlich ist er ein erwachsener Mann.«

Sie stand auf, räumte vorsichtshalber ihr Abendbrot in den Küchenschrank und schlurfte ins Schlafzimmer.

Gustav folgte. Sie hörte seine Krallen über den Holzboden kratzen. Er war nie begeistert, wenn er allein zurückbleiben musste. Aber mitkommen konnte er diesmal nicht.

»Gustav, das ist nichts für dich. Schau mal, ich weiß ja gar nicht, wie er es aufnehmen wird, wenn ich ihn besuche. Ich denke, ich war noch nie bei seinem Haus. Ben, du weißt schon, dein Tierarzt, hat erzählt, das gesamte Grundstück sei gesichert wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Jürg habe ihm das berichtet, als er mit einem verletzten Eichhörnchen in seiner Praxis war. Es ist ziemlich weit von hier – besser, ich nehme das Fahrrad.«

Greta schlüpfte in einen warmen Pulli und zog eine wollene Jacke darüber. Überlegte dann kurz und suchte aus einer Kiste im Schrank ihren Schal heraus. »Handschuhe brauche ich wohl noch nicht. Aber jetzt, nach dem schrecklichen Unwetter, ist es ganz sicher ziemlich kalt. Wo habe ich denn meine Stirnlampe? Es ist so duster draußen, da reicht die olle Radfunzel nicht.«

 

Gustav hupfte in die Kiste und begann, an einer Mütze zu knabbern. Die alte Frau lachte, hob ihn heraus. »Gustav, das geht nicht. Nun sei nicht so verärgert, ich bin ja bald zurück. Weißt du was, ich lasse dir den Fernseher an, wir suchen einen Tierfilm. Die magst du doch.«

Als alles geregelt war, schwang Greta sich in den Sattel und trat kräftig in die Pedale.

Während sie von zwei wackeligen Lichtpunkten eskortiert durch die Nacht quietschte, dachte sie über den Tod des Pfarrers nach. Im Ort hatte es noch nie eine solch schändliche Tat gegeben. Prügeleien kamen schon mal vor – aber bisher musste noch niemand dabei sterben.

»Tja«, murmelte sie leise, »das ist die Sache mit der Erbsünde. Wir können sie ja nicht abstreifen, sie wird von Generation zu Generation weitergegeben, der Mensch hat also gar keine Chance, wirklich gut zu sein. Zumal nicht klar ist, wie viel Gutheit es bräuchte, um die Sünde in einem Einzelnen auszuradieren, wenn das tatsächlich möglich sein sollte, was ja längst nicht ausgemacht ist. Und was ist das überhaupt: Gut? An welcher Latte messen wir es – und welche Skala wird wohl am Tag des Jüngsten Gerichts gelten? Ist es gut, Hans zu warnen – oder wird es mir dereinst zum Verhängnis werden? Nichts Genaues weiß man nicht.« Sie keckerte in die Dunkelheit, schwankte um die nächste Ecke. Das Thema ließ sie jedoch nicht los, sie grübelte weiter. »Aber die Verantwortlichkeit bleibt natürlich auf der Strecke. Wenn es ererbt ist, dass ich sündigen muss, bin ich diesem Schicksal ausgeliefert. Hoffentlich weiß das niemand, sonst sperren wir die Bösen gar nicht mehr ein – weil wir nicht bestrafen können, wen keine Schuld trifft.« Bekümmert schüttelte sie den Kopf, entschied, diesen Punkt bestenfalls im Gespräch mit Gustav zu vertiefen.

Wenig später drückte Greta das Tor zu Hanssons Grundstück auf.

Alles still. Vielleicht, überlegte die alte Frau, ist ja nicht der Hof, sondern nur das Haus gesichert. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Sie schlich zur Tür. Kein Geräusch.

So viel also zu Jürgs Gerede! Hochsicherheitsgefängnis! Pah!

Ein Blick zum Stall – nur die Notbeleuchtung. Dort war er also auch nicht.

Vielleicht ist er mit den Hunden unterwegs, überlegte sie, die brauchen bestimmt Auslauf.

Solch große, lebenslustige Tiere wie seine nahmen es sicher übel, den ganzen Tag eingesperrt zu sein.

Sie beschloss, ihm eine Nachricht zu hinterlassen.

»Hallo Hans, sei auf der Hut. Arne war nicht das einzige, nur das erste Opfer! Ich bin sicher, du bist der Nächste, der sterben muss!«

Dann machte sie sich auf den Heimweg.

Erst als sie mit Gustav auf der Couch saß, mit der Dohle ein bisschen Gemüse und Obst teilte, fiel ihr ein, dass sie die Nachricht besser unterschrieben hätte. So klang der Text ja im Grunde wie ein Drohbrief.

»Oje, Gustav, da habe ich wohl einen Fehler gemacht. Der arme Hans wird annehmen, der Mörder sei schon bei seinem Haus gewesen und habe ihn bloß um Haaresbreite verpasst. Das werde ich gleich morgen in Ordnung bringen müssen!«

Gustav knabberte am Ohr der alten Frau, zwickte gelegentlich auch ein bisschen unsanft. Heute war es Greta egal.

8

Magda Lundquist saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und träumte.

Das Leben der kleinen Familie hatte sich nach dem Einzug des Hundes, den Lisa und sie ertrotzt hatten, deutlich verändert. Der Kleine war ein wahrer Wildfang, immer für eine Überraschung gut, noch immer unwiderstehlich süß und er hatte die von Sven befürchtete Doggengröße nicht erreicht. Sie schmunzelte, während ihre Hand über sein seidiges Fell strich. Besonders Lisa hatte unglaublich von dem Tier profitiert.

Sie traute sich plötzlich, Menschen anzusprechen, hatte ihre Scheu vor Fremden abgelegt, kam leicht ins Gespräch mit Gleichaltrigen. Ein Hund als Kontaktanbahner. Wie wunderbar einfach das jetzt plötzlich ging. Und Lisa blühte auf. Mit dem Hund an ihrer Seite fühlte sie sich sicher.

Mit der Lisa, die nach dem Tod der Mutter verschreckt und unsicher geworden war, hatte das Mädchen nicht mehr viel gemein. Magda seufzte glücklich, kraulte den Hundling zwischen den Ohren, wurde mit einem zufriedenen Grunzen belohnt.

Das Telefon störte die Gemütlichkeit.

Zwei spitze Ohren drehten sich aufgeregt hin und her, große Knopfaugen sahen sie an.

»Ist schon gut. Kein Grund zur Sorge. Der Herr des Hauses ruft an.«

Mit einem lauten Seufzer legte der Kleine den Kopf wieder in Magdas Schoß zurück, als habe er ihre Worte verstanden.

»Wir haben einen neuen Fall. In Hummelgaard wurde der Pfarrer ermordet. Ich werde es nicht so bald nach Hause schaffen.«

»Oh, das ist wirklich schade. Wir haben es nämlich sehr gemütlich hier. Trocken, warm und kuschlig«, kicherte Magda. »Lisa kommt sicher auch gleich. Sie ist noch schnell zu deiner Mutter rübergelaufen, bringt ihr die Einkäufe vorbei, die wir für sie erledigt haben.«

»Wir haben es da nicht so angenehm. Im Unwetter standen wir neben einer Leiche. Inzwischen sind wir weitgehend getrocknet, aber eben nur unvollständig.«

»Jammern hilft nicht«, erklärte die Ehefrau nüchtern. »Du hast bestimmt irgendetwas falsch verstanden. Pfarrer werden nicht ermordet. Sie sind allseits beliebt und sterben hochbetagt eines natürlichen Todes!«

»Nun, wenn man jemandem einen geeigneten Gegenstand ins Herz stößt, stirbt er natürlich. Ob hochbetagt oder nicht«, räumte Lundquist ein.

»Hm. Lösen Pfarrersfamilien interne Konflikte nicht eher gewaltfrei?«

»Vielleicht ist es gar kein innerfamiliärer Konflikt gewesen, der zu seinem Tod geführt hat! Typisch. Du denkst natürlich gleich wieder an die mordende Ehefrau. Ist doch seltsam, dass ihr von eurem Geschlecht immer nur das Schlimmste annehmt«, ging er auf ihren leichten Konversationston ein, wurde dann aber wieder ernst. »Wir wissen noch nicht, wo wir den Täter suchen müssen. Bisher habe ich den Eindruck, größtenteils angelogen worden zu sein. Die einen erzählen uns, der Pfarrer gehörte zu den Guten, war vertrauenswürdig. Die anderen sind gar nicht gut auf ihn zu sprechen. Einige meinen gar, es wurde Zeit, dass ihn jemand aus dem Weg geräumt hat. In den Nachrichten bringen sie ganz bestimmt schon etwas über den Mord.«

»Du Ärmster. Ich bereite dir was Mikrowellentaugliches zum Essen vor. Dann kannst du es dir noch schnell heiß machen, wenn du nach Hause kommst.« Das Bedauern in ihrer Stimme tat ihm gut. Sie vermisste ihn. »Klingt nach einer schlaflosen Nacht für euch. Alles etwas komplizierter?«

»Bisher stochern wir nur. Aber: Verlass dich nicht darauf, dass der Platz neben dir frei bleibt! Und: Der Hund schläft nicht in meinem Bett!«, mahnte Sven und schickte zwei Küsse durch die Leitung. Für jede seiner Frauen einen. Der Fellträger ging leer aus.

Lars warf seinem Freund einen forschenden Blick zu.

»Und jetzt?«

»Clemens nannte uns den Namen Solveigh und auch Astrid erwähnte diese Frau vorhin. Vielleicht fahren wir bei ihr vorbei und erkundigen uns nach ihrem Verhältnis zu Arne. Clemens beschrieb sie als Künstlerin mit Macken. Eine schwierige Persönlichkeit. Möglicherweise kam der Pfarrer mit Menschen, die nicht der gängigen Norm entsprechen, besser aus als mit den übrigen Gemeindemitgliedern. Und immerhin kannte sie Arne näher.«

»Solveigh Lind. Die Künstlerin mit Ausstellungen hier in der Gegend. Gut, na dann.«

Lars wirkte gereizt.

Sven konnte im Schein der Straßenbeleuchtung erkennen, dass seine Kiefer mahlten. Wahrscheinlich war Gitte nicht begeistert davon gewesen, den Abend mit dem Nachwuchs allein verbringen zu müssen. Magda reagierte auch nicht immer verständnisvoll.

»Ärger?«

»Du nicht?«, fauchte Lars zurück.

»Diesmal nicht. Bei dir?«

»Jede Menge. Gitte war so unglaublich sauer. Sie war für heute mit einer Freundin verabredet. Die beiden wollten Party machen und ich sollte auf den Kleinen aufpassen. Eine ehemalige Klassenkameradin von ihr, die inzwischen in den USA verheiratet ist. Sie waren wohl früher beste Freundinnen. Harriets Mann ist wegen eines Kongresses in München, da wollte sie die Chance nutzen, und ihre alten Freunde sehen. Gut, das ist nun gecancelt. Aber diese Freundin, Harriet Cloney, ist nur heute in der Stadt, morgen bricht sie früh nach München auf, trifft sich mit ihrem Mann. Von dort aus fliegt das wiedervereinte Paar dann in Urlaub. Dieser Zwischenstopp in Göteborg fand überhaupt nur statt, weil sie Gitte zu ihrem Geburtstag treffen wollte. Harriet wird dreißig. Nun gibt es ein ruhiges Glas Wein, damit der Kleine nicht aufwacht, und ein paar Häppchen bei uns, danach wird Harriet allein die anderen Freunde treffen, Gitte ist außen vor. Harriet ist gekommen, um zu feiern und das zieht sie auch durch. Du weißt schon: Dreißig, die magische Grenze. Kurz vor dem Eintritt ins Greisenalter. Entsprechend groß ist der Ärger!«

»Mist! Du könntest nach Hause fahren und ich mache hier allein weiter. Es ist besser, sowas schnell zu glätten. Bei Frauen brennt sich eine Enttäuschung manchmal regelrecht ein.«

»Nein.«

Schweigen.

»Dort ist es!« Lundquist zeigte auf einen kleinen dunklen Schatten am Horizont.

»Ist es notwendig, so einsam zu wohnen, wenn man Kunstwerke erschaffen möchte? Sie lebt allein, oder?«

»Ich weiß es nicht. Clemens hat jedenfalls von einem Partner nichts erzählt. Und vielleicht braucht sie tatsächlich eine gewisse Einsamkeit für die kreative Umsetzung ihrer Ideen. Wäre doch denkbar.«

»Schon. Ich kenne ein paar Bildhauer, die weit weg vom Trubel leben. Männer. Allesamt.«

Sven grinste. Er verstand.

Auf den Riesen Lars wirkten Frauen grundsätzlich wehrlos und schutzbedürftig.

Solveigh Lind hatte ihre besten Jahre bereits seit einiger Zeit hinter sich.

Darüber konnte weder die stahlblaue Farbe ihrer Haare noch der ausgefallene Schnitt oder die extravagante Kleidung hinwegtäuschen. Ihre exaltierten Bewegungen sollten Jugendlichkeit und feuriges Temperament vortäuschen, wirkten an der Matrone allerdings lästig und aufgesetzt.

Selbstbewusst und exzentrisch zeigte sie deutlich, was sie von einer Störung um diese Uhrzeit hielt und Besuch nach Mitternacht zu akzeptieren nicht bereit war. Polizei Göteborg hin oder her, sei es nun ein Mordfall oder nicht.

Lundquist blieb hartleibig. »Nein, wir werden nicht einfach wieder gehen. Und nein, es hat nicht Zeit bis morgen. Pfarrer Arne Mommsen wurde ermordet!«

Vielleicht wurde sie unter dem Zuviel an Rouge und Makeup eine Spur blasser. Sicher ließ sich das im diffusen Licht der Kerzen nicht beurteilen. Solveigh Lind lehnte elektrisches Licht ab – nur vor ihrem Hauseingang pendelte eine helle Lampe im Wind.

»Kerzen sind viel angenehmer. Bei mir taucht sich selbst der Winter in einen warmen, flammenden Schein.«

Immerhin durften die beiden Ermittler nach dieser Eröffnung eintreten.

»Pfarrer Mommsen und du wart gut miteinander bekannt, nicht wahr?«

»Arne, ja, das stimmt. Uns verband seit vielen Jahren mehr als eine flüchtige Bekanntschaft. Wir waren uns sehr zugetan.« Sie lauschte ihren Worten nach und ergänzte nach einer wirkungsvollen Pause: »Rein platonisch versteht sich. Ich bin an sexuellen Dingen nicht interessiert. Sex beeinträchtigt das kreative Geschick des Künstlers, lässt alles Zarte verblassen, das Grobe gewinnt die Oberhand. Das will ich nicht zulassen. Meine Kunst ausleben zu können, ist mir das größte Geschenk.« Dabei breitete sie melodramatisch ihre Arme aus, nötigte so die beiden Besucher, den Blick auf die Wände zu richten, an denen Bilder, Fotos und Objekte hingen.

»Wann hast du Arne zum letzten Mal gesehen?«, fragte Lars gänzlich unbeeindruckt und Solveigh schob trotzig die knallig rote Unterlippe vor.

»Das kann ich gar nicht so genau sagen.« Sie legte in nachdenklicher Pose eine Hand an die Stirn. »Vor zwei Wochen etwa. Er rief an, wollte mich sehen und kam vorbei. Er brachte einen süffigen Rotwein mit und wir tranken gemeinsam. Dabei erzählte er mir von Esther. Seine Tochter hatte ganz offensichtlich Probleme, wollte aber nicht darüber sprechen. Wir überlegten, was er tun könne, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Danach fuhr er wieder nach Hause.« Solveigh berichtete bar jeder Emotion.

»Hat er auch über sich selbst gesprochen? Über Schwierigkeiten oder Ärger mit jemandem?«, hakte Lars nach.

»Du meinst außer seiner Brut?«, fragte die Künstlerin spitz zurück und verzog die Lippen zu einem hämischen Grinsen. »Nein. Sonst wohl mit niemandem. Gelegentlich gab es mal Diskussionen mit Hans. Nichts, was man ernst nehmen musste.« Sie musterte die Gesichter der Ermittler. »Das wisst ihr also schon. Hätte ich mir ja denken können, dass der Klatsch bestens funktioniert. Und natürlich gab es auch immer mal einen Unzufriedenen in der Gemeinde. Entweder gefiel der Rat nicht – oder die Kiste rauschte trotz des Rats von Arne gegen den Baum. Gleichgültig was er tat, am Ende machte man ihn für Schaden oder Misserfolg verantwortlich.«

 

Sie lehnte sich mit einem lauten Seufzen gegen die Wand, als suche sie Halt.

Lundquist bemerkte erst jetzt, dass sie neben einem farblich zu ihrer Garderobe passenden Werk gestanden hatte, Künstlerin und Kunst verschmolzen so zu einer Einheit. Du liebe Güte, dachte er genervt, an dieser Frau ist aber auch gar nichts echt! Jede Geste eine Pose.

»Aber ein Pfarrer ist eben nicht Gott!«, rief Solveigh mit anklagender Stimme. »Er kann deshalb den Bittstellern auch nicht das eigene Denken abnehmen! Und nun musste er deshalb sterben!«

»Du meinst, einen Tipp kann man annehmen oder auch nicht. So etwas Ähnliches haben wir heute schon mehrfach gehört«, murmelte Sven, trat näher an eines der Objekte heran. Betrachtete es interessiert. Ein blaues Fischernetz, in dem sich Gesichter verfangen hatten.

»Ja, genau. Man kann frei entscheiden.«

»Diese Menschen hier auf den Bildern – schlafen die?«

»Ja, das tun sie tatsächlich. Der kleine Bruder des Todes. Es sind Schnappschüsse, die ich am Strand, am Ufer des Götakanals oder in einem Park gemacht habe. Menschen schlafen an den unglaublichsten Orten. Leider kann man sie nicht überall fotografieren. Im Theater zum Beispiel. Da würde mein Blitzlicht doch erheblich stören. Und mit langer Belichtungszeit ohne Blitz wird das Bild dann wegen der Unschärfe für meine Zwecke unbrauchbar.«

»Manche müssen sehr tief geschlafen haben. Wirken fast, als seien sie tot.«

»In der Tiefschlafphase kann ein Gesicht schon mal diesen Eindruck erwecken.« Solveighs gut einstudierter Ton hatte urplötzlich eine überraschende Schärfe. »Wie gesagt, der kleine Bruder des Todes. Manche Leute schlafen so tief, dass sie gar nichts von dem mitbekommen, was um sie herum vorgeht.«

Lundquist nickte verstehend.

Seine Tochter konnte man ins Auto tragen, anschnallen und hunderte Kilometer weit durchs Land kutschieren, ohne dass sie aufwachte.

»Wie wurde er denn getötet?«, stellte die Künstlerin nun endlich die Frage, die Sven gleich zu Beginn des Gesprächs erwartet hätte.

»Wir haben ihn in seinem Garten entdeckt. Besser gesagt: Seine Frau hat ihn im Garten gefunden und uns verständigt.«

»Im Garten? Arne hat sich nie für Gartenarbeit interessiert. Hat er seiner Frau überlassen. Sagt nicht die Art eines Mordes etwas über den Täter aus? Gift zum Beispiel. Die Waffe der Frau oder eines Täters, der zum Zeitpunkt des Sterbens seines Opfers auf gar keinen Fall in der Nähe sein möchte? Weil er nicht Zeuge des Todes werden will, oder ein Alibi sichern muss.«

»In manchen Fällen trifft das ganz sicher zu. In anderen nicht. Aber bei Arne hat der Täter ganz spezielle Arrangements getroffen. Wir sind noch dabei, die Zeichen zu entschlüsseln.«

»Oh. Ein Rätsel also! Spricht das nicht für einen besonders intelligenten Täter?« Solveigh bedachte Sven mit einem spektakulären Augenaufschlag unter falschen Wimpern. »Dann kann der Mörder nicht aus Hummelgaard stammen!«, schob sie abfällig nach.

Lundquist beschloss, das nicht zu kommentieren. »Wir haben gehört, dass Arne dich besonders tatkräftig unterstützt hat«, wechselte er stattdessen das Thema.

»Das ist wahr. Ja. Die Leute in Hummelgaard haben kein Verständnis für die Kunst und die Bedürfnisse jener, die sie schaffen. Arne war hartnäckig. Nach einiger Zeit wurden die Hummelgaarder zugewandter. Sie sahen, dass ich meine Rechnungen bezahlen konnte – das war wohl die Hauptsache.«

»Brotlose Kunst?«, warf Lars ein.

»So in der Art. Inzwischen wissen sie aber, dass für meine Werke hohe Summen gezahlt werden. Arne hat dafür gesorgt, dass es publik wurde, wenn ich ein Bild oder ein Objekt verkauft habe. Im Internet kann man das natürlich auch sehen. Und es gibt tatsächlich ein paar wenige User an diesem gottverlassenen Ort!« Ein geringschäteiger, angewiderter Ausdruck entstellte für Sekundenbruchteile ihr Gesicht – dann verzog er sich so schnell und gründlich, als wäre er nie dagewesen.

»Und dein Verhältnis zu Arne? Entspannt?«

»Ja. Wahrscheinlich trifft entspannt genau ins Schwarze. Wir waren uns gegenseitig wichtig, haben uns auch über Privates ausgetauscht, immer Kontakt gehalten. Er hat dafür gesorgt, dass man in diesem Ort begriffen hat, wer ich bin. Das war schwer genug. Und er war stets an meiner Seite, wenn Probleme ins Haus standen. Tatsächlich weiß ich nicht, was jetzt ohne ihn werden soll.«

»Wer käme deiner Meinung nach als Mörder in Betracht?«, wollte Knyst wissen.

»Niemand. Das ist eine so unglaubliche Tat, die traue ich niemandem zu.« Ihr großer Busen wogte vor Empörung, drohte das Dekolletee zu sprengen. »Arne war kräftig. Er konnte sich wehren. Er muss also völlig arglos gewesen sein, sonst wäre es niemandem möglich gewesen, ihn zu überrumpeln.«

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