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Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig: Eine Novelle

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Ich fand unter diesen Menschen eine Sittenreinheit, eine Überzeugungstreue und Liebesfähigkeit, eine Erhebung über alles Sinnliche, eine Leidenschaft des Geistes und Todesverachtung, – daß ich oft zerknirscht bis zum Selbstmordgedanken war, weil soviel Tugend und Verehrungswürdigkeit der geringeren Natur unerträglich sind.

Ach, wer vermag allzulange die Gesellschaft von Erzengeln zu teilen!

In solchen Augenblicken der Selbstverwerfung schlich ich mich wohl ins Zimmer der Spieler und mischte meine Stimme unter die Gurgelrufe, die der Bahn der Glückskugel folgten.

Meist hatte ich unter diesen verzerrten Gesellen, von denen jeder ein ausreichendes Verbrechen am Gewissen haben mußte, Glück im Spiel.

Selbst behielt ich aber nur wenig von dem Gewinn und legte die größere Hälfte in die Hände des alten Beschitzer, dem nicht wie Söhne, sondern wie Kinder die Russen anhingen.

Oft auch gab ich mich in einer Grabkammer des Turmgewölbes dem Opium hin.

Die glückseligen Träume des Mohnrausches sind unbestimmt und nicht zurückzurufen. Die Erinnerung bewahrt von ihnen keine Anschauung, nur eine ferne, süße Empfindung; ähnlich ist es, wenn wir plötzlich glauben, das Bewußtsein einer früheren kindhaft leichten Existenz dämmere in uns auf.

Die Bilder, die ich sah, vermag ich mir nicht mehr vorzustellen. Aber, wenn ich schlaff, wie nach ungeheurem Blutverlust, von der Schlafmatte stieg, bemächtigte sich regelmäßig folgende Phantasie oder Vision meiner, als wäre sie ein abgeschwächtes Echo, ein leises Coda des großen unverratbaren Traumthemas:

Auf einer Bühne – nein es ist ein Kasernenhof, – steht ein baumlanger, wilduniformierter Kerl, (der Kinoausrufer oder napoleonische Gardist der Spielhölle). Er schwingt eine riesige Peitsche über ein ganzes Heer von Rekruten, die in einförmigem Rhythmus Kniebeugen machen. Viele Gesichter sind darunter, die ich kenne. Der chinesische Hauswirt, Beschitzer, die anderen Russen, der Matrose, der allnächtlich sein Geld verspielt, Kameraden aus der galizischen Garnison, aber auch Frauen – ich sehe meine Mutter. Sie ist bloßfüßig, doch trägt sie das neue modische Straßenkostüm.

Die Peitsche saust!

Auf und nieder, auf und nieder heben und senken sich die Gestalten in der Kniebeuge.

Der riesige Flegel krächzt kurze Kommando- und Schimpfworte weithin in den hallenden Raum.

Da schwebt eine entzückende, immense Seifenblase vom Himmel nieder. Es ist der geistige Planet – („l’etoile spirituelle“ sage ich vor mich hin). Auf seiner irisierenden Glasur malen sich heitere Kontinente, blumenspeiende Vulkane, liebreizende Meere, Vegetationen von ungeahnter Vielfalt und Zartheit.

Langsam sinkt dieser selig elfendünn gewobene Ball hinab, jetzt zittert er über dem Haupt des Peitschenschwingers, jetzt berührt er es, wie ein Hampelmann zerreißt die ungeschlachte Figur nach allen vier Seiten und verschwindet. Aber auch die himmlische Seifenblase ist zersprungen und auf die Erde, auf alle Geschöpfe, die jetzt aus der entwürdigenden Kniebeuge emportauchen und aufrecht dastehen, fällt ein berückender Regen, unter dessen Tropfen unbekannte Palmen, Lianen, Pinien, Gingobäume aufwachsen und eine unerhörte Blumen- und Duftwelt sich entfaltet.

Ich aber wandle unter Millionen schönschreitenden Geschöpfen durch diesen maßlosen Garten mit meiner Mutter, die jetzt goldene Schuhe trägt.

Inzwischen war aus Rußland vom geheimen Zentralkomitee die Weisung über meine Verwendung eingetroffen. Beschitzer öffnete vor meinen Augen den Umschlag, der aus Moskau datiert war und einen gleichgiltigen Geschäftsbrief auf Firmenpapier enthielt.

Die Zuschrift wurde in eine Lauge geworfen, die Schreibmaschinenschrift verschwand, ein Stempel wurde sichtbar, der eine rote Hand in einem Flammenkreis zeigte, und folgende Ordre trat zutage:

Geheimes und Internationales
Zentralkomitee
Sitz Moskau

Moskau, am 5. Mai 1913.

An den Leiter der Donau-Sektion.

Leutnant Duschek soll keinesfalls aus dem Heeresdienst ausscheiden. Er ist, wie in einfacher Konferenz beschlossen wurde, als Propagandist bei der Armee zu beschäftigen, zu welchem Behufe er gebeten wird, bei möglichst vielen Truppenkörpern als Offizier zu wirken.

Unterschrifts-Chiffre
Stempel

Ich meldete mich bei meinem Kommando krank und erhielt einen mehrwöchentlichen Urlaub.

Sofort begann ich meine Tätigkeit.

Am Samstag abend und Sonntags machte ich mich in Tanzsälen, Schänken, Vergnügungspärken, Kinos, Sportplätzen und Ausflugsorten an Soldaten heran. Ich ging nach folgendem System vor:

Zuerst prüfte ich die Gesichter. Erblickte ich eines, das unzweifelhaft durch das dritte Jahr des Dienstes gezeichnet war und dessen Eigentümer weder eine Charge, noch eine Richt- oder Schießauszeichnung besaß und nicht stumpf, sondern mit jener verächtlichen Verbitterung dreinsah, für die mein Auge sehr geschärft war, so sprach ich ihn an. —

Zuerst erschrak er (denn ich war ja ein Herr Offizier), dann wurde er mißtrauisch, schließlich aber, halb ärgerlich, halb geschmeichelt, faßte er Mut, denn ich erzählte ihm, ich wäre sehr arm und hätte von meiner Leutnantsgage meine alte Mutter zu erhalten. Ich schilderte beweglich mein Elend, daß ich gezwungen wäre, die Zigaretten meiner Fassung zu verkaufen und kaum alle heiligen Sonntage dazu käme, selbst eine Zigarette zu rauchen, denn ein Schuldenmacher, wie die anderen Herren zu sein, das brächte ich nicht übers Herz.

Der Mann dachte sofort: „Da sieht man’s. Die großen Herren! Da haben wir’s ja, was hinter all der Aufdraherei, Schinderei und Schreierei steckt! Ein armer Hund, der sich schmutziger durch die Welt bringt, als unsereins. Wenn ich wieder im Zivil bin, habe ich mein Auskommen als Knecht, Raseur, Tischler, Maurer, Selcher usw. Und der da? Freche Bettler sind sie alle zusammen! Mir soll dann nur einer begegnen! Zweimal wird er mich nicht anschaun.“

Ich ging so eine Weile neben dem Gemeinen hin und sprach gehässig über die Offiziere und Feldwebel, besonders aber betonte ich, daß sie alle bestechlich seien und die Mannschaft um ihre Gebühren betrügen, indem sie die besten Lebensmittel und Sorten auf die Seite zu bringen wissen.

Das gefiel dem Mann; es war seine eigene Ansicht und er fing an, nach Beispielen und Belegen zu suchen. Plötzlich fragte ich ihn nach seiner letzten Bestrafung. Er geriet in Feuer und Wut, erzählte irgend ein Vergehen und brach in wilde Beschimpfungen gegen den Hauptmann Kallivoda, den Oberleutnant Gamsstoitner, diesen Hund, aus, gegen all’ die Namen, die mein eigenes Blut empörten.

Nun war er gänzlich warm geworden. Ich erwischte den günstigen Augenblick und bat ihn um eine Zigarette.

Halloh! Da war er ganz oben! Dem „Herrn“, dem ewig Unnahbaren eine Zigarette schenken, das schmeichelte, das war Wohlgefühl und Triumph über den aufgeblasenen Halbgott, der ein armer Lump, ein Stinker und ein Nichts ist.

Ich dankte für die Zigarette. Nicht jetzt würde ich sie rauchen, – später.

Der Mann wurde mitleidig und ich hatte ihn gewonnen.

„Das ist doch ein anderer,“ dachte er, „der hierher kommt und mit den Leuten lebt. Ich spuck mehr auf ihn, als er auf mich.“

Und jetzt begann ich mein Werk.

Und ich war erfolgreich, denn in kurzer Zeit hatte ich zwei Burschen zur Desertion verleitet und durch einige andere manch Tausend aufreizender Flugblätter in den Kasernen verteilen lassen.

Die Gefahr, die dieses Treiben für mich bedeutete, machte mich glücklich und zufrieden. Ich hatte einen Lebenszweck, das wagemutige Geheimnis erhob mich fast zur heiligen Schulterhöhe der Russen.

Aber es war noch ein anderes neues Gefühl, stärker als Haß und Rachsucht, das mich beflügelte und tollkühn machte. —

Vor wenig Tagen hatte ich sie das erstemal gesehen. Sie war über die Schweiz gekommen und lebte nun dasselbe geheimnisvolle, fast unphysische Leben wie die anderen Russen.

Nun! Wie soll ich Sinaïda beschreiben? Ich selbst bin ja „erwacht“, „gesund geworden“ und mein Gedächtnis kann kaum mehr die furchtbaren Überschwänglichkeiten meiner Jugend wiederholen.

Sinaïda! Ihre Landsleute gingen mit ihr um, wie die Getreuen mit einer Königin in der Verbannung umgehen. Das Geheimnis irgend einer Tat ruhte auf ihr, das einen unüberschreitbaren Abstand erschuf. Sie sprach fast niemals, und dennoch war der Zeiger aller Reden immer auf sie gerichtet, ihr Blick war ein ernsthaftes Starren, das immer ein wenig an dem vorbeireichte, den sie ansah.

Es war keine Spur von chargierter Schlamperei an ihr, ihr dunkles Haar war keineswegs kurzgeschnitten, ihre Kleidung wohlberechnet und anmutig.

So erwachsen ich auch war, die Liebe hatte ich noch nicht kennengelernt. Die Erzählungen meiner Kameraden von ihren Abenteuern hatten mir immer nur Ekel bis zum Brechreiz eingeflößt.

Allein, ich kannte die entsetzlichen Leidenschaften der Schwärmerei, die seelenzersprengenden, lebenverwüstenden.

Sinaïda übte auf mich eine zwiefache Macht aus. Die wie nach einer schrecklichen Anstrengung schneeweiße Stirne, der starre Blick, die zarten fast ironischen Schatten um die Mundwinkel zeigten, daß diese Frau nicht nur Leben hinter sich hatte, sondern etwas weit Höheres, Heiligeres, eine Tat, eine Aufopferung, ein Geheimnis, von solcher Würde, daß keiner jemals davon zu sprechen wagte. Dieses Geheimnis, als ein unbegrenztes moralisches Übergewicht, demütigte mich süß und schrecklich.

Und – sie war schön, mehr noch als das, viel mehr – Zauberei! Ihr Gesicht zu ertragen, schien für mich fast unmöglich. Wenn ich es eine Zeitlang anzusehen wagte, war mein Herz ausgepumpt, meine Glieder müde wie nach einem stundenlangen Ritt.

 

War aber der eine Pol meiner Empfindung jene moralische Demütigung, ein Geschöpf höherer Art, als ich es bin, vor mir zu sehen, so der entgegengesetzte Pol viel umfaßlicher, kaum zu begreifen.

Die Schönheit Sinaïdas war eine wesenlose Entzückung, die ihrem Kleid die süße Form gab, selbst aber Zephyr, Geist, Schwingung zu sein schien. Und doch – es war fast klar – sie hatte ein Gebrechen, wenn auch von zartester, unauffälliger Natur. Es schien, daß sich ihr Schritt nach der einen Seite etwas neigte, kaum merklich, aber in manchem Augenblick unverkennbar.

Dieses Unregelmäßige in dem Rhythmus ihrer Erscheinung (Hinken es zu nennen wäre zu viel und zu profan), dieses zarte Gebrechen riß mich hin, brachte mich um Verstand und Bewußtsein.

Der Gegensatz von ihrer Lebensüberlegenheit und Gebrechlichkeit erzeugte in mir einen magischen Strom von solcher Macht, daß ich jede Herrschaft über mich selbst verlor.

Und doch! Liebe wagte ich dieses Gefühl nicht zu nennen. Anbetung und Verwirrung! Diesen unirdischen Leib, dieser überirdischen Seelenkraft wollte ich nichts anderes sein als Knecht, Türhüter und Hund!

Dennoch! Beweisen wollte ich mich, ihr nicht nachstehen, die Glorie eines Geheimnisses auf mein Haupt versammeln, auch ich!

Sinaïda selbst behandelte mich so, wie Frauen einen Lebensanfänger behandeln.

Sie übersah mich.

Ich verdoppelte meine Anstrengungen in der Verhetzung der Soldaten. Es war ein Wunder, daß man mich noch nicht angegeben und ertappt hatte. Fast aber – um Sinaïdas willen, – sehnte ich eine Katastrophe herbei, die mich vor der Welt der Ordnung zum Verbrecher erniedrigen, vor ihr aber zum Märtyrer erhöhen sollte.

Eines Tages, als ich wieder eine Seele gefangen hatte und eifrig redend neben einem Gefreiten ging, der mir gestand, schon selbst einmal eine Meuterei angezettelt zu haben, wurde ich von rückwärts angerufen: „Herr Leutnant!“

Ich zuckte automatisch zusammen.

(Dieses Zusammenzucken werde ich und keiner, der einen langen Militärdienst geleistet hat, je überwinden können.)

Ich drehte mich um – ich, der Revolteur, – und blieb in Vorschriftshaltung stehen. Der General, der mich gestellt hatte, war mein Vater! Mit böswilligem Wohlgefallen an sich selbst, hüftenwiegend, trat er näher. Einen Handschuh hatte er abgestreift und trug ihn zugleich mit einer Reitgerte, die er regelmäßig gegen den Schenkel schlug, in der Hand. Sein Auge kniff ein schwarzrandiges Monokel, dessen absichtsvoll breite Schnur ausladend herabhing.

„Ah, du bist es,“ höhnte er, „das hätte ich mir gleich denken können!“

Wo war mein Mut? O Sinaïda!

Stramm stand ich und trank die Worte eines Vorgesetzten.

„Bist du nicht oft genug darüber belehrt worden, daß Offizieren der außerdienstliche Umgang mit Mannschaftspersonen untersagt ist? Hast du nicht selbst genug Verstand, um einzusehen, wie schädlich diese falschen und ungebührlichen Vertraulichkeiten für den allerhöchsten Dienst sind?

Aber dich kenne ich schon!

Sieht man dich einmal, so geht es ohne Anstand nicht ab. Weißt du – dich möchte ich unter meinen Leuten nicht haben, Gott bewahre! – Aber stündest du unter meinem Kommando, so könnte dir der Teufel gratulieren! Ich wollte dich aufmischen, mein Lieber!“

Er sah auf die Uhr.

„Wo steckst du, was treibst du?

Jetzt ist es erst halb fünf. Bist du schon dienstfrei, gibt’s keinen Kurs, hast du das Recht, zu flanieren? Wenn ich das zweitemal auf Unregelmäßigkeiten komme – du – mit mir wage nicht zu spaßen! Hörst du? Ich verlange soldatische Haltung, soldatische Pflichterfüllung von dir! Und, was ich sonst noch zu sagen habe – — – na, merk’ dir’s! Servus!“

Er fuhr mit gebogenem Zeigefinger halb gegen die Kappe, ließ mich stehen – und, – Satan – ich salutierte betreten und stramm.

„Ihm nach, ihm nach,“ – es riß mit mir, als ich zu Bewußtsein kam, – „und in den Straßendreck mit dir! Mörder, Seelenverkäufer, Menschenschinder, ungebildeter Frechling, roher Schwachkopf!“

Ich stand wie auf einem schwankenden Segelboot. Doch plötzlich fiel mir Sinaïda ein. Kränkung und Wonne gaben einige erleichternde Tränen her. Ich hörte mich murmeln: „Es kommt der Tag!“

Allabendlich, knapp nach dem Dunkelwerden, pilgerte ich zu meinen neuen Freunden.

Traumhafte, stundenlange Gänge durch die Nacht, die ich entweder allein oder in Begleitung Herrn Seebärs zurücklegte. Ob es mehr war als Spiel und Opium, was den taubstummen Bücherrevisor in jenes mysteriöse, auch für mich niemals übersichtliche Haus zog, das habe ich nie erfahren können.

Diesmal empfing mich der Chinese erregt und unruhig. Er winkte mir geheimnisvoll, zupfte mich und öffnete eine Falltüre. Seine Blendlaterne leuchtete mir eine Seitenstiege hinab. Ich gelangte über unwegsame Stufen in einen Keller. – Ein riesiges, feuchtes Gewölbe, dessen Größe gar nicht abzumessen war! Vermutlich die alten Kellereien der Abtei auf dem Berge.

Um einen Tisch, auf dem Windlichter standen, denn es wehte hier scharf, saßen in feierlicher Ordnung die Russen. Beschitzer präsidierte. Sein Gesicht, vor innerer Bewegung, war noch wächserner als sonst, ohne Falte, ja ohne jedes vergnügte Äderchen des Lebensgenusses. Ich bemerkte die außerordentliche Schmalheit seiner Nasenwurzel, diese edle Nase mit der schärfsten Spitze, die man sich denken kann. So spitzige Nasen im guten und schlechten Sinn trifft man immer bei theologisch gerichteten Menschen an.

Ihm zur Seite saß Sinaïda, die strenger als sonst über mich hinweg sah; ihre zerbrechlichen Hände schimmerten in den schleimigen Ausstrahlungen des Raumes.

Am unteren Ende des Tisches wartete schon ein Stuhl auf mich. Chaim winkte mir. Ich setzte mich nieder.

Keiner unterbrach auch nur durch ein Zucken der Wimper das erhabene Starren. Niemals hat mich die gesammelte Gewalt so vieler mächtigen Seelen mehr erdrückt, als in dieser endlosen Minute des Schweigens, das nur durch die greisen, knorrigen Atemzüge des uns zu Häupten arbeitenden Stromes unterbrochen wurde.

Endlich setzte Beschitzer einen verbeulten Zwicker auf und entfaltete ein Schriftstück.

Er sprach zuerst einige russische Worte. Dann rief er singend und vibrierend: „Wer hätte das gedacht?“ Sein Akzent wurde fast unverständlich. „In die Arme läuft er uns!“ Nach einer Pause:

„Hört, Brüder, was das Komitee mir schreibt!“ Die Stimme des Vorlesers stockte und zitterte.

„Wir teilen Euch mit, daß der Zar am 30. Mai in W. eintreffen wird, und zwar um 7 Uhr 35 Minuten morgens in einem Sonderzug, der als langer Personenzug maskiert ist.

Die Ankunft erfolgt am Nordbahnhof, gerade in dem Augenblick, wo die beiden Gegenschnellzüge ein- und abfahren, also der größte Trubel herrscht. Für diesen Train ist das dritte Geleise, vom Ankunftsperron gerechnet, reserviert.

Der Zar reist in Zivil, ebenso wie das gesamte Gefolge, das etwa aus dreißig Herren der näheren Umgebung und aus hundert Polizeiagenten besteht, denen selbstverständlich die gleiche Anzahl schon vorausgeeilt ist.

Der Zar wird voraussichtlich einen grauen Jackettanzug mit weichem grauen Hut tragen, den Charakter eines wohlsituierten Arztes führen und einem Waggon zweiter Klasse entsteigen. Ferner ist es möglich, daß der Zar eine runde Hornbrille mit breiter Fassung tragen wird. In seiner Begleitung dürfte sich Botschafter Iswolski und Minister Sasonow befinden.

In der äußeren Ankunftshalle wird der Kaiser, der eine kleine Reisetasche selbst in der Hand hält, von einer Frau mit zwei kleineren Kindern empfangen werden, die als Familie mit lauten Worten eine innige Begrüßung zu agieren haben.

Dann begibt sich die Gruppe zu dem Autotaxameter Nr. 3720, der sich jedoch erst anrufen läßt. Neben dem verkleideten kaiserlich königlichen Chauffeur wird ein Mann in dürftigem Anzug sitzen, der Chef der dortigen Staatspolizei.

Die Familie, d. h. der Zar und die Frau mit den beiden Kindern, fahren in die Residenz von S., wo der Zar am öffentlichen Eingang des berühmten Schloßparks das Auto verläßt, welches weiterfährt. Der Kaiser, die kleine Reisetasche in der Hand, schreitet die große Taxusallee hinan und begegnet bei der zweiten Wegkreuzung um 8 Uhr 20 Minuten dem jungen Erzherzog K., der sich mit ihm ins Schloß begibt.

Es sind also zwei gute Attentatsmöglichkeiten vorhanden, von denen allerdings die letztere, weil sie weniger Menschen in Gefahr bringt, vorzuziehen wäre. Das erste Attentat müßte vor der Bahnhofshalle, und zwar am besten durch Schußwaffe aus möglichster Nähe erfolgen, das zweite vor dem Parkportal, und zwar hier am besten durch Aufschlagbombe.

Eventuelle Veränderungen in der Disposition werden durch chiffrierte Telegramme mitgeteilt werden.

Die streng geheime Reise des Zaren wird den mächtigen Zeitungsherausgebern Europas verborgen bleiben. Außer den Häuptern der dortigen Dynastie und den politischen Chefs wird niemand etwas erfahren.

Zweck der Reise ist eine Konferenz über die durch die albanische Frage verwirrte internationale Lage, die unter dem Präsidium des alten Halunken stattfinden wird.“

Eine Ewigkeit lang schwieg jeder Atemzug, während Beschitzer bedächtig, doch mit unbemeisterten Händen das Blatt zusammenfaltete. Dann hörte ich ihn leise fragen: „Wer?“

Alle Männer schnellten auf, erhoben ihre Hand und schrien: „Ich!“

Ich allein blieb sitzen.

Teilnahmslos dunkel traf mich der Blick Sinaïdas.

Sie hatte nichts anderes von mir erwartet.

Da fuhr ich empor. Der Stuhl hinter mir kippte um:

„Nicht ihr, ich, ich werde es tun.“

Raserei! Empört machten die Männer Miene, sich auf mich zu stürzen. Durcheinander schrie’s: „Wer bist du?“ „Neuling!“ „Grüner!“ „Kommisknopf!“ „Was weißt du?“ „Wen hat er dir umgebracht?“ „Bist du schon an einer Wand gestanden?“

Ich blieb fest und sagte ruhig:

„Bedenkt doch den Vorteil, wenn ihr mich wählt! Ich bin unverdächtig, ein Offizier! Überall habe ich Zutritt. Die Schloßwache präsentiert vor mir. Wenn ich mich dem Zaren nähere, halten mich die Polizeiagenten gewiß für einen Funktionär. Ich allein kann es mit höchster Möglichkeit des Gelingens vollbringen. Euch verhaften sie schon, wenn ihr nur den Kopf ins Freie steckt. Bedenkt das!“

Von neuem erhob sich der erbitterte Widerspruch der Russen.

Plötzlich wurde es still. Sinaïda hatte gesprochen:

„Er hat recht! Laßt ihn! Er soll es tun.“

Elektrischer Schlag. Sie hatte mich gewürdigt. Nun war ich Akkord und glaubte an Gott.

Der alte Beschitzer hatte das Haupt gesenkt und schien zu schlafen.

Da! Er hob die dicken gefälteten Lider, zeigte mit der Hand auf mich:

„Du!“

Die Entscheidung war gefallen. Kein Blick der Kränkung und des Neides traf mich mehr. Mit einem Male war ich über alle erhoben. Ich fühlte, wie von mir die Strahlen der Auserwählung und Todgeweihtheit ausgingen.

Ich spürte Sinaïda nahe neben mir. Sie sah mich an. Sie sprach zu mir. Ich sah – ich sah und hörte keine Worte. Sich hinwerfen! Singen! Weinen! Die Seele war mir so weit!

Im Morgengrauen begleiteten mich Sinaïda und Hippolyt Poltakow in die Stadt. Wir sprachen kein Wort. Milchwagen klingelten in die Dämmerung. Der Flieder rief schon stark von allen Seiten.

Zwei Abgeschlossenheiten wanderten wir nebeneinander, sie und ich, jedes für sich, unerreichbar dem andern, zwei eingemauerte pochende Leben, die nie ineinander werden verfließen können.

Und doch! Eine Heilige, mit ihrem Haar hat sie die Füße des Jesus getrocknet.

Der Morgen, nicht nur für diese Erde geschaffen, schwebte hinab und wieder zur Höhe. Sinaïdas Schritt klang mit seiner zarten Ungleichmäßigkeit auf der harten Straße, wie auf einer mächtig gespannten Saite.

Ganz leicht, in der fernsten Ferne meiner Selbst, hörte ich den heiligen Marsch. Ja, den Marsch des mystischen Militärs, das alla marcia der Neunten Symphonie, ich hörte es nahen.

Ach, noch in der Unendlichkeit der unsichtbaren Sternbilder fielen die Paukenschläge und wiegten sich die schwebenden Schritte der Zahllosen. Aber näher wälzt sich schon das Meer der leichtfüßig Geharnischten. Ein Schuß, eine Explosion! Das Leben kommt mit dem Schrei eines erwachenden Ohnmächtigen zu sich und begräbt in den Tiefen seines erlösten Stroms die Trümmer der Individuen. Dann werde ich eins sein mit ihr, eins auch mit dem Feind, dem Vater!

Die nächsten Tage verbrachte ich in der angestrengtesten Weise mit den Vorbereitungen zum Attentat. Ich hatte das Parkportal in S. gewählt.

Ich nahm an, daß die große Taxusallee am Morgen des 30. Mai für das Publikum gesperrt sein würde, während der Platz vor dem Eingang dem Verkehr offenbleiben dürfte, um jedes Aufsehen zu vermeiden. Zur Vorsicht wollte ich aber in dem großen Hotel, das dem kaiserlichen Sitz gegenüberlag, übernachten, um zu jeder Zeit, als gehörte ich zu den Aufsichtsorganen, auf den Platz hinaustreten zu können.

 

Sollten die Gäste des Hotels unter Kontrolle stehen, so würde der bekannte Name, den ich trug, gewiß kein Mißtrauen erregen.

Mein Plan war bis in die letzte Möglichkeit einer Überraschung ausgearbeitet. Zur Vollstreckung des Todesurteils hatte ich eine Wurfbombe mit höchst brisanter Ladung gewählt.

Fünf Tage nur trennten mich von dem großen Datum. Die ersten zwei brachten Ereignisse von Wichtigkeit für mich. Sinaïda hatte plötzlich meine Hand ergriffen. Eh’ ich aber noch ein Wort sagen konnte, war sie mit einem gequälten Gesicht davongegangen und ließ sich an diesem Abend nicht mehr blicken.

Zum Zweiten hatte mich um die nächste Mittagsstunde ein Mann in etwas arrangierter Vernachlässigung angesprochen und sich nach seinem Freunde Beschitzer erkundigt, mit dem er gemeinsam in London, wie er vorgab, das „Comité de l’action directe“ geleitet hatte.

Er sei ein alter „Kamerad“, versicherte er, einer der Ältesten überhaupt, hätte zuletzt in der Omladina gewirkt und würde mir sehr dankbar sein, wenn ich eine Zusammenkunft zwischen ihm und dem alten Chaim vermitteln wollte, dessen Aufenthaltsort er nicht wüßte.

Ich fuhr den Mann an, wie er es wagen könne, einen Offizier zu belästigen, und ließ ihn stehen. Sollte man mir auf der Fährte sein? War das einer der vorausgesandten russischen Spitzel? Ein Fremder wußte von mir. Unter den tausend Leutnants auf den Straßen hatte er mich herausgefunden. Ich war gewarnt und unterließ es an diesem Abend, das Haus der Verschwörer aufzusuchen. Unruhe verlieh mir eine übermäßige Wachheit. Ich musterte alle Vorübergehenden scharf – und es war mir, als wären hundert Verfolger unter ihnen.

Das dritte denkwürdige Ereignis war ein Brief der Generalin, meiner Stiefmutter. Hier ist er:

„Mon cher! Warum beleidigen und agacieren Sie Ihren Vater durch andauernde Nichtachtung und Nichtbeachtung? Damit handeln Sie vor Gott und den Menschen nicht recht.

Ihr Vater ist Ihr Wohltäter!

Vergessen Sie das nicht! Er selbst hat es mir in einer Stunde erbitterter Kränkung über Sie versichert.

Sie sind ihm Dank schuldig. Er hat Ihnen das Leben gegeben. Er hat Ihnen eine standesgemäße Erziehung zuteil werden lassen, seine Aufmerksamkeit nie von Ihnen abgezogen, und Sie gefördert, wo es nur anging.

Und wie haben Sie es ihm vergolten? Durch Kälte, Indolenz und durch eindeutiges Fernbleiben!

Sollten Sie allein es sein, der nicht weiß, daß Feldmarschalleutnant Duschek nicht nur einer der ausgezeichnetsten Führer unserer Armee, sondern auch der beste Mensch ist, der überhaupt lebt?

Und dann! Ihr Vater ist krank, sehr schwer krank, und Gott allein weiß, ob er uns lange noch erhalten bleibt.

Hüten Sie sich vor der Reue, die einst dem ungetreuen Sohn schwer auf der Seele lasten müßte. Noch ist es Zeit, vieles gut zu machen, durch einen herzhaften, gütigen Schritt Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen. Noch ist Zeit! Das ist es, was ich Ihnen in mütterlicher Freundschaft sagen wollte.

Ihre Natalie.“

Ich warf den Brief wütend in einen Winkel. Wohltäter? Über diese ungeheure Frechheit hätte man sich totlachen können! Aber – er ist krank, – und ich wußte es nicht.

Welche Leiden muß er wohl in den Nächten erdulden? Vielleicht hilft ihm Brom und Morphium nichts mehr.

Und dann! Er, der Unnahbare, Souveräne, der Drübersteher, er leidet unter meiner Kälte und Vernachlässigung? Also muß er ja nach meiner Wärme und Teilnahme Verlangen tragen!

Wie ist das? Er besitzt in mir seinen Sohn. Aber wünscht er sich nicht einen Sohn, der seine Interessen teilt, der ihm gefällt, elegant und erfolgreich ist, ein Offizier von Chic und Schneid, der mit ihm über das Mai- und Novemberavancement plaudert? Dieser Sohn bin ich nicht. All das, was ihn angeht, was seine Sphäre ist, hasse ich!

Aber er, er allein ist schuld an meiner Feindschaft. Hat er mich nicht nach seinem Bild gedrillt, mich in seine Fußstapfen gezwungen, kalt, herrisch, unverständig meine Jugend in ein Zuchthaus verdammt?

Rache dafür!

Halt! Welch ein Gedanke? Er, der kranke Mann, leidet unter meiner Kälte? Ist es möglich? War seine abweisende Haltung gegen mich von jeher nur die Folge meiner abweisenden Haltung gegen ihn?

Unmöglich! Und doch! Ein Kind kann ja tief beleidigen! Oder – stehen wir beide vor einem unbegreiflichen Gesetz, uns in der Ferne suchen und in der Nähe hassen zu müssen.

Ich verjagte diesen für mich gefährlichen Gedanken. Denn ich fühlte, wenn die geringste Regung für meinen Vater (den alten, kranken Menschen) mich erfaßte, – ich könnte meine Tat im Stiche lassen, – und – selbst – Sinaïda!

Am Morgen des 27. Mai ging ich mit meinen Freunden in die Auen des großen Stroms hinaus. Die neuen Bomben sollten ausprobiert werden.

Es war eine wundersame Wildnis, wo wir Halt machten. Wildgänse, Reiher, Störche zogen über uns dahin. Libellen und Milliarden Insekten zitterten über den Urverschlingungen dieses Dschungels, der nur ein wenig seitab von der Weltstadt lag.

Die Explosion verwundete einen großen fasanenartigen Vogel, der aus den Ästen einer Esche ins Gras fiel und tiefsinnig regungslos mit den offenen Augen der Erkenntnis liegen blieb.

Schweiß der Scham und des Verbrechens brach mir aus allen Poren. Wie habe ich gestern noch mich als Erlöser gefühlt?!

Nun hatte ich ein Fleckchen dieses Sterns mit Blut gefärbt. Von diesem Augenblick an erfaßte mich das Bewußtsein meines Vorhabens mit ganzer Wucht. Ich ertrug weder zu sitzen, noch zu stehen. Meine Glieder zitterten. Mich peinigte ein unlöschbarer Durst. Ich trank ein Glas Wasser nach dem anderen. Ich floh zu den Träumen des Opiums. Als ich ermattet das achteckige Turmgewölbe verlassen wollte, stand ich plötzlich vor Sinaïda. Auf ihrem bleichen Gesicht fand ich neue Schatten. Sie trug einen großen Bernsteinschmuck, der dumpfe Strahlen warf.

Schreck und süßes Herzklopfen nahmen mir den Atem:

„Auch Sie?“

„Auch ich, seitdem mich die Furien verfolgen.“ Sie verschränkte die Finger ineinander, als wollte sie sie zerbrechen.

Ich faßte Mut:

„Warum haben Sie vor zwei Tagen meine Hand genommen und sind dann fortgelaufen, Sinaïda?“

„Ich habe Mitleid mit Ihnen gehabt. Sie sind ein Kind, ein kleines Kind!“ „Wieso denn Mitleid?“

„Sie haben mehr auf sich genommen, als Sie wissen!“

„Attentat?“

Sinaïda sah mich langsam an:

„Wie unsachlich sind doch die Männer, die Sachlichen, die Objektiven? Noch kein Mann hat etwas Gutes und Schlechtes, etwas Großes oder Niedriges aus einem anderen Grunde getan, als sich selbst zu erhöhen. Was sind denn all eure Entschlüsse und Taten wert? Ich habe noch keinen Mann gesehen, der wirklich gelitten hätte! – Ihr könnt an nichts anderem leiden, als an der Erniedrigung eurer Persönlichkeit. Und darum mißhandelt ihr die Welt so!“

„Gibt es denn ein anderes Leiden?“

„O, es gibt nur ein Leiden. Dieses Wort müssen Sie aber sehr weit verstehen! Das Leiden der Mütter!“

„Kennen Sie dieses Leiden, Sinaïda?“

„Ich kenne dieses Leiden.“

„So sind – so – so waren Sie selbst Mutter?“

Sinaïda fuhr langsam mit der Hand über ihr Haar. Dann sagte sie sehr einfach: „Nein!“

Als ich schwieg, sah sie mich mit in der Ferne beschäftigten Blicken an.

„Nein, ich war niemals Mutter – und – und – ich werde es jetzt auch niemals mehr werden.“

„O Sinaïda!“ Ich hätte auf die Knie fallen mögen. Diese Heilige! Ich sagte:

„Alles, alles wird Ihnen in Erfüllung gehen!“

Sie zog ihre Hand zurück, die ich nehmen wollte:

„Nein! Niemals mehr! Ich bin im Vorjahre schwer krank gewesen! Seither ist diese Hoffnung vorbei. Im übrigen die gerechte Strafe.“

„Strafe?“

Sie schloß die Augen.

„Ja und sehr gerecht.“

Plötzlich sagte sie mit leichterer Stimme:

„In zwei Tagen werden Sie einen Revolver abdrücken! Aber ich warne Sie! Klopft es in Ihrem Zimmer des Nachts, als wären die Wände hohl? Sind Sie in der Dämmerung auf der Hausstiege einem alten Herrn begegnet, der ein trauriges Gesicht macht und dessen Schritte lautlos sind? Meist trägt er einen unmodischen Zylinder. Seine silberne Uhrkette funkelt.“

„Was fragen Sie da?“