Im Schoß der Familie

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Xaver Koch sah ihn verwirrt an. Dann bettete er seinen Kopf auf den Unterarmen und schluchzte dem Tisch zu: «Ich habe sie so geliebt, so unendlich geliebt!»

Ob Pose oder echtes Gefühl – es war das Letzte, was Ganter noch zu hören bekam. Er schickte ihn hinaus.

In der Tür wandte Koch sich noch einmal um und fixierte den Beamten mit einem Blick, in dem ein bedrohliches Maß von Irrsinn flackerte. «Fragen Sie den Hausdiener!», kreischte er schrill. «Der darf immerhin jederzeit in jeden Raum. Und das Messer! Fragen Sie ihn nach dem Messer!» Dann rauschte er davon.

Konrad Benno Katzmann lag in seinem Bett, starrte die Decke an und fühlte sich unendlich alt.

Aus dem Nebenzimmer drangen leise Geräusche zu ihm herüber. Frieda, die der Kleinen ein Schlaflied vorsang, das von süßen Träumen erzählte und eine ruhige Nacht prophezeite. Bauchschmerzen, hatte seine Frau gesagt, das wäre in diesem Alter durchaus nicht ungewöhnlich. Helga würde sie einfach wegschlafen, und am nächsten Morgen sei alles vergessen.

Konrad schloss die Augen. Finanziell hatte sich die Krise bei ihm nicht allzu schmerzhaft ausgewirkt, überlegte er zufrieden. Auch Frieda wusste, dass es ihnen viel besser ging als den meisten ihrer Bekannten und Freundinnen. Er hatte bemerkt, dass sie nicht mehr ausging und die anderen auch nicht mehr in ihre Wohnung einlud. Offensichtlich war ihr der relative Wohlstand peinlich. Konrad gegenüber allerdings behauptete sie, ihr Rückzug läge an seiner chronisch schlechten Laune, er verbreite eine negative Stimmung und ihre Freundinnen fühlten sich in seiner Gegenwart gehemmt. Sicher, er war nun viel mehr zu Hause als früher. Recherchieren für spannende Artikel – das war Schnee von vorgestern. Nachdem die Leipziger Volkszeitung ihm als Chefreporter gekündigt hatte und er sich ein neues Aufgabenfeld hatte suchen müssen, blieb ihm nun mehr Zeit für seine kleine Familie.

Seine Finger tasteten nach Harrys weichem Fell. «Na, wir beide! Durch dick und dünn sind wir zusammen gegangen, ich verdanke dir sogar mein Leben. So etwas schweißt zusammen. Und dich stört es auch nicht, wenn ich zu Hause bin.»

Harry war in die Jahre gekommen. Unbestreitbar. Seine Schnauze war grau, er ging nicht mehr so gern spazieren wie früher und brauchte morgens eine Weile, bis er den Körper in Schwung gebracht hatte.

Konrad lächelte nachsichtig. In ein paar Jahren würde es ihm selbst auch so ergehen. «Weißt du was, Harry? Ich glaube, ich langweile mich. Gut, die LVZ musste uns entlassen, ist ja auch nicht so, dass ich nun gar keine Reportagen mehr schreibe und verkaufe, aber so aufregend wie früher ist unser Leben nicht mehr. Mir fehlt ein bisschen Abenteuer. Geht es dir nicht auch so?» Harry grunzte wohlig unter den kraulenden Händen. Konrad wertete das als Zustimmung. «Na siehst du! Dachte ich mir schon. Dieser Reisebildband war einen Versuch wert, verkauft sich ja auch ganz gut. Der Heinz freut sich auch schon auf den zweiten Band. Nach Leipzig nun eben Dresden.» Harry rollte sich träge auf den Rücken, damit Konrad sich dem Bauch widmen konnte. Der Streichler lachte warm. «Das hast du schon immer gemocht! Seit ich dich aus der Elbe gefischt habe.» Sanft fuhr er durch Harrys Locken. «Du, ich verrate dir was: Ich bin nicht zum Ehemann und Vater geboren! Aber das bleibt unter uns. Wenn Frieda davon erfährt, regt sie sich nur unnötig auf. Wer kann schon wissen, ob ich nicht doch anpassungsfähig werde im Laufe der Jahre?»

Als Frieda eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer kam, war Konrad mit Harry ausgegangen. Sie seufzte, räumte das Glas und die zerknitterte Zeitung weg, legte die Wolldecke zu einem ordentlichen Rechteck zusammen und fühlte sich irgendwie ausgeschlossen – aus Konrads Denken, seinem Fühlen, seiner ganzen Welt.

Der Sohn der Familie machte einen ruhigen Eindruck. Keine Tränen, kein Schluchzen, stattdessen ein klarer, wenn auch besorgter Ausdruck in den Augen. Verständlich, dachte Ganter, immerhin wurde in diesem Haus ein Mord begangen, da gab es Grund genug, sich Sorgen zu machen. «Mireille Loliot war etwa in Ihrem Alter?»

Der junge Mann nickte schweigend.

«Sie lebte in diesem Haus wie Ihre leibliche Schwester. Sie verstanden sich gut?»

«Es ergaben sich nur selten Kontakte. Mireille lebte ihr eigenes Leben, und das recht intensiv. Für Brüder – egal, ob leiblich oder nicht – war darin nicht viel Platz. Wenn wir uns trafen, unterhielten wir uns, gelegentlich sind wir auch zusammen ausgeritten. Ich mochte ihre Fröhlichkeit.» Ferdinand von Weitershausen zuckte mit den Schultern. «Mein Vater sah es nicht gern, wenn wir uns trafen. Möglicherweise wollte er verhindern, dass wir uns zu nahe kamen.» Ein scheues Lächeln huschte um seine Lippen und verschwand.

«Wäre diese Verbindung nicht eher sinnvoll gewesen?», fragte Ganter.

«Mein Vater hatte andere Vorstellungen.»

Ganter beschloss, dieses Thema zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu vertiefen. Vielleicht konnte er später noch einmal darauf zurückkommen. «Ist Ihnen aufgefallen, dass Fräulein Loliot die Tafel verließ?», wechselte er das Thema.

«Ja. Sie ging kurz nach dem Dessert.»

«Und wer folgte ihr?» Ganter beugte sich weit über den Tisch, als habe er Angst, er könne sonst die Antwort verpassen.

«Das lässt sich nur schwer sagen. Zu diesem Zeitpunkt begann die Gesellschaft insgesamt sich aufzulösen. Einzelne Grüppchen bildeten sich, manche suchten die Waschräume auf, andere wollten sich nach dem üppigen Essen im Garten ein wenig die Beine vertreten. Zum Glück hatte der Wachmann aufgepasst und nahm gerade noch rechtzeitig den sehr angriffslustigen Hund an die Leine.» Ferdinand schüttelte verärgert den Kopf. «Auch so eine Idee meines Vaters, um gegen Bettler vorzugehen. Wie leicht hätte einer unserer Gäste zerfleischt werden können!»

«Haben Sie beobachtet, wer unmittelbar nach Fräulein Loliot die Tafel verließ?», hakte Ganter nach.

«Xaver Koch, Hubertus Berlinger, Frau von Andergast und ihr Gatte und vielleicht noch eine Handvoll Leute.» Ferdinand schluckte hart. «Hätte ich geahnt, dass einer von ihnen Mireille töten will, dann wäre ich aufmerksamer gewesen!», setzte er vehement hinzu.

«Sie ist Ihnen nicht gleichgültig gewesen.» Das war eine Feststellung, keine Frage. Ganter besaß eine gute Beobachtungsgabe, und ihm war das Flackern im Blick seines Gegenübers nicht entgangen.

«Natürlich nicht», flüsterte der Sohn des Hauses. «Sie haben sie doch gesehen! Eine schöne junge Frau. Und doch auf eine besondere Weise unberührbar. Ich glaube, in all den Monaten streifte meine Hand nur zweimal ihren Arm. Ich mochte ihre Art, mir gefiel es, nicht mehr allein ‹Kind› in diesem Haus zu sein. Und doch verband uns tatsächlich nicht mehr als das.»

«Wussten Sie von einer Beziehung zu Xaver Koch?», fragte Ganter.

«Nein. Geheimnisse blieben unsere Geheimnisse, wir tauschten sie nicht untereinander aus. Eine Verliebtheit fiel mir bei ihr nicht auf. Und gerade Xaver Koch wäre eine ungewöhnliche Wahl gewesen. Ihr Vater wäre sicher nicht mit dieser Verbindung einverstanden gewesen.»

«Die Mordwaffe ist eine ungewöhnliche Klinge. Haben Sie die zuvor im Haushalt Ihrer Familie gesehen?», schnitt Ganter abrupt ein neues Thema an.

Der junge Mann dachte darüber nach, kaute an der Unterlippe und meinte dann bedauernd: «Nein. Allerdings schwärmte Mireille für diese Art kunstvoll gestalteter Gegenstände. Sie meinte immer, große Kunst zu schaffen sei das eine, eine größere Herausforderung jedoch sei es, den alltäglichen Dingen eine besondere, unverwechselbare Seele zu schenken. Deshalb solle mein Vater das Stipendium diesmal an jemanden vergeben, ‹der Licht und Sonne in die Tage der Menschen trägt›. Sie sehen schon, Mireille hatte manchmal unorthodoxe Vorstellungen und eine blumige Art, sie zu formulieren.»

«Ich nehme an, Ihr Vater schloss sich dieser Meinung nicht an.»

«Natürlich nicht. Er möchte als Kunstkenner in die Geschichte Deutschlands eingehen, nicht als Förderer von Gebrauchskunst oder Kunsthandwerk. Da macht er deutliche Unterschiede.» Der sachliche Ton hatte etwas an Schärfe gewonnen. Ferdinand von Weitershausen erhob sich mit einer angedeuteten Verbeugung. «Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich mich gern wieder um die Gäste kümmern. Wie Sie sich vorstellen können, herrscht allgemeine Aufgeregung. Meine Mutter benötigt meine Hilfe.»

«Einen Moment noch! Welche Pläne hatte Jean Loliot denn mit seiner Tochter? Ist Ihnen darüber Näheres bekannt?»

«Nein. Aber eines kann ich mit Gewissheit sagen: Es waren völlig andere als die, die mein Vater für Mireille verfolgte», spuckte der Sohn des Hauses unerwartet zornig in den Raum, machte kehrt und verschwand.

Sehr interessant, dachte Ganter. Wie mag er das wohl gemeint haben?

Frau von Weitershausen tupfte ununterbrochen mit einem blütenweißen Taschentuch am unteren Lidrand entlang. Schniefte. Weinte. Wischte erneut.

«Frau von Weitershausen, was für ein Mensch war Mireille Loliot?»

Die Gastgeberin schwieg. Aber wenigstens hatte sie zu schniefen aufgehört, während sie offensichtlich auf eine Antwort sann, und das war Ganter mehr als willkommen.

«Wie soll ich das wissen?», hauchte sie unerwartet. «Ich kann doch nicht lesen, was hinter ihrer Stirn vorgeht.»

«Und ihr Verhalten? Ich möchte mir gern ein Bild von ihr machen können. Beschreiben Sie die junge Dame doch bitte!»

Gundula von Weitershausen richtete ihren Oberkörper steil auf und fixierte die Augen ihres Gegenübers, während sie unemotional aufzählte, als lese sie eine Einkaufsliste vor: «Unschuldig, freundlich, wohlerzogen. Wie man es von einem Mädchen dieser Klasse erwarten darf. Die Dienstboten waren geradezu begeistert von ihrer Bescheidenheit und ihrer unkomplizierten Art. Sie fügte sich sehr unauffällig in unseren Haushalt ein, fühlte sich im Schoß unserer Familie offensichtlich geborgen.» Wieder ein Schluchzer.

 

Ganter suchte misstrauisch nach Tränenspuren, fand aber keine. Aha, dachte er griesgrämig, schon wieder eine Bühnendarbietung. «Wussten Sie von der Liebe zu Herrn Koch?»

«Aber natürlich nicht!» Gundula von Weitershausen schüttelte energisch den Kopf. «Wenn es tatsächlich eine Verbindung gab, so ist es den beiden gelungen, sie geheim zu halten. Möglicherweise sollte Jean es als Erster erfahren, wer weiß. Ach, der arme Mann! Er vertraute uns Mireille an, damit sie ihre angegriffene Gesundheit … Und nun starb sie in unserer Obhut!» Neue Tränen. Wischen. Tupfen.

«Sie starb nicht einfach so – jemand hat sie ermordet», stellte Ganter klar. Sprachliche Vertuschungstechniken wollte er nicht zulassen. Seiner Meinung nach sollte die Familie so früh wie möglich damit beginnen, sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Außerdem erschwerten wortreiche Verschleierungen seine Ermittlungen.

«Seien Sie nicht so roh!», tadelte ihn die Dame wie erwartet. «Es ist für uns alle ein grässlicher Hieb des Schicksals.» Sie schniefte.

Hier kam er nicht weiter, wurde dem Ermittler klar. «Hieb des Schicksals», wie albern! «Stich des Mörders» träfe es eher, hörte er seine innere Stimme höhnen. Er beschloss, sie so gut zu ignorieren, wie es eben ging. «Ich brauche die Namen aller Personen, mit denen Fräulein Loliot näher bekannt war.»

Ein gequältes Nicken war die Antwort. «Karl wird Ihnen eine Liste ins Bureau bringen.»

Ganter spürte den Worten nach und befand, dies war ein Versuch, ihn in Zukunft aus dem häuslichen Milieu in der Villa der von Weitershausens herauszuhalten. Nun, überlegte er, das wird nicht gelingen. «Waren Sie selbst auch damit einverstanden, dass die junge Dame in Ihr Haus zog?»

«Selbstverständlich. Das arme Kind hat nach dem plötzlichen Tod der Mutter nicht recht ins Leben zurückgefunden, war immer schwächlich und ohne Antrieb. Seit sie in Dresden lebte, ging es ihr sichtbar besser. Wir sorgten für reichlich Abwechslung in ihrem Alltag und viel Bewegung an der frischen Luft. Langsam bekam ihr Gesicht Farbe, und sie nahm auch wieder zu. Besondere Freude hatte sie an den täglichen Ausritten. Natürlich unternahm sie diese nicht allein, unser schwedischer Pferdepfleger Arne begleitete sie immer. Das ist ihr sehr gut bekommen», erklärte die Gastgeberin in rechtfertigendem Ton, als habe man ihr vorgeworfen, das Mädchen sei von den Weitershausens bewusst dem Hungertod überlassen worden.

Der Dresdner Ermittler konstatierte, dass die Familie sich hartnäckig um die unangenehme Realität herumdrückte. «Wann wird Herr Loliot zurückerwartet?»

«Genau wissen wir das nicht. Allerdings hofften wir, ihn zu Mireilles Geburtstag in der kommenden Woche hier begrüßen zu dürfen.»

«Sie haben keinen engeren Kontakt gehalten?», staunte Ganter.

«Doch, natürlich. Telegramme und Briefe. Auch Mireille hat ihm regelmäßig geschrieben. Deshalb wissen wir auch, dass er seine Planung für die neue Fabrik besser und schneller umsetzen konnte als erhofft. Über seine Reisepläne jedoch hat er nichts verlauten lassen.»

«Was, wenn nun eine wichtige Entscheidung hätte getroffen werden müssen, das Fräulein zum Beispiel krank geworden wäre?»

«Sie ist rechtlich unser Mündel. Alle Entscheidungen treffen wir.» Sie merkte, dass sie im Präsens gesprochen hat, und schlug die Hände vor den Mund. «Aber das hat ja nun keine Bedeutung mehr.»

Wortlosigkeit richtete sich im Raum ein.

Plötzlich änderte sich der Gesichtsausdruck der Gastgeberin. Gerade noch schmerzverzerrt, wandelten sich die Züge hin zum Arroganten, ihr Blick wurde kalt, und ein neuer Ton hielt Einzug. «Ich hoffe, die dramatische Entwicklung wird unser gutes Verhältnis nicht belasten. Es wäre mehr als bedauerlich, wenn der heutige Abend unsere langjährige Freundschaft zerstörte und unsere Geschäftsbeziehungen belastete.»

Ganter hörte ihr fassungslos zu. Konzentrierte sich darauf, den Mund nicht unvorteilhaft und dümmlich offen stehen zu lassen. Vorsichtshalber griff er mit der Rechten an sein Kinn. Da wäre ich aber gern dabei, wenn die Familie Weitershausen auf den Vater des Opfers trifft, dachte er sarkastisch. Ganz friedlich wird das wohl kaum abgehen. Ich würde glauben, dass diese Leute mein Kind nicht gut betreut haben. Ich könnte ihnen das nie im Leben verzeihen. Mein Gott, Ganter, diesen Fall kriegst du nie gelöst. Diese Leute fühlen und handeln völlig anders als du! Neben einem Mordopfer stehend, denken die nicht an den Schmerz des nächsten Verwandten, sondern an die Geschäftsbeziehungen, die nicht gestört werden sollen, mahnte seine innere Stimme, und ein schwarzer Verdacht keimte in ihm auf: Er war in der letzten Zeit einige Male hart bei seinen Vorgesetzten angeeckt – hatte man ihm diesen Fall zugewiesen, damit er scheiterte? Sollte so seine Laufbahn beendet werden?

Konrad schlenderte auf seinem Heimweg nach dem Besuch der Eckkneipe langsam durch die Wolfsgasse. Je näher er seiner Haustür kam, desto lustloser schritt er aus. Harry trottete schweigend nebenher, so als wolle er ihn beim Denken nicht stören.

«Weißt du was, Harry? Fritz haben wir schon lange nicht mehr besucht. Das machen wir morgen! Der wird sich freuen, wenn wir mal wieder bei ihm auftauchen. Vielleicht nehmen wir unsere Damen mit, dann können sich die Mütter über Kindererziehung austauschen, während wir Männer uns mit wichtigen Angelegenheiten auseinandersetzen, Politik zum Beispiel. Und so viel Arbeit wird er auch nicht haben, dass er uns kurzerhand vor die Tür setzt.» Konrad nickte seinem Hund zu. «Eine Runde noch, dann müssen wir wirklich hoch!»

Nach einer halben Stunde standen sie erneut vor dem Hauseingang. «Das war’s für heute. Morgen gehen wir bei Fritz vorbei. Vielleicht muss Frieda einfach mehr unter Leute.»

Konrad bückte sich und hob den kurzbeinigen Begleiter auf den Arm, trug ihn die breite Treppe hoch bis in die Wohnung.

Alles dunkel.

«Psst!», flüsterte er Harry ins Ohr. «Die Damen schlafen wohl schon. Da wollen wir sie mal lieber nicht wecken.»

Harry verstand. Trollte sich leise auf seinen Platz neben dem noch warmen Ofen.

Konrad kroch wenig später zu Frieda ins Bett. Seine Frau murrte leise im Schlaf, warf sich herum und wandte ihm den Rücken zu. Auch gut, dachte Konrad trotzig, dann muss ich nicht mit dir reden. Worüber auch?

Als der Morgen zu dämmern begann, war Fritz Ganter müde und zerschlagen auf dem Weg nach Hause. Wenigstens ein frisches Hemd für den neuen Arbeitstag würde er brauchen. Auf der Fahrt überlegte er, was er nun an greifbaren Informationen über die Ermordete bekommen hatte. Wenig. Immer freundlich sei sie gewesen, stets sauber und ordentlich, pünktlich, zuvorkommend. Eine junge Frau ohne die geringste schlechte Eigenschaft. Neid, Missgunst oder intrigantes Gehabe seien ihrem Wesen fremd gewesen, hatte man ihm unisono versichert. Sie wusste sich zu benehmen, war von gutmütigem Wesen, hatte man zu Protokoll gegeben. Wo sollte da eine polizeiliche Ermittlung ansetzen?

«Tja», murmelte Ganter in den Tagesanbruch, «und doch war irgendjemand der Auffassung, du habest den Tod verdient. Aber wer tötet einen Engel?»

ZWEI

«EXTRABLATT! Extrablatt! Mord in der Villa Weitershausen! Mäzen steht fassungslos vor dem toten Mädchen!», schrien die abgerissenen Zeitungsjungen lauthals an jeder Ecke.

Für Gerlinde fühlte sich der Weg zum Bäcker an wie ein nicht enden wollender Spießrutenlauf. Der Anblick der blutüberströmten, toten Mireille verfolgte sie auf Schritt und Tritt – und bei jedem Ruf der Zeitungsverkäufer brach sie erneut in Tränen aus.

Barbara, die Köchin, hatte es für eine gute Idee gehalten, sie aus dem Haus zu schicken, wo doch jeder nur über die grausige Tat sprach. Nun stellte sich allerdings heraus, dass ganz Dresden kein anderes Gesprächsthema hatte!

Beim Bäcker reihte sich Gerlinde geduldig in die Schlange ein und griff nach ihrem Einkaufszettel.

«Heute müssen wir zu einem späten Frühstück einige besondere Spezialitäten aufbieten», hatte Barbara erklärt. «Wenn in einem Haus Trauer und Aufregung herrschen, ist das Essen von größter Bedeutung. Schmeckt es den Menschen, dann dämpft das ihren Schmerz. Wir werden also ordentlich auftischen. Zum Beispiel so viele Sorten Brot, wie der Bäcker zu bieten hat!» Dabei hatte die resolute Herrscherin über den Herd schon damit begonnen, zarte Fleischstreifen anzubraten und Speck in dünne Scheiben zu schneiden.

Gerlinde war fix aus dem Haus gelaufen. Weg von dem scharfen Messer und der Frau, die das Schneiden damit virtuos beherrschte. «Fehlt eigentlich eines der Messer aus der Küche?», hatte sie Karl beim Rauslaufen zugerufen.

Der Hausdiener schüttelte den Kopf. «Nein, das hat die Polizei gestern schon überprüft.»

Nun, am Ende der Schlange, wurde ihr bewusst, dass Karl recht haben musste. Der Griff gleicht nicht denen der anderen, die sie sonst benutzten. Viel zu unpraktisch. «Aus Elfenbein geschnitzt», hatte einer der Gäste behauptet. Nein, so einer passte nicht in Barbaras Pranken, sie würde ihn beim Schälen der Kartoffeln zerquetschen. Gesehen hatte Gerlinde so einen Griff schon mal – aber wo?

Vor ihr wartete eine ältere Dame.

Neben dieser stand ein spilleriges Männchen, vielleicht ihr Sohn. «Hast du das gehört? Im Haus der Weitershausens hat es einen Mord gegeben! Erst dachte ich, jemand habe den alten Weitershausen umgebracht, diesen Widerling. Aber nein, sein Mündel hat es getroffen! Diese junge Frau mit dem französischen Namen.»

«Ach herrje! Doch es ist nicht in Ordnung, dass du ihn Widerling nennst. Er mag deine Bilder eben nicht, sie sind ihm zu modern. So ein schwerer Schlag für die Familie! Das Mädchen war doch noch blutjung. Keine zwanzig, würde ich meinen.»

«Ach ja? Andere moderne Maler fördert er schließlich auch! Nein, der kann mich persönlich nicht leiden. Deshalb unterstützt er meine Kunst nicht!»

«Durch die offene Terrassentür ist der Mordbube reingekommen, habe ich gehört», mischte sich eine andere Kundin ein.

Gerlinde pumpte vor Empörung. Ihr beeindruckender Busen wogte heftig auf und nieder.

«Ach? Mein Gott, warum lassen die denn auch die Terrassentür im Winter offen!», sagte die Mutter des verkannten Künstlers ratlos. «Da kühlt doch das Haus aus!»

Eine andere Frau, die ihre Haare so straff zu einem Dutt gebunden hatte, dass die Haut am Haaransatz spannte, wusste noch mehr: «So ein Lüstling soll sie überfallen haben. Die Kleider waren ihr vom Leib gerissen. Alle! Die Knöpfe hatten sich über das ganze Zimmer verstreut.»

Ja, dachte Gerlinde boshaft, wer sonst keine Freude hat im Leben, braucht eben viel Phantasie – schmutzige Phantasie.

«Es war sicher einer dieser Entwurzelten. Davon streifen inzwischen genug hier in der Gegend rum. Ich verstehe gar nicht, wie die Polizei tatenlos zusehen kann! Sie wissen schon, diese stummen Männer mit Haaren den halben Rücken hinunter und einem Bart, der das ganze Gesicht verbirgt – bis auf die brennenden Augen. Wenn ich einem begegne, wechsle ich immer die Straßenseite», erklärte die matronenhafte Mutter des mageren Malers, die sich in ihrer grellbunten Kleidung wie ein Pfau im Balzkleid ausnahm neben der anderen Frau, die in nachtschwarze Röcke gehüllt war.

«Wie traurig, so kurz vor Weihnachten!», bemerkte der Künstler plötzlich empathisch.

«Ach, du meinst, kurz vor Ostern wäre es besser gewesen?», fauchte ihn die Bunte an, und er zog rasch den Kopf zwischen die Schultern.

«Nein, nein, natürlich nicht. So ein schreckliches Verbrechen sollte am besten gar niemanden treffen. Aber Weihnachten ist doch das Fest der Liebe, da erscheint es mir besonders grausam. Es ist die Zeit des Jahres, zu der sich die Familie zusammenfindet.» Er sah betroffen auf die Spitzen seiner glänzenden Schuhe hinunter. «Sie hat sich sicher darauf gefreut», setzte er leise hinzu.

«Ihr Vater lebt doch gar nicht hier. Er ist im Ausland. Afrika oder Indien, glaube ich. Wer weiß, ob sie ihn zu Weihnachten überhaupt gesehen hätte», rückte die Schwarze gerade.

«Das arme Kind!», reagierte der junge Mann voller Mitgefühl. «Wie traurig, wenn man gerade zu diesem Fest ganz allein ist.»

«Schon möglich, dass Sie recht haben», schnarrte die schwarze Frau nachdenklich. «Wer weiß, vielleicht war es gar kein Mord. Denkbar ist auch, dass sie sich umgebracht hat.» Jetzt lief sie zur Höchstform auf. «Ist ein schwieriges Alter, da sind besonders die Mädchen schrecklich sensibel. Vielleicht hat sie sich von allen ungeliebt gefühlt und dem Schmerz ein Ende gesetzt.»

 

Gerlinde sah mit Abscheu, dass die Augen der Frau lüstern blitzten. Und dabei hatte diese Person gerade noch von Kleidern geredet, die der Toten vom Leib gerissen wurden, stellte sie angewidert fest. Wie soll das denn zu einem Selbstmord passen?

«Nebbich!», mischte sich ein Herr in gesetztem Alter in Kamelhaarmantel mit Hut und edlen Handschuhen ein. «So ein Blödsinn! Heiraten wollte sie, und zwar sehr bald schon. Da denkt man doch nicht ans Sterben.»

Da dieser Herr offensichtlich über atemberaubend neue Informationen verfügte, wandten sich alle zu ihm um. «Heiraten?», schallte es dem Sprecher vielstimmig entgegen. «Ja, wen denn? Wusste der Vater davon?»

«Wollen Sie nun Brot kaufen oder nicht?», fragte die junge Frau hinter der Theke unwirsch.

«Ja, ich möchte!», erklärte Gerlinde und trat vor, schob sich an der schwatzenden Gruppe vorbei bis an den Tresen. Was die Leute so quatschen!, dachte sie abfällig. Alles nur Hirngespinste – aber es dauert keine halbe Stunde, und schon kennt das Gerücht die ganze Stadt!

Sie beeilte sich, nach Hause zu kommen. Doch am Anfang der Straße wurde sie von einem der Nachbarn aufgehalten. «Gerlinde! Ist es denn wahr, was man so hört?», erkundigte er sich unverhohlen neugierig.

«Kommt darauf an, was Sie gehört haben. Was beim Bäcker gerade so weitergegeben wird, ist alles erlogen», gab sie patziger zurück, als sie beabsichtigt hatte.

«Die Kleine ist tot?»

«Ja», bestätigte Gerlinde knapp und wollte weiterhasten, da hielt der aufdringliche Mann sie am Ärmel fest.

«Ermordet?», hauchte er nahe an ihrem Ohr, und sie bekam eine Gänsehaut.

«Ja!» Damit riss sie ihren Arm los und eilte weiter. Das ist doch wirklich nicht zu glauben!, dachte sie wütend.

Konrad erwachte nach unruhigem Schlaf.

Frieda war weg!

Er tastete auf ihrer Seite des Bettes nach. Warm. Seufzend zog er die Decke höher. Lauschte. Leise Schritte. Aus der Küche. Er seufzte abermals.

Wahrscheinlich war Helga schon wach und forderte ihr Frühstück.

Von unten drangen die normalen Geräusche der Stadt zu ihm herauf, die sich träge in den Tag räkelte, gähnte und erst langsam Fahrt aufnahm. Seine Stadt. Nun gut, korrigierte er sich, Leipzig gehörte irgendwie auch zu ihm – Leipzig und sein Freund Eggebrecht.

Konrad schloss die Augen wieder und träumte von dem neuen gemeinsamen Projekt, dem Reiseführer für die Stadt Dresden mit Texten von ihm und Photographien von Heinz Eggebrecht. Auf keinen Fall durften sie den Zwinger vergessen, die Frauenkirche, die Synagoge, das Kugelhaus. Die Semperoper! Beinahe wäre ihm die entfallen. Ach, und der Zirkus Sarrasani, ein geschichtsträchtiger Ort, der musste auch mit ins Buch! Immerhin war dort die Republik ausgerufen worden. Schade, dass er an jenem Abend nicht hatte dabei sein können – er hatte mit erheblichen Blessuren im Krankenhaus gelegen. Er runzelte die Stirn. Wie lang das alles her war! Ob Katja, die junge Roma, noch gelegentlich an ihn und seine tollkühne Rettungsaktion dachte?

Die Zimmertür quietschte.

Konrad fiel wie jeden Morgen ein, dass er sie ölen wollte, weil Frieda meinte, Helga werde von dem Geräusch immer geweckt. Heute Abend, nahm er sich vor – wie schon so oft.

«Bist du wach?»

«Hm.»

«Frühstück ist fertig. Du denkst dran, dass heute dein Freund Heinz Eggebrecht kommen will?»

«Heute?» Konrad öffnete das linke Auge.

«Hattest du nicht gesagt, er käme am Sonntag?»

«Nein, Heinz kommt morgen.» Er hörte selbst, wie unfreundlich er klang. Er konnte es nicht leiden, wenn er so sprach. Also kratzte er ein wenig Begeisterung zusammen und schwang sich aus dem Bett.

Harry schob sich zwischen Friedas Beinen hindurch und begrüßte Konrad, als habe er ihn seit Monaten nicht mehr gesehen.

«Frühstück! Na Harry, das werden wir uns doch nicht entgehen lassen! Ich bin schon fast da.» Als er an Frieda vorbeihuschte, drückte er ihr einen Kuss auf die Wange. Im Flur spürte er, wie ihr Blick sich zwischen seinen Schulterblättern verfing. Konrad Katzmann, rief er sich zur Ordnung, du benimmst dich wie die, die du immer verachtet hast! Gib dir mehr Mühe! Frieda kann ja nichts für deine Langeweile. Flugs bog er ins Bad ab.

Fritz Ganter seufzte schwer. Beim Lesen der Aussagen hatte ihn ein mulmiges Gefühl beschlichen, das sich nicht mehr zurückdrängen ließ. Hatten die feinen Herrschaften ihn nach Strich und Faden belogen? Verhöhnten sie ihn, während sie ihm mit unschuldigem Augenaufschlag Märchen auftischten?

Mireille hatte direkt nach dem Dessert den Tisch verlassen. Wäre es da nicht logisch, dass ihr jemand gefolgt war? Schon um sich zu vergewissern, dass sie nicht unter Unwohlsein litt. Und bei einer so schönen jungen Frau hätte sich doch ein Galan gefunden, der seinen Arm zu einem kleinen Spaziergang im Garten anbot. Er, Fritz Ganter, wäre seiner Frau selbstverständlich nachgegangen. Frauen waren schließlich immer für eine Überraschung gut. Aber galt das auch für diese Kreise?

Er schlug die Akte zu und brütete zornig vor sich hin. Was für ein Gezeter es gegeben hatte, als er die Tote hatte abtransportieren lassen! Gejammer und Geschluchze, so laut, dass er schon glaubte, man könne es bis zum Polizeigebäude in der Schießgasse hören. «Es wird eine ärztliche Untersuchung geben!», hatte Ganter den Weitershausens erklärt, was die Lage aber nicht verbesserte, sondern im Gegenteil nun auch noch dafür sorgte, dass man ihn flehentlich am Ärmel packte und um Gnade für die Ermordete bat. Im Nachhinein musste er zugeben, dass er diese Auskunft auch hätte diplomatischer formulieren können, aber zu jenem Zeitpunkt war er schon ziemlich gereizt gewesen.

Diese reichen Leute in ihren feinen Garderoben, die sich aufgeregt um die Leiche scharten, in, wie es ihm vorkam, wollüstigem Vergnügen und wohligem Schaudern! Ganter schüttelte sich. Wussten die überhaupt, was der Tod bedeutete? Ihm waren diejenigen lieber, die bei einer Ermordeten wahrhaft schockiert waren, ehrlich betroffen und echte Tränen weinten.

Theaterdonner und inszeniertes Geheul gehörten auf die Bühne – und nicht in ein Gästezimmer mit noch warmer Leiche! So konnte es nicht weitergehen, wurde ihm klar, er steigerte sich immer mehr in eine hilflose Verständnislosigkeit hinein. Ein bisschen Unterstützung wäre nicht schlecht. Konrad! Der kannte doch Gott und die Welt. Er wusste, wie man sich in diesen Kreisen bewegte, und konnte ihm sicher wertvolle Hinweise geben. Zum Beispiel zu den vielen Namen auf der Gästeliste. Und vielleicht hat er gerade etwas Zeit, überlegte Ganter. Wenn am Ende ein spannender Artikel dabei herausspringt, den er gut platzieren kann, hilft er sogar bei den Ermittlungen. Ganter schob erleichtert seinen Stuhl zurück und verließ beschwingt sein Bureau.

Konrad gab sich Mühe. Familienvater zu sein war für ihn noch immer eine Herausforderung. Er war auch nicht ganz bei der Sache. Irgendetwas beschäftigte ihn.

Frieda erkannte es daran, dass er zum zweiten Mal Zucker in seinen Kaffee schaufelte, ohne es zu bemerken. Helga schien die angespannte Atmosphäre nicht zu stören. Sie jagte fröhlich mit ihren kleinen Händen die Brotstückchen auf ihrem Teller, die Frieda ihr geschnitten hatte, und lachte glucksend, wenn es ihr gelungen war, eines zu fangen. Harry, der seine Familie stets aufmerksam mit einem Auge im Blick behielt, grunzte behaglich unter Konrads Stuhl.

«Haben meine Frauen denn schon einen Plan für heute?», fragte Konrad betont fröhlich und zwinkerte seiner Tochter zu.