Spreewaldkohle

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7

Eric trällerte fröhlich.

Er war schon immer ein großer Fan von Queen.

Eigentlich seit dem Moment, in dem er zum ersten Mal Musik bewusst gehört hatte.

Deshalb lief bei ihm grundsätzlich den ganzen Tag über gute Musik seiner Lieblingsband – nicht dieses seichte Gedudel, auf das seine Schwägerin so stand. Klar, sphärisch war seltsam entspannend. Aber die Musik von Queen war eine mit Anspruch! Einem echten Anliegen! Musik ohne Text war seiner Meinung nach eben nur Musik. Die Aussage Interpretationssache. Wie schon bei den klassischen Stücken, Sinfonien, Fugen, Tänzen. Der Hörer brauchte eine schriftliche Begleitanalyse, um sie herauszufiltern.

Queen dagegen: deutlich, kraftvoll, unmissverständlich.

So wie Erics eigene Texte.

Freddy sah das genauso.

Er wippte im Rhythmus mit, machte einen sehr zufriedenen Eindruck.

Eric schnippelte Gemüse und Obst fürs zweite Frühstück.

Eine Tradition, die ihnen beiden gefiel. Und gesund war das Ganze auch.

Als er am Fenster vorbeikam, spiegelte sich sein Gesicht in der Scheibe, und er zuckte unwillkürlich zurück.

Ja, dieses Gesicht war gewöhnungsbedürftig.

Schon in der Schule hatte es ihm nur Probleme und Hänseleien eingebracht. Prügel auf dem Heimweg waren normal.

Heute würde man sagen er sei gemobbt worden.

Die eine Hälfte des Gesichts hatte nichts mit der anderen gemein. Während die rechte ganz passabel aussah, war die linke gröber, sprang hervor. Das Auge auf dieser Seite war glubschig, quoll dem Betrachter entgegen, weit aufgerissen, als sei das Oberlid zu kurz, um es zu bedecken. Und die Pupille war fehlfarben. Also zumindest dann, wenn man davon ausging, dass zwei Augen in einem Gesicht dieselbe Farbe haben sollten. Das normale Auge war blau, das glubschige fast orange und es starrte selbst Eric aus spiegelnden Flächen an wie das Auge eines Fremden, das sich in sein Leben biss und darin herumspionierte, sich an seinen Fehlern ergötzte und triumphierte, wenn etwas gründlich misslang. Früher hatte er versucht, es mit einer Tolle zu verdecken. Doch das war sinnlos. Er spürte sein Starren zu jeder Zeit, durch die Locken, durch eine tiefgezogene Mütze, durch eine Augenklappe. Es war ein Alien in seinem Körper.

Schnell sah er zur Seite.

Diesem Blick konnte niemand lange standhalten.

Nur Freddy hatte kein Problem damit.

Als es klingelte, warfen sie sich einen schnellen Blick zu, Eric legte seinen Zeigefinger über die Lippen, Freddy nickte verstehend, und so beschlossen die beiden, dass sie nicht zu Hause waren. Störungen um diese heilige Zeit des Tages waren unerwünscht.

Wenn man etwas Wichtiges von ihnen wollte, würde der Klingler sich später noch einmal herbemühen müssen.

Nach schnellem Seitenblick, der ihr gegenseitiges Einverständnis besiegelte, schnitt Eric ein Stück Birne klein.

Damit war die Angelegenheit beendet.

Waren die beiden überzeugt.

Doch unerwartet fiel ein spektakulärer Schatten auf den Tisch!

Erschrocken wandten Eric und Freddy sich zur Terrasse um.

Erstarrten!

Dort stand ein riesiger schwarzer Mann!

8

Fabian Klapproth, Majas Bruder, besprach mit seinem Freund und Betreuer die letzten Details ihres Ausflugs.

»Und was genau ist dieser Drehpunkt Göritz?«

»Eine Art Wendepunkt für die großen Bagger in der Kohle. Um diesen Punkt herum drehten sich die riesigen Kohleförderanlagen. Im Grunde ist es ein Industriedenkmal. Es wird als Restaurant betrieben, man kann die Räume für Feierlichkeiten oder Vorträge mieten.«

»Wie heute Abend! Ich bin schon sehr gespannt. Es werden Welten aufeinanderprallen – und erfahrungsgemäß geht das nicht ohne Beschädigungen auf allen Seiten ab.« Fabian rieb sich erwartungsfroh die Hände. »Menschengucken! Wunderbar!«

»Ein Informations- und Diskussionsabend zum Thema ›Wölfe in der Lausitz‹. Verspricht knisternd zu werden. Aber du musst mir versprechen, dass wir gehen, bevor der ganze Saal explodiert. Sonst fahren wir besser nicht hin.« Das klang ehrlich besorgt.

Fabian war kein Freund solcher Festlegungen. »Ich sitze im Rollstuhl! Mein Bewegungsradius ist eingeschränkt. Und jetzt soll ich schon im Vorfeld der Informationsveranstaltung meine ohnehin sehr überschaubare Freiheit beschneiden und sagen, okay, wenn die Lautstärke Punkt 6 auf deiner Skala überschreitet, gehen wir auf jeden Fall? Dann kriege ich nicht mit, was sie besprechen, nachdem sie sich abgekühlt haben!«

»Wenn wir in eine Wirtshausschlägerei geraten, haben wir beide schlechte Karten«, mahnte der andere, grinste aber breit. »Wir schau’n mal, wie sich das Ganze entwickelt.«

»Die wollen sicher Druck machen, um den Wolf abschießen zu dürfen. In der Lausitzer Rundschau war neulich ein toller Artikel zu dem Themenkomplex.«

»Ja, genau. Da hat man in einem Artikel mal wichtige Details zusammengefasst. Und dabei wurde eben auch deutlich, dass die Wölfe durch potente Zäune gut von den Herden ferngehalten werden können. Man muss sie halt nur aufbauen! Und die Zahlung der Entschädigungen funktioniert auch reibungslos, wenn doch mal einer in eine Herde eindringen kann. Im Grunde verstehe ich die Aufregung gar nicht.«

Fabian griff zu seinem Handy. »Na, daran wird der heutige Abend etwas ändern. Wir müssen nur gut zuhören, dann begreifen wir besser, worum sich der ganze Wolfs-Zoff dreht. Muss aber die große Schwester informieren. Wenn sie uns nicht zu Hause antrifft, wird sie gleich wieder nervös. Im schlimmsten Fall telefoniert sie hinter uns her!«

9

Freddy ruckte aufgeregt mit dem Kopf, als der Riese gegen die Scheibe klopfte.

Totstellen war zwecklos.

Misstrauisch trat Eric an die gläserne Wand.

Der große Mann drückte einen Ausweis von außen dagegen, wartete geduldig, bis der andere alles entziffert hatte.

Zögernd schob Eric die Tür auf. »Was zum Henker will die Kriminalpolizei von uns?«

»Wir«, damit deutete Nachtigall auf die Kollegin, die urplötzlich hinter ihm aufgetaucht war, »möchten Ihnen ein paar Fragen zu Patrick Stein, Ihrem Nachbarn, stellen.«

Eric ließ die beiden eintreten.

»Aha. Ich denke, der ist verschwunden, oder?«

»Sie pflegen einen gutnachbarschaftlichen Kontakt?«, bohrte Nachtigall tiefer.

»Wie es halt mit Nachbarn so ist. Man kennt sich, und auch wieder nicht. Hinter die Stirn der anderen kann man nun mal nicht gucken – also muss man glauben, was man hört.«

»Er war Ihnen suspekt«, konstatierte Klapproth und versuchte, nonverbalen Kontakt zu Freddy aufzunehmen. Doch der war mindestens ebenso zurückhaltend wie sein Mitbewohner. »Brüder sind eben auch nur andere oder gar vollkommen fremde Menschen.«

Eric sah erstaunt auf. »Genau. Die meisten Leute verstehen das nicht. Nur, weil man zufällig verwandt ist, muss man sich doch nicht automatisch sympathisch sein! Wir haben uns unsere familiäre Beziehung schließlich nicht ausgesucht. Wurden nicht gefragt, hatten kein Mitspracherecht.« Er kniff die Augen zusammen, ein frettchenhafter Ausdruck flog über sein Gesicht. »Ha! Sie haben auch eine schwierige Geschwisterbeziehung!«

»Dennoch war das Verhältnis zu ihm und seiner Familie entspannt?« Nachtigall ließ nicht locker.

Eric wand sich sichtbar. Brachte eine Armlänge Abstand zwischen sich und die Arbeitsplatte, um genug Raum zu gewinnen.

»Nein, das so zu behaupten, wäre ein großer Fehler. Lyriker. Ein Mann, der sonderbare Texte schreibt. Doreen konnte mich vom ersten Blick an nicht leiden – die Kinder halten mich für einen harmlosen Spinner und bleiben auf Distanz, weil man bei Typen wie mir ja nie genau weiß …« Er lachte bitter. »Die halten mich für gaga.«

»War Patrick gestern Abend bei Ihnen?«

»Gestern nicht.«

»Wissen Sie das genau?« Klapproth behielt fasziniert Freddy im Blick.

»Ja. Selbstverständlich bin ich mir in diesem Punkt sicher, ich mag sonderbar sein, aber nicht dement. Ich dachte, wir könnten uns ein bisschen unterhalten. Politik, Alltag. Patrick war, äh ist kein Freund meiner Arbeit, nur ein genetischer Bruder. Schicksal eben. Freddy und ich haben eine ganze Weile auf ihn gewartet. Irgendwann war klar, dass er Laufen gegangen sein musste. Na, und viel später rief Doreen an, fragte nach, ob er bei mir sei, ich ihn gesprochen hätte. Knapp und unfreundlich. Wie immer eben.« Er hob die geöffneten Handflächen in Richtung Decke.

»Gern bekommen Sie nicht Besuch«, stellte Maja Klapproth trocken fest.

»Wir bleiben lieber unter uns, Freddy und ich. Wir sind uns selbst genug.«

»Gab es jemanden, mit dem Patrick enger befreundet war?«

»Das hoffe ich sehr für ihn! Jeder Mensch braucht einen Artgenossen, einen Seelenverwandten, mit dem er sich offen über alles austauschen kann. Doreen kam dafür nicht in Betracht, und ich bin für manche Themengebiete ein zu unerfahrener Gesprächspartner oder gar Ratgeber. Er muss eine Vertrauensperson gehabt haben.«

»Wie bei Ihnen und Freddy?«

»Ähnlich! Ja. Besonders dann, wenn man mit Doreen verheiratet ist.«

»Aber einen Namen haben Sie nicht für uns?«

Bedauernd hob Eric die Schulter.

»Haben Sie ihn noch nicht gefunden? Patrick ist keiner, der Unordnung in seinem Leben dulden kann. Es wäre absolut untypisch für ihn, einfach durchzubrennen.«

»Es entspräche nicht seinem Charakter? Soll ich das so verstehen, dass er Konflikten nicht ausweicht, sondern die Situation klärt?«, wollte Nachtigall wissen.

»Ja. So in der Art.«

Sprachlosigkeit zog ein.

 

Dehnte sich zu gefühlter Unendlichkeit.

»Okay«, seufzte Eric schließlich, als fürchte er, auf Dauer ohne Stimme zu bleiben. »Er hätte wenigstens mich eingeweiht, wenn er plante, die Familie zu verlassen. Um genau so eine Situation wie diese zu vermeiden!«, erklärte er unnötig laut, was ihm einen missmutigen Seitenblick von Freddy eintrug. »Er ist kein Freund von Unklarheiten. Seine Tage sind eng getaktet, perfekt durchstrukturiert. Er funktioniert wie ein Uhrwerk, nennt es Disziplin im Alltag. In Wahrheit verbirgt er dahinter nur seine Panik vor Überraschungen, Dingen, auf die man eine spontane, gute Antwort geben muss. So was war ihm von jeher verhasst.«

»Wussten Sie von den Morddrohungen?«, wechselte Klapproth ansatzlos das Thema.

»Ja. Drohmails und so ein krudes Zeug. Er hat mir davon erzählt.«

»Diese Drohungen – ob nun per Mail oder Post – haben ihn doch sicher verunsichert.« Nachtigall warf Maja einen warnenden Blick zu, der immerhin bewirkte, dass sie die Antwort des Bruders abwartete.

»Nun, wen würde so etwas nicht beschäftigen? Aber wirklich besorgt war Patrick nicht deswegen. Er meinte, er sei schließlich kein Einzelfall. Viele Politiker bekämen solche Mails. Er wollte sich nicht einmal an die Polizei wenden! Das verschaffe dem Absender nur eine Bühne, die er nicht verdiene.« Man konnte deutlich sehen, dass Eric diese Auffassung nicht teilte. Eine ungesunde Röte breitete sich über Hals und Wangen aus.

»Hat er Ihnen gegenüber mal geäußert, wen er als Absender vermutet?« Nachtigall zögerte einen Moment und schob schließlich eine »Kurzfassung« seiner Frage nach. »Hat der ›Feind‹ einen Namen?«

»Direkt nicht. Sie wissen ja, die Absender sind lauter Fakenames. Heute schreibt keiner mehr Heinz Schulz, Hopfenweg unter solch einen Text.«

»Ja, das ist sicher wahr. Aber er wird doch eine Vermutung gehabt haben.« Nachtigall zeigte sich hartleibig.

»Aktivisten einer selbst ernannten Umweltschutzorganisation, denen die Sache mit dem Kohleausstieg zu lange dauert, Autofahrer, die seiner Partei die CO2-Bepreisung übel nehmen, Menschen, die ohne Scham in Urlaub fliegen wollen, eine Kreuzfahrt genießen möchten – ohne ständig mit der Nase in den eigenen CO2-Abdruck gestoßen zu werden. Es gibt Menschen, die ihr Auto nicht gegen ein Fahrrad tauschen wollen. Einige können es auch gar nicht. Wir leben in einer politisch gewollten Mobilitätsgesellschaft. Daran haben wir uns gewöhnt. Nun soll sich an der Art der Mobilität vieles ändern. Das wird nicht von jetzt auf gleich gelingen, manche möchten ihren alten Trott gern beibehalten, andere freuen sich über invasive Maßnahmen zum Klimaschutz.« Eric räusperte sich, zuckte mit den Schultern. »Und wir haben noch immer keine Klarheit über die Maßnahmen, die im Rahmen des Ausstiegs getroffen werden sollen. Wer bekommt wie viel Geld und wofür? Das verunsichert die Menschen. Viele befürchten, die finanzielle Förderung des Ausstiegs würde nur in den Kassen der großen Konzerne verschwinden, die sich damit gesundstoßen. Die Angst grassiert, der kleine Mann sei am Ende mal wieder der Dumme. Unzufriedene gibt es auf allen Seiten.« Eric musterte den Cottbuser Hauptkommissar nachdenklich. »Mein Bruder wurde entführt?«

»Nein.« Der Cottbuser Hauptkommissar atmete tief durch. »Es tut uns sehr leid, aber wir haben vor wenigen Stunden seine Leiche aus dem Tagebau geborgen.« Nachtigall wartete still, bis diese Nachricht das Denken des jungen Mannes erreicht hatte. Setzte dann nach. »Wir müssen von einem Tötungsdelikt ausgehen.«

»Tot?« Eric schüttelte den Kopf. »Doch nicht Patrick. Sterben gehörte sicher nicht zu seiner aktuellen Planung der Woche!«

10

»Fahren wir zum Büro der Partei. Vielleicht kann uns dort jemand mehr über das Opfer erzählen als nur: Er war ordentlich, gewissenhaft und bestens organisiert.« Nachtigall konnte man den Ärger deutlich anhören. »Ist doch ziemlich traurig, wenn nach dem Tod eines Menschen nur solche Aussagen getroffen werden können. Unpersönlich, seltsam losgelöst von Persönlichkeit und gelebtem Alltag. Wenn ich sterbe, würde ich mir jedenfalls wünschen, dass man mehr über mich zu sagen weiß als: Er war ein guter Ermittler.«

Maja nickte. »Ich verstehe, was du meinst. Patrick Stein wird reduziert auf sein politisches Engagement und seine beruflichen Angelegenheiten. Vom privaten Patrick haben weder seine Frau noch sein Bruder ein Wort erwähnt. Bisher ist er ziemlich konturlos.«

»Nun, das werden wir jetzt ändern!«

»Ach, Mist!« Maja zuckte erschrocken zusammen, hieb sich mit der Faust auf den Oberschenkel. »Beinahe hätte ich den Termin bei den Kollegen versäumt. Wenn du mich bitte am Büro absetzen würdest … Mit ein bisschen Glück ist die Sache nach diesem Gespräch endlich vom Tisch.«

»Deine Zeugenaussage in dem Doppelmord am Gräbendorfer See? Gut. Dann setze ich dich ab und fahre zum Parteibüro.«

Maja rutschte auf dem Besucherstuhl hin und her.

Wenn du nicht die Kontrolle verlieren möchtest, wirst du dich am Riemen reißen müssen, meldete sich ihre innere Stimme mahnend. Dennoch wurden ihre Hände feucht.

Sie wischte die Innenflächen an ihrer Jeans ab.

Sinnlos.

Energische Schritte näherten sich über den Gang.

Majas Puls beschleunigte sich, ihre Atemfrequenz stieg.

Das ist lächerlich, wusste ihr Denken.

Abschalten ließ sich das Reaktionsmuster dennoch nicht.

Sie saß schlicht auf der falschen Seite des Tisches!

Ein hartes Klopfen an der Tür, die unmittelbar danach aufgerissen wurde.

»Hallo, Maja. Schön, dass du es geschafft hast zu kommen. Immerhin steckt ihr ja auch gerade in einer brenzligen Mordermittlung.«

Der junge Kollege nickte ihr zu.

Einen Handschlag wollte er nicht, würde also auch ihre schweißigen Hände nicht bemerken. Offensichtlich war der Kollege ihr gegenüber nicht misstrauisch oder verzichtete generell auf wichtige Informationen über seine geladenen Gesprächspartner. Feuchte Hände und schneller Puls … sollten einen Ermittler interessieren.

»Ich will dir nicht sinnlos deine Zeit rauben. Es geht um ein paar Fragen am Rande der Ermittlung, die wir als beantwortet abhaken möchten.«

Maja nickte zurückhaltend. »Mich beschäftigt die Sache auch«, räumte sie ein.

»Kann ich mir vorstellen. Passiert nicht alle Tage, dass man als Ermittler so unmittelbar in einen Fall verwickelt wird.«

Mitgefühl schwang unter den Worten Jannik Peters hörbar mit.

»Nun, wir wissen, dass der Täter die beiden Opfer als Paar auf dem Dach dieses schwimmenden Hauses arrangiert hatte. Floating House, heißen diese Hausboote korrekt. Die beiden Getöteten kannten sich nicht. Wir haben intensiv nach zufälligen oder anderen Verbindungen gesucht, aber keine gefunden. Beide waren alleinstehend, ohne jeden familiären Anhang mit überschaubarem Freundeskreis. Beider Aktionsradius war beschränkt. Er wohnte in Berlin, trieb Sport in einem Studio. Sie lebte in Senftenberg und besuchte gern die Bühne dort und häufig auch das Staatstheater in Cottbus. Die Tatsache, dass ein Foto von Blumen in einer Vase am Tatort gefunden wurde, verbindet allerdings den Täter mit dir! Denn die Vase war leer, die Blumen hatte jemand auf deinen Fußabtreter gelegt.«

»Ja. Mit einem Zettel dran, auf dem Maja stand. Das wissen wir doch alles schon! Ganz besondere Blumen, sehr spezielle Züchtungen, nehme ich an. Konntet ihr nicht herausfinden, wo er die gekauft hat? Solch besondere Blüten bekommt man sicher nicht in jedem Blumenladen.«

»Leider konnten wir das Geschäft bisher nicht ermitteln. Tatsache ist, dass der Täter sie ja gar nicht in Cottbus gekauft haben muss. Vielleicht in Berlin? Wir sind dran. Interessanter ist die Frage, woher der Täter deinen Vornamen kannte. Auf dem Klingelschild steht er nicht.«

»Tja, ich weiß es nicht! Im Haus habe ich bisher nur Kontakt zu meinem Bruder. Die unregelmäßigen Arbeitszeiten fördern nicht gerade Beziehungen zur Nachbarschaft.« Maja merkte ein Auflodern der Aggressivität, die sie eigentlich unterdrücken wollte, atmete tief durch. Unauffällig. Schließlich ging ihre tatsächliche emotionale Beteiligung an diesem Fall den Kollegen nichts an. »Der Täter hat mich durch das Ablegen der Blumen in seinen Doppelmord involviert. Das war absichtsvolles Handeln. Entweder kennt er mich tatsächlich oder hat zufällig meinen Namen gehört, weil er Zeuge eines Gesprächs zwischen mir und Fabian war. Darüber haben wir ebenfalls schon gesprochen.«

»Ja, das haben wir geklärt. Es gibt allerdings eine weitere interessante Möglichkeit: Es könnte sich um jemanden aus deiner Kölner Zeit handeln.«

Maja seufzte tief. Das war ja zu erwarten, dachte sie. Irgendein Idiot, der sich für ihre Ermittlungen rächen wollte. »Habt ihr jemanden feststellen können, der vielleicht so einen Plan haben würde?«

»Ja. Tatsächlich gibt es nach unseren Recherchen mindestens fünf Verurteilte, die dir gedroht haben, dich dein Leben lang zu verfolgen, sich grausam an dir zu rächen und so weiter.«

»Die habt ihr sicher überprüft. Alle konnten ein Alibi präsentieren. Und nun soll ich gründlich nachdenken?«

»So ungefähr – ja.«

Maja verzog das Gesicht. »Hausaufgaben für die Kollegin? Als ob ich nicht selbst ohnehin die ganze Zeit darüber nachdächte! Das ist doch die erste Frage, die man sich stellt: Hat das Ganze wirklich mit mir zu tun? Bin ich nur zufällig verwickelt worden, weil ich neu in der Stadt bin? Eine Zugezogene?« Sie stand so schwungvoll auf, dass sie den Stuhl umriss. »Wäre mir jemand eingefallen, wüsstest du davon. Und ja, mein Bruder fühlt sich beobachtet, seit wir umgezogen sind. Aber auch er hat keine Idee, wer es sein könnte – oder ob der Überwacher überhaupt existiert. Er hält es für möglich, dass er ein Hirngespinst ist, nur ein diffuses Gefühl. So. Und jetzt gehe ich zurück zu unserem eigenen Fall.«

Damit stakste sie steif davon.

Zurück blieben ein ratloser Kollege und ein umgestürzter Stuhl.

Peter Nachtigall parkte ein Stück entfernt vom Parteibüro auf dem Parkplatz vor der Kammerbühne.

Er brauchte frische Luft.

Bis zur Breitscheidstraße war es nicht weit. Und außerdem regte Laufen das Denken an.

Konnte auf keinen Fall schaden, dachte er zufrieden.

»Guten Morgen«, begrüßte ihn die junge Frau, hielt ihm die Tür auf, lud ihn mit einer Geste ein, hineinzukommen. »Ich bin Kati Brauner. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ja, mein Name ist Peter Nachtigall, Kriminalpolizei Cottbus. Ich hätte gern ein paar Informationen über die Drohmails, die Ihr Parteifreund Patrick Stein bekommen hat.« Der Ausweis wurde kurz in Augenschein genommen. Das strahlende Lächeln vertrocknete zusehends.

»Kommen Sie bitte mit.«

Nachtigall folgte dem wippenden Pferdeschwanz.

»Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt? Es wäre besser gewesen, Sie hätten Ihren Besuch mit Patrick abgesprochen. Er ist nämlich heute nicht hier, es ist mir unangenehm, Sie an seinem Rechner stöbern zu lassen, ganz ohne seine Zustimmung. Und vielleicht auch ohne sein Wissen? Brauchen Sie für so etwas nicht einen Beschluss?«

Der Cottbuser Hauptkommissar seufzte innerlich. Er hatte eigentlich nicht mit dem Tod ins Haus fallen wollen, kämpfte selbst noch gegen das Bild an, das ihm lebhaft vor Augen stand. Die Hand des Familienvaters, die unheilvoll über den Rand der Schaufel … Als winke er weitere Katastrophen heran. Und Zeugen waren nach einer solchen Eröffnung häufig zu sehr aufgewühlt, um noch sachdienliche Hinweise geben zu können. Aber nun blieb ihm keine andere Wahl.

»Es tut mir leid, aber wir wurden eingeschaltet, weil Herr Stein wahrscheinlich einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen ist. Alle Hinweise sind von größter Bedeutung.«

»Patrick?«, fragte Kati schrill. »Tötungsdelikt? Sie sprechen von Mord?«

»Wir ermitteln in alle Richtungen. Ich kann mir vorstellen, dass das für Sie ein großer Schock ist. Vielleicht setzen Sie sich einen Moment«, murmelte Nachtigall und schob die junge Frau vorsichtig in Richtung Besucherecke, platzierte sie auf einer giftgrünen Couch.

»Tötungsdelikt. Mord?«, wiederholte die junge Frau leise. »Ausgerechnet Patrick? Das kann ich nicht glauben.«

»Wir wissen noch nicht, wie er gestorben ist, können zum jetzigen Zeitpunkt nichts ausschließen. Er ist gestern Nachmittag zum Laufen aufgebrochen. Wussten Sie, dass er das geplant hatte?« Der sanfte Ton schien Kati etwas zu beruhigen.

»Ja. Alle wussten das. Er legte die Termine fest – und jeder wusste, dass er die Sache mit dem sportlichen Engagement sehr ernst nahm. Noch.«

 

»Er hielt nicht lange durch? Das kenne ich aus eigener Erfahrung.«

»Die Ziele waren zu hochgesteckt. Sie wissen schon: nicht operationalisiert. Man kann niemals aus dem Nichts heraus ein toller Läufer werden. Das muss sich entwickeln. Es war der sechste Anlauf, seit ich ihn kenne. Und das sind nun immerhin schon vier Jahre.«

»Lief er immer zur selben Zeit, eine gewohnte Strecke?«

»Nein. Das funktioniert in dieser Kombination aus seinem Job und politischem Engagement nicht. Aber was hat das mit seiner Ermordung zu tun?«

»Nun, er brach zum Laufen auf, kehrte aber nicht zurück. Ist es denkbar, dass er nach dem Training noch ein Treffen hatte?«

Kati schwankte ein wenig beim Aufstehen, hielt sich tapfer aufrecht und ging langsam auf den Schreibtisch zu. »Es gibt einen Kalender. Moment … Nein, hier ist kein Eintrag für gestern. Ich checke den Computer.«

»Nein, bitte starten sie ihn nicht! Die Kollegen nehmen ihn später mit. Ich brauche nur das Kennwort, damit die Kollegen barrierefreien Zugang haben. Ein Team des Erkennungsdienstes ist auf dem Weg. Wir werden ebenfalls einige der Akten mitnehmen müssen.«

»Gut. Ich hoffe, Patrick hat alle wichtigen Dinge in der Cloud abgelegt. Sonst wird die Arbeit für uns schwierig.«

Kati setzte sich wieder. Weinte leise. Nestelte ein Taschentuch aus einer Packung, knisterte diese zurück in die Gesäßtasche der Jeans.

»Hatte Patrick eine besondere Beziehung zum Tagebau? Also abgesehen von der Diskussion über die Schließungen.«

»Patrick? Ich glaube nicht. Er hat mal eine Führung mitgemacht, wusste über alle Belange der Arbeit dort bestens Bescheid, kannte die aktuellen Diskussionen, die Ängste und Besorgnisse der Menschen, die dort arbeiten. Aber an der Frage der Abschaltung gibt es nichts zu rütteln. Die kommt. Wichtig war ihm das soziale Abfedern.« Sie schnäuzte kräftig in ihr Papiertuch, wischte ein paar Tränen von den Wangen.

»Die Drohmails bezogen sich auf dieses Thema, nicht wahr?«

»Ja. Manche. Es wird dauern, bis alle begreifen, dass gehandelt werden muss, wir keine Minute mehr zu verschenken haben. Selbst Frau Merkel hat den Klimaschutz als Aufgabe zur Lebensrettung der Menschen beschrieben.«

»War er wütend, wenn er solche Mails bekam? Manche enthielten nach Aussagen seiner Frau Morddrohungen.«

»Patrick hat das schon ernst genommen, glaube ich. Wütend oder etwa besorgt war er nicht, aber oft enttäuscht. Warum begreifen die Leute nicht, dass es Einschnitte geben muss? Es ist doch inzwischen gut zu erkennen, dass das Klima sich dramatisch ändert. Gerade in der Lausitz! Seit Jahren leiden wir unter anhaltender Dürre. Daraus resultieren Ernteausfälle und Waldsterben. Wie kann man da Schadstoffausstoß auf die Formel Freie Fahrt für freie Bürger reduzieren?«

»Was für ein Mensch war Patrick Stein?«

»Ordentlich, zielstrebig, aber auch hartnäckig und in manchen Fragen unbeugsam.«

»Hm.«

»Das wissen Sie schon?« Kati schniefte, putzte wieder die Nase. »Er war ein liebevoller Vater. Wenn eines der Mädchen anrief, ließ er alles andere los, widmete sich voll dem Problem des Kindes. Sei es ein verloren gegangenes Spielzeug, ein aufgeschlagenes Knie, ein kaputtes Fahrrad. Seine Frau ist ziemlich streng mit den beiden, aber er war freundlich, zugewandt. Ich denke, sie konnten mit ihm wirklich über alles reden.« Kati schluchzte leise auf. Setzte hinzu: »Natürlich war das Training nicht nur aus gesundheitlichen Gründen für ihn wichtig, er versuchte, seine verblassende Jugend zu erhalten. Sein Gewicht sollte reduziert werden, der Körper gestrafft. Die nahende Midlife-Crisis. Er war durchaus ein echter Kumpel, eine gewisse Arroganz musste man allerdings abkönnen.«

»Er war ein sympathischer Typ?«

»Ja. Einer, auf den hundertprozentig Verlass war. Kein dummer Draufgänger, kein Angeber. Und für #metoo wäre er überhaupt nicht in Betracht gekommen. Er liebte seine Familie. Eigentlich fehlte bloß der Bobtail zum perfekten Bild.« Es entstand eine kurze Pause, dann setzte Kati patzig hinzu: »Aber Doreen steht eher auf Katzen.«

Nachtigall spürte, wie sich eine gewisse Erleichterung in seinem Denken Platz machte. Stein war also doch nicht nur ein funktionierendes Rad gewesen, sondern ein netter Vater mit dezidierten politischen Ansichten und einem fixierten Lebensentwurf.

»Haben Sie bei seinem Arbeitgeber nachgefragt? Wissen die überhaupt schon Bescheid? Ich weiß, dass er sich gestern noch auf ein wichtiges Kundengespräch vorbereiten wollte.«

Das Türsignal bezeugte die Ankunft einer weiteren Person.

»Das ist sicher Fritz.« Nach kräftigem Schnäuzen rief sie laut: »Wir sind hier in Patricks Büro!«

Wenig später wand sich ein Kopf um den Türrahmen.

Kahl geschoren, die Nase gepierct, der Hals offensichtlich bis weit unter das T-Shirt-Bündchen tätowiert.

»Hey! Wer ist denn der Besucher?«

»Kriminalpolizei.«

»Oha.«

»Darf ich vorstellen: Friederike Schultheiß, genannt Fritz, neben Patrick unser zweites bekanntes Gesicht. – Herr Nachtigall, Kriminalpolizei Cottbus.« Kati sprang aus dem Polster auf. »Patrick ist tot!«

»Ach – hat sich nun doch einer getraut? Glückwunsch!«