Im Schoß der Familie

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Frieda warf ihm einen verwunderten Blick zu. «Hast du vergessen, dass deine Eltern uns für heute zum Essen eingeladen haben? Deine Mutter wünscht sich einen entspannten Winterspaziergang mit ihren Lieben.» Sie schob Helga lächelnd die Brotquadrate näher zusammen. «Bei der Oma musst du aber schön sauber essen, Helga! Da darfst du keine Flecke auf die Brokattischdecke machen», erklärte sie der Kleinen und meinte dann zu Konrad: «Schade, dass es noch nicht richtig geschneit hat. Sonst könnten wir einen Schneemann im Garten bauen.»

Konrad nickte abwesend. Sein Vater wäre ganz gewiss nicht begeistert, wenn ihn solch eine Albernheit beim Nachhausekommen begrüßte. «Kommt ja noch, Schnee gibt es bald genug!», tröstete er seine beiden Frauen. «Wird Lotte mit ihrer Familie auch zu diesem Sonntagsbraten erwartet?»

«Wohl nicht. Deine Mutter erzählte, Lotte und ihr Mann wollten zu einem Vortrag gehen, die Kinder nehmen sie auch mit.»

«Ach, sieh mal einer an! Sicher eine Wahlkampfkundgebung! Mein strammer Herr Schwager – mal wieder politisch ganz auf einer Linie mit dem Herrn Schwiegerpapa», höhnte Konrad. «Und die armen Kinder werden auch gleich mit der rechten Gesinnung vertraut gemacht.»

Frieda beschloss, das Thema nicht weiter zu vertiefen. Politik führte immer in die Stimmungskatastrophe.

Unerwartet klingelte es.

«Doch dein Freund Eggebrecht?», mutmaßte Frieda.

«Nein, nein, Heinz kommt erst morgen!», beharrte ihr Mann.

Harry schoss vorsichtshalber bellend und knurrend zur Tür.

«Guten Morgen, Fritz! Was für eine Überraschung», hörte Frieda ihren Konrad rufen und verzog verärgert das Gesicht. Erfahrungsgemäß war es mit der Sonntagsruhe vorbei, wenn Ganter vorbeikam.

«Sieh mal, Frieda, Fritz ist gekommen», freute sich Konrad und bot dem Freund einen starken Kaffee an.

«Nein, danke. Du weißt doch, ich habe im Grunde wenig Zeit. Ist wie immer!» Er schüttelte Frieda die Hand und streichelte Helga über die noch spärlichen blonden Locken.

Frieda lächelte nicht zurück. Sie sah sofort, dass Ganter nicht aus alter Freundschaft gekommen war. Sein schuldbewusstes Augenniederschlagen verriet das mehr als deutlich.

Nur Konrad tat ahnungslos. «Wenigstens einen Moment kannst du dich doch zu uns setzen. Hast du viel Arbeit?»

«Ach, in der letzten Nacht wurden wir auf den Weißen Hirsch gerufen, in die Villa Weitershausen.»

«Dorthin? Die Villa kenne ich. Soweit ich weiß, hat da gestern ein großes Fest stattgefunden. Alles, was Rang und Namen hat, war geladen. Meine Eltern auch, aber die beiden mussten absagen, mein Vater hatte einen anderen Termin. Gab es etwa eine Schlägerei?» Konrads Neugier war sofort geweckt.

«Alles, was Rang und Namen hat – ganz genau», wiederholte Ganter missmutig. «Das Haus voller Leute, alle guter Stimmung. Jedwede Größen aus Politik und Wirtschaft, und Künstler waren auch darunter. Von Weitershausen ist ja ein großer Kunstförderer. Und dann liegt da auf einmal in einem der Gästezimmer eine Leiche!»

Frieda wurde blass, beschäftigte sich angelegentlich mit Helga.

Den beiden Männern fiel nicht auf, wie unpassend ihr Thema für ein gemütliches Sonntagsfrühstück war.

«Was! Einbrecher?», fragte Konrad aufgeregt.

«Nein, keine Einbrecher. Alle Türen und Fenster waren der Kälte wegen geschlossen, im Garten lief ein Wachmann mit Hund Streife. Sag mal, hast du heute noch keine Zeitung gelesen?»

Konrad schüttelte den Kopf.

«Vor deiner Tür reißen die Leute den Jungen das Extrablatt förmlich aus den Fingern. Das Opfer ist das Mündel der Weitershausens – Mireille Loliot.»

Frieda stieß einen spitzen Schrei aus, sah dann schnell ihre Tochter an, doch die ließ sich beim Trinken des warmen Kakaos nicht stören.

Harry jedoch, als erfahrener Begleiter eines Mannes, der ständig in Abenteuer stolperte, hatte den Stimmungsumschwung wahrgenommen. Aufmerksam wanderten seine Augen von Fritz zu Konrad und zurück.

«Sie war krank», stellte Katzmann begriffsstutzig fest.

«Wenn man es als Krankheit bezeichnen will – stechender Schmerz in der Herzgegend.»

«Erstochen? Potz Blitz! Soweit ich weiß, lebte sie doch im Hause der von Weitershausens, weil die Reise nach Namibia ihr nicht bekommen wäre. Der Vater wird nicht gut auf seinen Freund zu sprechen sein, wenn er von der Tragödie erfährt.» Betroffen fuhr Konrad mit der Hand durch sein Gesicht.

Frieda nahm ihre Tochter liebevoll in den Arm und drückte sie fest an sich, als beschwörten schon die Worte Ganters eine Gefahr für die Kleine herauf.

«Was du alles weißt», staunte Fritz. «Ich hatte natürlich keine Ahnung von diesem Geflecht im Hintergrund, als ich dorthin gefahren bin. Die Tochter des Freundes. Man hat mir aber die Zusammenhänge erklärt.»

«Was, du leitest die Ermittlungen?» Konrad blieb der Mund offen stehen. «Allein?»

«Ich habe mich sicher am meisten darüber gewundert», bestätigte Fritz und klang noch immer erstaunt.

«Du braucht meine Unterstützung?», fragte Konrad mit unterschwelliger Begeisterung, und seine eisvogelblauen Augen begannen zu leuchten. «Nicht deine Welt, wie?»

Frauenheld, dachte Fritz amüsiert, noch immer. Konrads Talent, das weibliche Geschlecht um den kleinen Finger zu wickeln, sollten wir für die Ermittlungen unbedingt nutzen. «Ja, deine Hilfe könnte ich gut gebrauchen!» Ganter war froh, dass man ihm sein Unbehagen so deutlich ansah. «Ich durfte zwar einige Kollegen zum ersten Einsatz mitnehmen, du weißt schon, den Photographen, den Herrn mit dem Fingerabdruckpulver und zwei Leute, die mich beim Sichern des Tatorts unterstützen sollten, aber nun bin ich auf mich allein gestellt.»

«Frieda?» Konrad suchte, die Augen seiner Frau einzufangen.

«Ist schon gut. Helga und ich fahren erst mal allein zu deinen Eltern. Wir werden sagen, du kommst nach. Aber komm auch! Bis zum Kaffee kann ich deine Familie vertrösten, doch dann wollen deine Eltern ihren Sohn sehen!»

Konrad umarmte die überraschte Frieda stürmisch, drückte seiner Tochter einen Kuss auf die Nasenspitze. «Ich zieh mich rasch an. Gib mir fünf Minuten, Fritz!»

Harry sah ihm nach und winselte leise.

«Du kommst mit, natürlich!», versprach Katzmann, und der Hund wedelte freudig mit dem Schwanz.

Fritz musterte Harry und empfand ein dumpfes Unbehagen, als er dem klugen Blick des Tieres begegnete. «Der versteht wirklich, was du sagst, oder?»

Frieda lachte warm, streichelte Helgas Rücken und hoffte, die unerwartete Ablenkung könne ihrem Mann helfen, mit seiner neuen Rolle als Familienvater klarzukommen.

Ferdinand von Weitershausen war fassungslos.

Als er gerade zu einem späten Frühstück nach unten gehen wollte, hatte er die Stimmen seiner Eltern auf dem Flur gehört. Die beiden taten so, als habe es das schreckliche Ereignis gestern Abend gar nicht gegeben, als habe es nicht im mindesten Bedeutung für das Leben der Familie.

«Wie könnt ihr nur!», fluchte er leise.

Die Stimme seiner Mutter hatte einen angespannten Unterton. Den kannte Ferdinand gut. Er bewies ihr unermüdliches Streben, die Beziehung zu ihrem Mann harmonisch zu halten.

«Als ob du nicht wüsstest, dass er jedem Rock nachjagt. Einfach die Augen zu verschließen wird dich nicht retten.» Ferdinand schloss vorsichtig seine Zimmertür, wartete, bis er die beiden nicht mehr hörte, und machte sich erst dann auf den Weg ins Speisezimmer.

Dort wartete der Teil der Partygäste auf ihn, der wegen des weiten Heimwegs über Nacht geblieben war. Bleiche Gesichter, mit dunklen Ringen unter den Augen, in denen sich das Entsetzen noch immer widerspiegelte.

Keiner sprach.

Stumm nahm auch Ferdinand Platz, griff nach einem Stück Brot, erhob sich wieder und löffelte sich eine große Portion Rührei auf seinen Teller. Als er zu seinem Stuhl zurückkehrte, bemerkte er den fragenden Gesichtsausdruck seines Gegenübers.

«Erstaunlich, dass Ihnen der Anblick des armen Mädchens nicht gründlich den Appetit verschlagen hat. Sie haben Mireille wohl nicht so recht gemocht?», erkundigte sich die blonde Frau unfreundlich. «Dabei lebte sie hier fast wie Ihre Schwester.»

«Nun, da ich ein reines Gewissen habe, reagiert mein Magen nicht hysterisch.» Ferdinand hatte einen trockenen Ton wählen wollen, doch die Antwort war aggressiver ausgefallen.

Die blonde Dame zuckte zusammen, und ihre Züge verhärteten sich. «In diesem Hause hat vielleicht niemand das Recht, ein ruhiges Gewissen zu haben!», parierte sie giftig.

Wenig später waren Fritz, Konrad und Harry schon auf dem Weg zum Weißen Hirsch, im Polizei-Automobil.

«Hätten wir nicht doch mein Gefährt nehmen können?», nörgelte Konrad und schenkte der Innenraumgestaltung der schwarzen Ford-Limousine nur einen abschätzigen Blick. «Der Dixi fährt sich viel angenehmer, ist nicht so schlaglochempfindlich. Und eure Autos sind innen kleiner, als man von außen vermutet – bei meinem ist es genau umgekehrt.»

«Wenn ich mich recht erinnere, war die Anschaffung deines kleinen Roten ein ziemliches Ärgernis. Deine Frau war so gar nicht begeistert.»

«Ach, nur weil sie dachte, unsere kleine Familie passt da nicht rein. Tut sie aber!»

Sie schwiegen auf den nächsten Metern.

«Hast du schon das neue Cabrio von BMW gesehen?», fragte Konrad plötzlich schwärmerisch. «Das ist ein Auto! Schnittig und elegant. Ein wirklich schneller Wagen. Das wäre ein Fahren!»

«Aber doch wohl ein Zweisitzer?»

«Ja. Also, Harry und ich würden damit auskommen!», sagte Katzmann lachend, doch eine leichte Gereiztheit war als Unterton wahrnehmbar. «Frieda ist aus naheliegenden Gründen gegen dieses Modell. Aber ich sage dir, das ist ein Traumauto!» Er seufzte und hing seinen Gedanken nach.

 

Ganter störte ihn nicht dabei. Träumen war ja nicht verboten.

«Sieh mal, Fritz! Hier reiht sich Villa an Villa. Manche sehen beinahe wie Schlösser aus. Die Türmchen! Oh, würde mir so eine Villa gehören, ich richtete mir ganz oben im Turmzimmer meinen Arbeitsplatz ein. Wenn ich vom Schreibtisch aufschaute, könnte ich weit über das Viertel sehen», erklärte Konrad plötzlich.

«Und würdest den ganzen Tag nur gucken und nichts arbeiten!», neckte Fritz.

«Na, vielleicht hast du recht. Wir sind gleich da. Lass uns planen, wie wir vorgehen wollen! Möchtest du mich mitnehmen und als Kollegen einführen – oder soll ich auf eigene Faust mein Glück versuchen, auf die bewährte Weise?»

«Auf deine bewährte Weise? Aber Konrad, du hast Frau und Kind! Du kannst doch nicht versuchen, eine der Frauen im Haus zu becircen», empörte sich der Freund.

Konrad grinste verschmitzt. «Sei nicht so schrecklich konservativ! Ich werde schon aufpassen, dass alles im Rahmen bleibt.»

«Stell nichts an, Konrad! Frieda würde mir nie verzeihen, wenn ich dich in Versuchung brächte.»

Katzmann zuckte mit den Schultern. «Soll ich dir lieber doch nicht helfen?», fragte er unschuldig.

«Sieh mal», lenkte Fritz ab, «das ist doch diese Kurklinik, in der viele Künstler und Politiker abnehmen wollen, oder? Carus-Klinik oder so ähnlich …»

Katzmann nickte amüsiert. Er wusste, dass der Freund seine vielen Liebeleien schon vor der Ehe mit Frieda nicht gutgeheißen hatte. Fritz lebte gerne in geordneten Verhältnissen, war ein treuer Ehegatte und ein liebender Vater, alles das, was Konrad so viel Mühe bereitete.

«Ich glaube, mir würde das keinen Spaß machen. Schon diese lange Fensterfront. Wenn da jemand vorbeigeht, kann er doch reinsehen. Ist ein bisschen wie im Zoo, nicht?»

Konrad lachte laut. «Nun, meine Mutter hat dort mal eine Bekannte besucht, Frau Mahler. Als sie zurückkam, schwärmte sie von den Kuranlagen. Hinter dieser Fensterfront ist, wenn ich mich richtig erinnere, ein langes Tretbecken. Meine Mutter führte uns vor, wie man darin gehen muss. Wie ein Storch auf nasser Wiese. Und die Fenster ermöglichen den Kurgästen einen Blick in den Garten oder auf den Weißen Hirsch. So sind also wir die Attraktion im Zoo, nicht umgekehrt. Aber insgesamt war meine Mutter sehr beeindruckt. Auch von der Küche, in der eine Schar von Hilfskräften und Köchinnen arbeitet, die das Obst und Gemüse bekömmlich für Auge und Gaumen anrichteten. Ich fürchte allerdings, für mich wäre das nicht zum Aushalten! Kuren, Wassertreten, Spazieren, Kuren – nein, ich bekäme Langeweile. Nach drei Stunden schon dächte ich an Flucht!»

«Ach», Ganter seufzte tief, «mir könnte das gefallen. Wenigstens für eine Woche. Aber für Polizisten ist das nicht vorgesehen, meine Vorgesetzten würden ziemlich irritiert reagieren, wenn ich um eine solche Kur anfragte. Womöglich meinten sie dann, ich wäre eher ein Fall für die Psychiatrie als für die Kur.»

An der Ecke des Weitershausen’schen Anwesens stieg Konrad aus. Er setzte den Rucksack auf. Harry hatte vorsichtshalber den Kopf eingezogen.

Gewand schlich Katzmann um die imposante Villa. Der Garten machte einen sehr gepflegten Eindruck. Tadellos angelegte Blumenbeete versprachen für den nächsten Sommer überbordende Farbenpracht. Der Rasen wirkte wie gerade gefegt und war trotz des Winters erstaunlich grün. Der Gärtner musste einer von der pingeligen Sorte sein. Mit solchen Menschen war manchmal schwer ins Gespräch zu kommen, wusste Konrad aus jahrelanger Journalistenerfahrung. Besser, er ging ihm aus dem Weg. Das Hausmädchen, von dem Fritz gesprochen hatte, war die bessere Option, entschied Konrad und pirschte sich an den hinteren Teil des Hauses heran. Glück musste man haben, freute er sich wenige Schritte später, als er entdeckte, dass nach den Frühstücksvorbereitungen nun offensichtlich die Küche gut durchgelüftet wurde.

«Gerlinde, ist das Speisezimmer schon fertig?», erkundigte sich eine freundliche Stimme, und eine junge antwortete: «Aber ja, Barbara, ich habe schon alles abgeräumt. Den Gästen ist wohl nicht nach Rührei, selbst das Brot haben sie kaum angerührt. Dabei ist es ganz frisch.»

«Ist kein Wunder nach der Tragödie. Was fange ich nun mit all den Resten an? Die gebratene Hühnerbrust ist auch verschmäht worden.»

Aha, dachte Katzmann, diese Stimme gehört also zur Köchin, dann muss die andere die des Hausmädchens sein. Wie war der Name – Gerlinde?

Er würde sich noch einmal auf sein Glück verlassen müssen – und er brauchte einen guten Plan. Oder wenigstens ein hübsches Märchen, das er auftischen konnte.

Jemand klingelte an der Vordertür.

Das ist sicher Fritz, dachte Konrad und nutzte die Gelegenheit, um behende durch das geöffnete Küchenfenster zu klettern.

Fritz Ganter begegnete ernüchtert der eisig-abweisenden Miene Karls.

«Sie? Um diese Zeit? Als ob wir nach dem Schock …», begann der Hausdiener voller Vorwurf.

«Der Schock ist ein Mordfall! Wenn ich den Täter fassen soll, müssen die Herrschaften mit mir sprechen, auch wenn es ihnen nicht leichtfällt.»

Karl musterte den Ermittler langsam und kritisch vom Scheitel bis zur Sohle und zog die Stirn zusammen. Eine böse Doppelfalte bildete sich oberhalb der Nase.

Für einige Atemzüge fürchtete Ganter schon, abgewiesen zu werden, weil Frisur oder Kleidung dem Butler nicht behagten. In Gedanken arbeitete er bereits eifrig an einer passenden Formulierung, die den Mann in seine Schranken weisen könnte, da trat Karl überraschend zur Seite und gab die Tür frei.

«Ich melde Sie an», verkündete er noch und ließ den verdutzten Ganter im Foyer stehen.

Laute Männerstimmen drangen aus einem der Zimmer am Gang. Offensichtlich wurde heftig gestritten.

«Wie konntest du? Ich habe dir vertraut!», hörte Ganter den einen der Männer sagen.

«Mich trifft wahrhaft keine Schuld! Ich habe immer …» Hier unterbrach sich der Sprecher, polterte aber nach kurzer Pause erneut los: «Was? Um diese Zeit? Sagen Sie dem Kerl, er soll sich zum Teufel scheren!»

«Er will das Verbrechen aufklären. Der Mann bleibt!», schaltete sich die andere Stimme ein.

Vernünftige Entscheidung, lobte Ganter im Stillen.

Konrad erlaubte Gerlinde, ihn im Wohnzimmer aufzuspüren.

«He, Sie! Was tun Sie hier?», fauchte sie ihn zornig an.

«Sie sind Gerlinde, nicht wahr?» Konrads blaue Augen fixierten sie lange und beobachteten, wie sie sich entspannte und schließlich ein leichtes Lächeln ihre Lippen umspielte.

«Wer will das wissen?», fragte das Mädchen kokett-schnippisch.

«Oh, Entschuldigung! Konrad Katzmann mein Name. Ich bin Journalist, na ja, um ehrlich zu sein, freier Journalist. Das ist ein ziemlich hartes Brot. Also dachte ich …»

«… ich steig mal eben bei den Weitershausens ein und versuche, mehr zu erfahren als die anderen Reporter?»

Konrad senkte den Blick. Schuldbewusst. Ertappt. «Ja», gab er fast tonlos zu.

«Und nun?»

«Eine so schöne Frau will ich nicht belügen», leitete Konrad sein Geständnis ein. «Ich brauche dringend ein bisschen Geld. Mein Zimmer ist so kalt, dass mein Atem über Nacht als Eiszapfen an den Möbeln gefriert – und zu beißen habe ich auch nichts mehr. Eine kleine Geschichte mit ein paar speziellen Informationen könnte mir das Leben retten.»

Gerlinde strahlte den Fremden an. «Kommen Sie mit», sagte sie schlicht und nahm ihn bei der Hand.

Mit geübten Handgriffen stellte sie eine Tasse Kaffee vor ihm ab, eine dick mit Butter bestrichene Stulle und ein großes Stück Käse fanden den Weg auf einen Teller.

Während Konrad mit großem Appetit aß, setzte sie sich zu ihm an den Küchentisch. «Also, Konrad, was wollen Sie wissen?»

Er kaute. «War diese Mireille wirklich so nett, wie alle behaupten?»

«Sie war fremd hier.»

Das war keine Antwort auf seine Frage. Konrad verzog enttäuscht das Gesicht.

Gerlinde fühlte sich unbehaglich. «Es ist nicht so einfach, sich in eine neue Familie einzufügen. Sie hat lange gebraucht, unseren Rhythmus zu übernehmen. Aber in der letzten Zeit funktionierte es gut.»

«Zu Ihnen war sie doch sicher immer freundlich. Wer könnte zu einer so netten jungen Frau schon patzig sein?»

Gerlinde wand sich verlegen und zugleich geschmeichelt auf dem Stuhl wie eine Schlange beim Häuten. «Ich habe sie immer ein bisschen bewundert. Die Mutter gestorben, der Vater bringt sie bei Freunden unter, weil ihn die Tochter bei der Arbeit im Ausland stört. Und sie hat das alles wunderbar verkraftet.»

«Der arme Vater wird entsetzt sein, wenn er vom Tod Mireilles erfährt. Erst verliert er die Frau, und dann ermordet jemand seine Tochter», erklärte Konrad empathisch.

«Oh, tatsächlich weiß er es schon!» Erschrocken schlug sich das Mädchen beide Hände vor den Mund. «Das dürfen Sie aber nicht in einem Artikel für die Zeitung schreiben», flüsterte es eindringlich.

«Tu ich nicht», versicherte der Journalist treuherzig. «Hat es denn Ärger gegeben?»

«Na, was denken Sie denn? Er wähnte Mireille hier sicher – und nun kommt er zurück und erfährt, dass sie soeben ermordet wurde. Das Fräulein hätte in der kommenden Woche Geburtstag gehabt. Sein heutiger Besuch sollte eine Überraschung für Mireille sein.»

«Er hat seinem Freund also Vorwürfe gemacht. Das verstehe ich gut. Obwohl man der Familie von Weitershausen keine Schuld geben kann. Gegen einen feigen Mörder kann man sich nur schwer schützen.»

Gerlindes Gesicht verhärtete sich. «Na, Konrad, wer weiß schon mit Sicherheit, wie unschuldig jemand ist? Und es sind auch nicht alle Mörder feige, oder?»

«Hier bist du also!» Mit zornroter Miene stürmte die Köchin herein. «Sitzt hier beim Frühstück mit einem Fremden! Dabei ruft man überall nach dir!»

«Das ist kein Fremder!», behauptete Gerlinde zur Freude Katzmanns. «Das ist mein Bruder Konrad.» Sie sprang auf, und der frischgekürte Bruder tat es ihr nach.

«Ach, ich wusste gar nicht, dass du Geschwister hast!», zischte die andere zurück.

«Mehr als du Zähne im Mund!», parierte Gerlinde schnippisch und begleitete ihren «Bruder» zur Hintertür.

«Sehen wir uns wieder, tapfere Gerlinde?»

Den Augenaufschlag sollte er zum Patent anmelden, dachte das Mädchen, wiegte die Hüften und nickte schüchtern. «Du weißt ja, wo du mich findest, großer Bruder!», meinte sie lachend, als sie die Tür ins Schloss schob.

Pfeifend, die Hände in die Taschen geschoben, schlenderte Konrad davon.

Fritz Ganter musterte die Streithähne von der Türschwelle aus.

«Ganter – so war doch Ihr Name?», fauchte von Weitershausen ihn gereizt an.

Der Ermittler nickte, versuchte einen selbstbewussten Eindruck zu machen.

«Darf ich vorstellen? Dies ist Herr Loliot, Jean Loliot.»

Überrascht streiften Ganters Augen über die asketische Gestalt. Lang, hager, schon deutlich ergraut, registrierte er automatisch, Blick klar, Wesen unterkühlt. Wie ist der Mann aus Windhoek so schnell nach Dresden gekommen?, grübelte Ganter ergebnislos.

«Sie sind auf der Suche nach dem Mörder meiner Tochter?»

Eine Stimme wie ein Kühlhaus. Ganter bekam eine Gänsehaut. Er nickte.

«Gut, das ist sehr gut. Ich wünsche, dass Sie den Kerl schnell dingfest machen.» Ein Seitenblick auf von Weitershausen, dann setzte Loliot hinzu: «Hoffentlich muss ich nicht auch noch feststellen, dass er aus dieser Familie stammt!»

Heimar von Weitershausen zischte empört. «Was fällt dir ein, das ist infam!», krächzte er, offensichtlich mühsam beherrscht.

«Und ich möchte meine Tochter sehen. Sofort!», forderte Loliot laut.

Ganter beeilte sich zu versichern, man würde das selbstverständlich ermöglichen.

«Herr von Weitershausen und seine Familie haben bei der Erfüllung der Aufgabe, die sie übernommen haben, leider mehr als kläglich versagt. Sie», dabei wandte er sich wieder direkt an Ganter, «sollten sich unbedingt als kompetenter erweisen!»

«Ihre Tochter werden Sie morgen sehen können, ich leite alles Notwendige in die Wege. Wenn Sie erlauben, hole ich Sie ab und begleite Sie.» Ganter bemühte sich um eine besonders gerade Körperhaltung, legte so viel Autorität in die Stimme, wie ihm nur möglich war.

«In diesem Haus werden Sie mich sicher nicht antreffen, hier bleibe ich nicht eine Sekunde länger, als es die Regelung unserer Geschäfte bedarf. Auf Ihre Begleitung lege ich keinen Wert, senden Sie mir einen Ihrer Beamten, der mir den Weg weist. Ich erwarte ihn morgen um neun Uhr in meinem Hotel.»

 

Unversehens stand Ganter allein im Flur. Jetzt haben die beiden einfach die Tür vor meiner Nase geschlossen, ärgerte er sich. Na, die werden sich noch wundern! Wie er diesen Effekt genau erzielen wollte, war ihm allerdings nicht klar. Alles wird sich finden, dachte er mit mehr Zuversicht, als er tatsächlich empfand, ich kriege den Mörder schon, selbst falls es einer aus euren Kreisen ist.

Als Konrad Katzmann kurze Zeit später plötzlich neben Gerlinde auftauchte, zuckte die junge Frau zu seiner großen Freude nicht einmal zusammen, sondern lachte melodisch. «Da bist du ja wieder, Bruder Journalist.»

«Warum sollte ich zögern, wenn eine Schwester wie du auf mich wartet?», schmeichelte Konrad, dessen Gedanken mit blassem Schuldgefühl Frieda streiften, die in diesem Moment wohl versuchte, das Ausbleiben ihres Gatten beim Sonntagsbraten zu erklären.

«So, so. Ich denke, du bist nur wegen der Toten hier und dein Interesse an den Lebenden ist gering», gab sie kokett zurück.

Galant beugte sich Konrad zur Seite und hob den Korb mit der gemangelten Wäsche aus Gerlindes kräftigen Armen. «Ich trag dir den Korb ins Haus.»

«Oh, besser nicht! Erstens ist es nicht weit, und zweitens kann Karl es zurzeit noch weniger ausstehen als sonst, wenn Fremde durch die Zimmer schleichen. Und Karl kann sehr unangenehm werden, wenn ihm die Visage von jemandem nicht gefällt. Er hat in seiner Jugend durchaus erfolgreich geboxt. Den Sport hat er erst nach seiner Eheschließung aufgegeben, er musste schließlich Geld für seine Familie verdienen. Einen harten Schlag hat er noch immer. Wäre doch schade um deine schönen Zähne.»

Ganter beschloss, mit der Köchin zu sprechen, musste aber zu seinem Leidwesen einsehen, dass die stattliche Frau wegen der Vorbereitungen für das Fest nichts von alldem mitbekommen hatte, was um sie herum vorging.

«Sehen Sie, wenn ich für so viele Menschen koche, bin ich beschäftigt, da kann ich mich nicht auch noch um Kleinigkeiten wie Tischordnung oder einzelne Gäste kümmern, die den Raum irgendwann verlassen. Außerdem interessiert mich nicht, wer wann wo was gemacht hat – das hat die Köchin nichts anzugehen!» Ihre Augen funkelten Blitze. «In meinem Alter sollte man gelernt haben, dass es allemal besser ist, sich um all das nicht zu scheren. Bringt einem nur Ärger ein.»

«Aber die junge Frau Loliot wäre Ihnen doch aufgefallen?» So schnell gab Ganter sich nicht geschlagen.

«Warum sollte sie mir auffallen?», patze Barbara zurück. «Sie wohnte hier und bewegte sich natürlich frei im ganzen Haus. So jemand fällt überhaupt nicht auf.»

Katzmanns Miene gefror schon beim Eintreten. Er reichte dem Mädchen mürrisch seinen Mantel, stieg langsam die Stufen empor zum Wohnzimmer. Harry war aus dem Rucksack geklettert und drängte sich an den Unterschenkel seines Partners. Konrad streichelte ihn abwesend, während er auf die Stimmen lauschte. «Johannes ist also doch da!», schimpfte er dem Hund ins Ohr, und der schüttelte sich am ganzen Körper. «Du kannst den Kerl wohl ebenfalls nicht leiden, was?»

«Und Hitler meint auch, es wäre gar kein Problem, die deutsche Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen. Bei der letzten Versammlung in Berlin hat er klar und deutlich gesagt, er habe schon Gespräche mit den führenden Köpfen unserer Industrie geführt und man warte eigentlich nur noch darauf, dass die Wahl endlich für klare Verhältnisse sorgt, damit man während einer stabilen Zeit Geld in die Zukunft investieren kann!», war Johannes deutlich zu hören.

«Nun, aber möglicherweise wird die Wahl keine stabilen Verhältnisse bringen», wandte Frieda ein. «Es könnte doch sein, dass dein Herr Hitler sich verspekuliert, wenn er so fest daran glaubt, demnächst ein gewichtiges Wort mitreden zu können.»

«Ach nein! Das hat er alles fein kalkuliert. Du wirst schon sehen, Frieda, wenn Hitler erst mal die Gelegenheit bekommt, seine Arbeitsprogramme umzusetzen, dann ist bald keiner mehr ohne Lohn und Brot. Er sagte neulich zu einem Bekannten von mir, jeder deutsche Mann müsse in die Lage versetzt werden, seine Familie ohne staatliche Hilfe zu ernähren. Es sei eine Schande, dass so viele arbeitsfähige und arbeitswillige Männer auf Almosen angewiesen sind. Wenn sie alle wieder für den Unterhalt ihrer Familien sorgen könnten, würden sie auch den Kopf mit Stolz erheben.»

«Oh, Konrad!» Seine Mutter hatte ihn entdeckt. «Wie schön! Nun ist die ganze Familie beisammen.»

Frieda sah sofort den unterdrückten Zorn im Gesicht ihres Mannes. «So eine Überraschung, dass auch Lotte und ihre Familie gekommen sind!», sagte sie, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie vom Komplott der Eltern nichts geahnt hatte.

Konrad küsste seine Frau und nahm ihr Helga ab, die ihm ihre Arme entgegenstreckte. Er grüßte höflich in die Runde und setzte sich zu Frieda auf die Couch.

«Wir hatten schon fast nicht mehr daran geglaubt, dass du dich noch einfindest! Du wolltest zum Mittagessen hier sein, jetzt ist es Kaffeezeit», nörgelte Katzmann senior.

Lotte strahlte ihren Bruder an. «Steht dir gut, die Vaterschaft!», lenkte sie ab, bevor sich ein Disput zwischen Vater und Sohn entwickeln konnte. «Zugenommen hast du auch! Ja, die gute Küche, das regelmäßige Essen – es spricht doch so einiges dafür sich zu verheiraten», sagte sie und grinste schelmisch.

«Nun, Johannes trägt die Haare nach der neuesten Mode. Vielleicht wächst ihm auch schon ein Bärtchen unter der Nase?», schoss Konrad gegen den Schwager und kniff die Augen zusammen, als versuche er den sprießenden Bart zu entdecken.

«Es ist nichts gegen einen ordentlichen Schnitt einzuwenden!» Konrads Mutter schenkte ihrem Sohn eine Tasse Kaffee ein. «Deine Haare sind ein bisschen zu lang. Du solltest bei Gelegenheit zum Friseur gehen. Die fallen dir ja schon ins Gesicht.»

«Johannes ist hier, weil die SA-Gruppen zusammengezogen wurden», bemerkte Lotte. «Er sollte sich eigentlich dem Trupp in Leipzig anschließen, durfte aber nach Dresden ausweichen, damit er seine Familie besuchen kann. Hitler hält die Familie als Grundstock der Gesellschaft für sehr wichtig und möchte den Zusammenhalt der Mitglieder stärken.» Sie hievte ein Stück Sahnetorte auf den Teller ihres Bruders.

«So? Dann sollte dein Hitler erst mal selbst eine Familie gründen. Man hört so gar nichts darüber», konterte Konrad.

«Das verstehst du nicht!», beschied ihm der Schwager. «Hitler ist der Meinung, seine Familie sei das deutsche Volk! Für dessen Wohl setzt er sich ein, dessen Zusammenhalt will er stärken. Da bleibt kein Platz für egoistisches Planen.»

Konrad starrte Johannes ungläubig an. Hatte der wirklich Tränen in den Augen, als er das sagte? Ja! Jetzt wischte er sie möglichst unauffällig aus dem Augenwinkel.

«Du solltest auch Parteimitglied werden!», polterte Katzmann senior dazwischen. «Dann hat deine Drückebergerei endlich ein Ende, und du lernst, diszipliniert zu arbeiten! Struktur! Habe ich nicht schon immer gesagt, dir fehlt es an Struktur? Andere haben auch gewusst, dass es ihre Pflicht ist, das Vaterland zu verteidigen, und haben nicht gezögert, ihr Leben in diesem Kampf einzusetzen. Selbst die Zeitung hat dir gekündigt! Du bist eine Schande für die Familie, Konrad! Der einzige, der ohne Arbeit ist. Es wird Zeit, dass auch du ausnahmsweise mal eine kluge Entscheidung triffst!»

Frieda legte ihre Hand auf Konrads Arm. «Konrad ist nicht arbeitslos, er ist selbständig. Das bedeutet nur, dass er keinen Chef hat, der ihn schikanieren kann. Und seine Familie ernährt er zuverlässig. Sein Buch ist ein großer Erfolg. Es ist alles so, wie wir es gern wollten.»

«Dummes Zeug!», widersprach der Vater. «Ihr lebt von den Reserven, weil kein frisches Geld reinkommt. Und dieses Buch – ein paar nette Bildchen und wenig Text, nicht gerade ein Meisterwerk der Literatur! Wenn mein Sohn ein Buch schreiben will, kann er auf dem Weißen Hirsch einen von denen fragen, die wirklich wissen, wie man so etwas macht. Bestimmt weilt gerade wieder einer unserer großen Schriftsteller dort zur Kur. Stattdessen liefert er ein Bilderbuch ab!»

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