Marathon Reloaded

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Marathon Reloaded
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Franz Staab

Marathon Reloaded

Sie laufen noch nicht? Dann lesen Sie dieses Buch. Danach werden Sie es tun. 5 Marathon-Reiseberichte zum Infizieren.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zehn Gründe, nicht mit dem Laufen zu beginnen

In den Wald gehen

QUEEN OF ROTTERDAM

MARATHONTANGO

FIFFIS WELT

BAUMBLATTMEMORY IM SCHÜTTELGLASSCHÖNEN BASEL

ACHTZIG RETOUR BITTESCHÖN

Frühstück

Mehr vom Autor

Impressum neobooks

Zehn Gründe, nicht mit dem Laufen zu beginnen

Prolog

1. Es macht Ihnen ungeheuren Spaß dabei zuzusehen, wie ihr Körper jenseits der Dreißig immer schwammiger wird. Außerdem hat es Sie so viel Geld und Zeit gekostet, sich ihre blasse, nach unten hängende Plauze mit Fastfood, Weißmehlware und Nussnougatcreme anzufuttern, dass Sie es einfach nicht über’s Herz bringen, diesen immer größer werdenden Rettungsring zum Teufel zu jagen.

2. Das stimmt gar nicht, dass Frauen Männer mit Waschbrettbauch mögen oder Männer Frauen, die knackig sind. Ihre Frau mag Sie, so wie Sie sind und Sie mögen sie, so wie sie ist. Warum sollten Sie daran etwas ändern? Sie macht ihr Ding und Sie machen ihr Ding und das ist auch gut so. Wenn Sie jetzt (am Ende noch gemeinsam?) Sport machen würden, dann gäbe das nur Ärger.

3. Sie wollen überhaupt nicht fitter und attraktiver werden und Sie wollen erst recht nicht, dass das Ihr Partner wird, mit Sport oder so. Am Ende läuft der/sie Ihnen noch weg und Sie stehen alleine da.

4. Es macht Ihnen Spaß, im Kreise Ihrer Arbeitskollegen IMMER einer von denen zu sein, die wie eine leckgeschlagene Dampfmaschine pfeifen, wenn sie einmal eine Treppe steigen müssen. Und Sie möchten Ihrem Chef auch weiterhin die Gewissheit gönnen, dass er auf jeden Fall fitter ist als Sie.

5. Wenn Sie abends vor dem Fernseher sitzen, wollen Sie nicht auf Ihre drei Stunden Reality-TV, Daily Soap und vor allem nicht auf das sinnlose Herumzappen verzichten. Sie finden es geradezu grotesk, dieses, anstatt drei Stunden, künftig nur noch zwei Stunden oder eine Stunde tun zu können!

6. Angeblich wird man als Ausdauersportler nicht mehr so oft krank, man wird angeblich abgehärtet. Aber was ist schon dabei, regelmäßig erkältet zu sein und damit seinem Chef und dem Staat ständig auf der Tasche zu liegen? Schließlich bezahlen Sie genug Krankenkassenbeiträge, dann werden Sie ja wohl regelmäßig erkältet sein dürfen. Außerdem haben Sie dann ja mehr Freizeit, wenn Sie oft krankgeschrieben sind! Die sind schön blöde, die Sportler. Sportlich sein, heißt viel gesünder, heißt weniger krank sein, heißt mehr arbeiten müssen, voll doof.

7. Diese ganzen Leute, die in so engen - wie nennen die das? – Funktionsklamotten rumlaufen, die haben alle einen Dachschaden. Sie wollen keinen Dachschaden haben. Und was das ein Geld kostet! Wahnsinn! Wie oft Sie sich dafür ein Schnitzel mit Pommes leisten könnten, für das schöne Geld!

8. Sie haben so viele gesundheitliche Probleme, jetzt schon. Sie haben Knieprobleme, Kreislaufprobleme und wenn Sie mal schwitzen, erkälten Sie sich sofort. Das ist bei Ihnen sicher Veranlagung. Sie sind einer von den Menschen, die das nicht können, Sport machen. Ja, stimmt, Sie können da auch nichts dafür, das ist halt so. Sie haben halt Pech gehabt. Und ihr Arzt wäre da auch nicht glücklich drüber, wenn Sie jetzt anfangen würden, sich so zu quälen. Bei Ihnen geht das alles nicht.

9. Sie mögen Chips, Coca Cola, Fast Food, Pizza, Nudeln. Sie trinken gerne mal ein Bierchen oder zwei und Sie sitzen gerne mit Ihren Kumpels in irgendeiner Kneipe. Das mögen Sportler doch alles gar nicht. Sie wollen auf diese Sachen nicht verzichten und auf Ihre Kumpels wollen Sie auch nicht verzichten. Deshalb denken Sie gar nicht daran, mit dem Laufen zu beginnen. Weil, wenn man läuft, dann geht das alles ja NIE MEHR! Basta.

10. Sie haben Ihren Kindern versprochen, dass Sie mit denen heute das neue „Game“ zocken, das Sie ihnen zu Weihnachten geschenkt haben. Das alte kennen Sie alle schon in- und auswendig. Und wenn Ihre Kinder und Sie jetzt Sport machen würden, dann hätten Sie ja gar keine Zeit mehr zum Zocken. Das geht ja gar nicht. Außerdem sind Ihre Kinder und Sie selbst nicht dick, sie sind nur ein bisschen kräftig. Oder halt gut genährt.

Mir ist klar, dass diese zehn Punkte an Zynismus nicht zu überbieten sind und maximal knapp am Quatsch vorbeischrammen. Aber wenn Sie mir auch nur in einem dieser Punkte Recht geben, dann sage ich Ihnen, dass Sie nicht nur mich, sondern auch sich selbst belügen. Wenn es so ist, dann geben Sie sich einen Ruck und lesen Sie die zehn Punkte noch einmal durch. Hören Sie in sich hinein und seien Sie ehrlich zu sich selbst. Lachen Sie sich meinetwegen schlapp über meine zufällige Anhäufung von zehn Gründen gegen das Laufen, aber bitte: Geben Sie mir um Himmels Willen nicht in einem dieser Punkte Recht!

Mit dem Laufen zu beginnen, ist leichter als beispielsweise mit dem Rauchen aufzuhören, und es ist leichter, als die meisten anderen Dinge im Leben. Und, wenn man einmal damit angefangen hat, werden viele schwere Dinge im Leben plötzlich ganz leicht.

Dieses Buch soll ganz bewusst keine „Gebrauchsanweisung“ sein. Ich werde keine „Profitipps“ geben und keine Tabellen mit Trainingsplänen einfügen. Das können andere besser. Ich werde Ihnen einfach nur erzählen, was ich, ein kompletter Laufamateur und unbekannter Nobody auf diesem Gebiet, erlebt habe. Zusammen mit meinen Freunden vom TV Goldbach, meinem Heimatverein, in dem ich, ein Mensch, der Läufer bis 2007 für Aliens gehalten hat, aktives Mitglied bin.

Der Autor

In den Wald gehen

Als ich ein kleiner Junge war, bin ich sehr gerne mit meinem Vater oder der Nachbarsoma in den Wald gegangen. Im Frühjahr haben wir Sträuße aus frischem Grün geschnitten und mit heim genommen. Im Sommer haben wir Beeren gesammelt und auch diese mit heim genommen. Im Herbst haben wir Pilze gesucht und haben diese natürlich ebenfalls mit heim genommen. Das hat mir alles sehr viel Spaß gemacht.

Es gab für mich nur wenige Dinge, die mich so sehr begeistert haben, wie diese Touren durch den Wald. Und es gibt auch nur sehr wenige andere Dinge, an die ich mich so exakt und so genau erinnere. Zu Fuß in die Natur zu marschieren, einen Korb oder eine Kordel dabei und ein Messerchen, oft schon in den frühen Morgenstunden, das war für mich schon damals etwas ungeheuer Befriedigendes. Und es war natürlich immens wichtig für mich als Mensch.

Wahrscheinlich war das „in den Wald gehen“ vor allem auch deshalb so etwas Tolles für mich, weil es ein vollkommen wesentliches Tun war. Loslaufen, etwas suchen und finden, ernten, an sich nehmen und heim tragen.

Und alles zu Fuß.

Erst heute reflektiere ich, dass dieses „in den Wald gehen“ mir schon als Kind einen Ausgleich verschafft hatte vom Alltag. Von der Schule. Vom lernen und Hausaufgaben erledigen. Als Kind weiß man noch nicht, warum man etwas tut, man weiß nur, dass man es tun will.

Erst jetzt weiß ich, ich bin schon damals gewissermaßen „gelaufen“, denn wenn man als Kind mit einem Erwachsenen Schritt halten will, muss man ja einen Schritt schneller gehen! Also bin ich gelaufen, während der Erwachsene an meiner Seite gegangen ist.

Und schon damals im Laufen habe ich genau das erlebt, was ich jetzt wieder erlebe: Dass das dauerhafte Bewegen innerhalb einer bestimmten Schlagzahl mich vollkommen einnordet. Ich finde durch das Bewegen, innerhalb meines ganz persönlichen Rhythmus, einen Weg in meine ganz eigene Balance. Ich werde eins mit mir und fahre runter. Cooldown. Ich resete mich. Das tut mir unglaublich gut und mir fehlt mittlerweile etwas, wenn ich es nicht tue. So wie mir früher etwas gefehlt hat, wenn das gemeinsame „in den Wald gehen“ mit dem Vater oder der Nachbarsoma mal ausgefallen war.

Vor einigen Jahren, die Erinnerungen an meine läuferische Kindheit war sehr verblasst bis fast verloren, wurde ich wieder als „laufender“ Mensch neu geortet und in der Folgezeit wieder ganz neu eingenordet. Ganz zufällig habe ich wieder, im übertragenen Sinne, das „in den Wald gehen“ gelernt, indem ich mit meiner Frau oder besser, durch meine Frau, das Laufen angefangen habe. Ich habe das zweite Mal in meinem Leben versucht, einen Schritt schneller zu gehen.

Dabei habe ich wunderbare Dinge erlebt.

QUEEN OF ROTTERDAM
Fortis-Marathon 2008 Rotterdam

Als meine Frau Tina 2008 in Rotterdam vor ihrem Marathondebut stand, sagte sie zu mir: „Du fährst doch sowieso mit nach Rotterdam, dann kannst Du doch dort auch laufen! Man kann dort auch einen Zehner laufen, das schaffst Du doch, wenn Du ein bisschen trainierst. Und wir könnten ab und zu mal zusammen laufen, das wäre doch schön!“.

 

Ich wollte nicht.

Doch meine Frau ließ nicht locker. Sie nervte mich solange, bis ich irgendwann nachgab und einwilligte. Aber nur über die kürzeste Distanz. Zehn Kilometer!

Sechs Monate vor der Reise begann ich mit den ersten Laufversuchen. Es war ein Fiasko. Nach noch nicht einmal fünfhundert Metern war ich platt. Erst kurz vor Reiseantritt wusste ich, ich kann die zehn Kilometer tatsächlich durchlaufen. Dennoch sah ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht als richtigen Läufer. Zu groß war die Kluft zu den Volldistanzlern und jahrelang trainierten Ausdauersportlern, ich war immer noch ein Laufanfänger, ein armseliger Trampel, der noch nicht einmal besonders viel Spaß dabei empfand.

Es war tatsächlich so, nur meiner Frau zuliebe begann ich mit dem Laufen. Und nur ihr zuliebe fuhr ich mit nach Rotterdam. Was sollte ich in den Niederlanden? In einem flachen Land voller Menschen, deren Nummernschilder mir auf der Autobahn schon immer die Laune vermiesen konnten.

Und Du könntest einen Bericht über die Reise schreiben, glaube mir, das wird toll. Du wirst etwas erleben, was Du bis jetzt nicht gekannt hast“, versprach sie mir. So kam es, dass ich mich voll und ganz einließ auf dieses Abenteuer „Marathon“. Ein Abenteuer, das sich über einen Zeitraum von fünf Jahren immer steigern sollte.

Zu Beginn meiner Dokumentation stand eine Bitte. Ich habe meine Frau damals gebeten, einige Tage vor der Abreise nach Rotterdam, sich hinzusetzen und zu versuchen, das was gerade in ihr vorgeht, zu schildern. Aus ihren Notizen wurde ein Vorbericht, erzählt aus der Sicht einer waschechten Marathondebütantin.

Eine Marathondebütantin erzählt

Vielleicht geht es jedem Läufer so. Wenn er mit dem Laufen beginnt, ist die Idee, irgendwann einen Marathon zu laufen schon da. Man hält das anfangs zwar nicht für möglich, so eine Distanz jemals zu schaffen. Alleine der Gedanke daran: Ohne Unterbrechung 42 Kilometer laufen? Niemals!! Nicht spazieren oder wandern, laufen! Das ist eine Strecke, die hat einer, der noch nie gelaufen ist, vorher in der Regel noch nie am Stück zu Fuß bewältigt. Noch nicht mal beim Wandern.

Es gibt einige ganz wenige Zeitgenossen, die haben das schon betend bewältigt. Wenn wir Pfingsten unseren Urlaub auf einem Bauernhof in der Fränkischen Schweiz verbringen, werden wir häufig schon um 05:00 Uhr in der Früh von Wallfahrern aus weit entfernten Ortschaften geweckt. Die waren dann schon bis zu 50 Kilometer und noch mehr unterwegs. Die ganze Nacht also. Und dann laufen die quasi direkt an unserem Bett vorbei, singend („Großer Gott wir loben Dich“, ist übrigens, kein Witz, mein Lieblingskirchenlied!) und tragen sogar noch allerlei Ballast mit sich rum: Kreuze, Rucksäcke, Musikinstrumente, einen Himmel! Und das alles ohne Laufschuhe, ohne Funktionskleidung. Ohne Gels und Riegel. Und die sehen auch nicht aus wie trainierte Läufer. Und die machen, bis sie in der Basilika in Gößweinstein ankommen, bis zu 70 Kilometer! Inklusive drei Gottesdienste, Andachten und weiß der Himmel was noch alles.

Einige Gruppen machen an der Dorfkneipe gegenüber Rast. Voller Ehrfurcht blicken wir dann immer auf die andere Straßenseite und bekommen immer wieder ein schlechtes Gewissen. Da ist dann vielleicht auch irgendwann bei mir der Gedanke gewachsen, dass es geht. Mit den 42 Kilometern. Naja, und da ich weder Kreuze noch Rucksäcke oder Musikinstrumente tragen wollte (in der Basilika in Gößweinstein war ich auch schon mehrmals), habe ich mir gedacht, dann laufe ich eben einen echten Marathon. Den Fränkische-Schweiz-Marathon im Herbst 2009!

Stattdessen fahre ich jetzt – im April 2008 - nach Rotterdam?! Wie kam es jetzt dazu?

Man hat mich im Schönbusch rekrutiert. Der Schönbusch ist ein Landschaftspark in Aschaffenburg, der jedes Wochenende Heerscharen von Läufern anzieht. Das ist so, weil es hier Wege gibt, die bretteben sind. Letzteres ist bei uns, am bayerischen Untermain, eine Seltenheit, Aschaffenburg ist das „Tor zum Spessart“, der Spessart wiederum ist ein ordentliches Mittelgebirge, fast überall geht es auf und ab.

Fröhlich vor mich hin trabend wurde ich also im brettebenen Schönbusch an einem kalten, aber schönen Novembersonntag plötzlich von hinten links eingeholt. Das ist nichts ungewöhnliches, ich werde oft eingeholt, überholt, mitgeschleift oder angetrieben (nach Monaten des Hinterherlaufens fallen einem da mit der Zeit hunderte von Synonymen ein), aber heute war es anders. Meinen Mann, den Franz, hatte ich bei Kilometer 4 schon abgehängt, was mich natürlich unglaublich beflügelte! Meine anderen Laufkollegen wurden auch zusehends kurzatmiger und ich fühlte mich immer fitter und besser. „Hey, jetzt rollt es, jetzt habe ich zum ersten mal den Hype!“, dachte ich euphorisch! Und dann spricht mich dieser von halblinks hinten kommende, hochgeschossene und in ultraorange fleecegekleidete Hühne an und sagt: „Hallo, ich bin der Hubertus und bist du die Tina?“ Ich denke, ‚Nein, die Waldfee!’ und sage: „Äh nein, klar, ja..“

Ich habe da hinten den Franz getroffen, der hat mir gesagt, Du willst einen Marathon laufen! Der TV Goldbach fährt nach Rotterdam, magst Du nicht mitfahren? Ruf doch mal den Andreas an, der hat eine dreistellige Hausnummer und wohnt bei euch in Waldaschaff!“ Und weg war er wieder, der Hubertus. Weidmannsheil.

Soso. Was war denn das jetzt?

Rotterdam.

Der Franz, der Hubertus?

TV Goldbach?

Ja, warum denn nicht? Meinen Mann hatte ich heute abgehängt, die anderen Jungs machten auch langsam schlapp, ich spürte, heute war mein Tag, die zweite Runde im Schönbusch schaffte ich in sagenhaften 26 Minuten, mir wurde bewusst, das muss ich machen. Auf den Marathon hochgerechnet? Bombenzeit! Mein Mann war am nächsten Tag krank. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass ich vielleicht doch nicht so gut drauf war am Tag zuvor, sondern einfach nur mein Göttergatte gehandicapt.

Hoisch, isch sach Tina zu Dir, isch bin de Andreas, unner Sportler duzt mä sisch, haaa haaaha! Ja, klar kannste mitfahren! Kommst zu uns ins Training, mir laufe Freitachs immer en kurze Lauf, danach gehen mä schwimme oder en Zwanzischer übern Klingerhof. Kannst dirs aussuche, haaahaaha!“ Ah ja, alles klar!“, antwortete ich ins Telefon und grinste so ungläubig, wie nur einer grinsen kann, der den Andreas zum ersten Mal erlebt. Der ist ja witzig! Es musste zwei weitere Wochen dauern, bis ich mich endlich getraut hatte, zurückzurufen, um anschließend das erste Mal mit dem TV Goldbach laufen zu gehen.

Wie sieht er aus, der Andreas?, fragte ich mich. Ich hatte lockige, dunkle Haare erwartet (ohne Fasson), er musste älter und stämmiger sein und vorneweg zehn Kilo schwerer, als er wirklich ist. Wo sonst sollte diese Lache her sein? Da braucht es doch bei einem normalen Menschen einen ordentlichen Resonanzkörper, oder? Kurzum, ich war überrascht, als ich das erste Mal, pünktlich um 17:00 Uhr, an der Halle in Goldbach stand.

Nach kurzer Beratung hatte ich mich für den kurzen, „regenerativen“ Lauf entschieden. Trotzdem hatte ich bereits oben am Aschaffenburger Zeughaus, gut zwei Kilometer weiter und vielleicht vierzig Höhenmeter höher, meine persönliche Kotzgrenze erreicht (haaahaaaha!!). Da die Truppe auch Triathlon macht, sind die hinterher noch Schwimmen gegangen. Schwimmen mache ich gerne und ganz gut, deshalb hatte ich da dann weniger Probleme. Aber Witzbold Andreas hatte dafür kolportiert, ich sei eine Profischwimmerin des örtlichen Vorzeige-Schwimmclubs, was natürlich ein ausgemachter Blödsinn war! Der Funke war sofort übergesprungen, Spaß an allem, nur gute Laune, nette und ausgeglichene Menschen, mein Humor. Perfekt! Von nun an war ich dabei.

Rotterdam kann kommen! Yes!

Von einem Überlastungsbruch, selbstgebackenem Kuchen und hochgekrempelten Ärmeln

08. April 2008

Wie fühlst du dich?“

Och Franz! Beschissen! Aufgeregt. Total nervös. Ich bin völlig neben der Kappe und zu nichts mehr fähig!“ Tinas Fuß knackt, während sie antwortet. Sie liegt auf der Couch und guckt den Schluss von Bullys Schuh des Manitou. „Und morgen ist noch mal Bahntraining.“ Tina stöhnt und wirft ihren Kopf auf das Couchkissen.

Was steht an?“ frage ich.

Normalerweise dreimal zweitausend.“, sagt Tina und beginnt zu erzählen, während auf dem Bildschirm zwei alte Indianer ein Höhlenecho spielen.

Manuela habe ihr geraten, sie solle sich schonen bis Sonntag. Und dass bei allen irgendwas zwickt, das sei ganz normal. Aber Tina macht sich dennoch Sorgen, so ist sie halt. Einerseits kann sie sich ins Training beißen, wie ein Terrier in die Wade eines Schornsteinfegers, andererseits hat sie Angst zu versagen, weil der rechte Vorderfußballen zwickt. Sie hat nachgelesen in ihrer Laufbibel. Es könnte ein Überlastungsbruch sein. Oder auch eine quasi angeborene Fehlstellung, die im schlimmsten Fall nur operativ korrigiert werden kann. Ich versuche sie zu beruhigen und sage: „Du schaffst das schon..“ Prompt fliegt mir die Fernsehzeitung ins Gesicht und Bully Herbig sitzt mir auf der Nase, während Apanachi sagt, er habe Glück mit dem Wetter. „Depp! Ich kann diesen Spruch nicht – mehr – hö – ren!!“ kreischt Tina.

Wir lachen beide, Tina stöhnt, ich lache alleine, schließlich lachen wir wieder beide. „Hier, was soll schon passieren, Du bist top vorbereitet, Du hast die Anweisungen Deines Coaches Andreas voll durchgezogen, Du hast Tipps und Tricks von deiner Freundin Karin erfahren, sie ist mit dem Herzen bei Dir, wir alle drücken Dir die Daumen, ich bin sogar dabei und(!) Du hast noch fünf Tage Erholung! Alles wird gut, Du wirst sehen!“, und während ich all das sage, hoffe ich inständig einen Funken Beruhigung in Tinas Augen zu finden. Als ich ihn nicht finde, wechsele ich das Thema und versuche über das Wetter zu reden. „Das Wetter soll auch besser werden, es sind bis vierzehn Grad gemeldet. Ich schaue morgen mal bei wetter.com rein und gucke wie die Prognose für Rotterdam ist. Und noch was, kannst du die Holländerin im Kindergarten nicht mal fragen, was ‚Ihr werdet nie Weltmeister’ auf holländisch heißt?“

Boah, bist Du fies. Ich schreib’s auf.“

Den Rest des Abends verbringen wir mit dem Aufsetzen eines Infozettels für alle Mitfahrer des TV Goldbach, den wir dann kurz vor der niederländischen Grenze im Bus austeilen wollen. Die wichtigsten holländischen Sätze, Zungenbrecher und Flüche, eben alles was man so braucht, wenn man auf einer niederländischen Marathonpiste ist.

01. April 2008

Wir sitzen im Bus und stellen sofort fest, dass wir so einen Service noch nie hatten. Man hat uns quasi vor der Haustüre abgeholt. Udo, der Busfahrer, ist uns gleich sympathisch. Ein prima Typ.

Es ist noch dunkel und endlich mal nicht so kalt, wie die Tage zuvor. Um vier Uhr früh hat die Funkuhr zum Aufstehen gepiepst, wir haben uns heiß geduscht und sind dann Richtung Bus gelaufen. ‚Sterntaler Reisen’, goldene Schrift auf blauem Grund, mal sehen, ob die Marathonis auch nach den Sternen greifen am Sonntag. Einen Moment später sind Andreas und Petra zugestiegen, Hermann folgt und in Hösbach Bahnhof wird es noch einen Halt geben, bevor wir nach Goldbach zum Treffpunkt weiterrollen, um den Rest einzuladen. Wir hören Andis Lache und wissen, alles wird gut. „Haahaaha! Und? Fit?! Biste uffgerescht?“, strahlt er, ganz der Motivator, der er ist, seinen Schützling Tina an.

Tina stöhnt: „Oohh, und wie!! Ich hab’ eine Schiss!“

Ah ja, gell, des is heut das erste Mal, dass Du Bus fährst, des is’ nit schlimm, haahaahaaa!“

Im nächsten Augenblick liegen wir brüllend in den Sesseln und ich stelle fest, dass dieser Waldaschaffer Ironman wirklich ein unglaublicher Typ ist. Mit einem Satz vernichtet er mal so nebenbei mit einem spontanen Witz jede Skepsis, die seinen Marathonschützling quält. Soviel Lockerheit muß man erst mal haben, das ist wirklich bewundernswert und ich weiß jetzt schon, dieser Ausflug wird mindestens die Wucht in Tüten.

Soeben haben wir die zweite Pause beendet. Das Ruhrgebiet umgibt uns. Udo spendiert selbst gebackenen Kuchen und Kaffee, von wegen Dienstleistungswüste Deutschland! Es gibt keine Berührungsängste. Jeder kommt mit jedem schnell ins Gespräch, es wird gleich diskutiert und gelacht und schon nach wenigen Minuten wird klar, dass nicht nur meine Sitznachbarn, sondern der ganze Bus ein toller Haufen ist. Sind Marathonläufer, bzw. Ausdauersportler etwa kommunikativere Menschen als der Durchschnitt? Womöglich liegt die Vorliebe zum Laufen in den Genen. Nette Menschen bewegen sich schlicht mehr, schlussfolgere ich.

 

Tina hat mit der Umfrage begonnen, die wir daheim vorbereitet haben.

Sehr schwierig ist: „An was denkst Du beim Laufen?“ Vielleicht sollte man stattdessen nach dem Lauf fragen, „An was hast Du gedacht?“, sinniere ich, während bei einer anderen Frage („Was war Dein schlimmstes Marathon-Erlebnis?“) Tabus gebrochen werden. In für nicht laufende Mitmenschen seltener Offenheit, wird über Dünnpfiff, Durchfall und Erbrechen geplaudert. Gestank bei der Startaufstellung nervt auch viele.

Die Menschen hier im Bus sind angenehm verschieden, merke ich. Das Einzige, was sie gemeinsam haben: Alle machen einen (logisch) sehr aktiven und fitten Eindruck, was ja auch mal ein sehr schönes Erlebnis ist, in einem Bus zu sitzen mit Leuten, die nicht so aussehen, als müsste man ihnen seinen Platz anbieten. Vor uns rechts sitzt zum Beispiel Uwe. In seinem wahren Leben arbeitet er in einem großen Klinikum in der Verwaltung. Dessen Frau Erika, dreifache Mutter und Mathematikerin(!), diskutiert gerade mit Tina über Klickpedale (fängt meine Frau jetzt auch noch mit Triathlon an? Langsam bekomme ich Angst!), weiter vorne sitzt Thorsten. Er arbeitet in einem fleischverarbeitenden Betrieb und sieht überhaupt nicht so aus. Metzger oder alle Leute, die mit Fleisch zu tun haben, stellt man sich ja immer sehr feist und speckig vor. Nicht so Thorsten. Adrett frisiert mit Lederjäckchen wirkt er eher wie jemand, den man nach dem neuesten Herrenschuhtrend fragen möchte, als nach einem Einpfünderleberkäsweck.

Weiter hinten sitzt eine junge Dame, die sehr verschmitzt grinsen kann. Sie stellt sich als Tanja vor und verkauft nach eigenem Bekunden in ihrem Alltagsleben Dinge, die niemand braucht. Einen Tag später erzählt sie, dass sie sich schon mal lauter verschiedenfarbige Klobürsten in die Wohnung gestellt hat, neben die Milch, weil das so schön ausgesehen hat und dass sie früher ihren Teller nur leer gegessen hat, wenn alles schön bunt war. Kartoffeln mit Spinat und Tomatenvierteln waren demnach ein Renner bei ihr. Ich denke, sie hätte auch eine Hauptrolle bei „Die fabelhafte Welt der Amelie“ annehmen können. Rainer und Angela fahren das erste Mal in die Niederlande. Er ist selbstständiger Maler, sie in erster Linie Mutter und wurde von ihrem Mann an Weihnachten überfahren: „Du fährst mit nach Rotterdam, Schatz! Und ich habe Dich auch gleich für den Zehner angemeldet!“ Angela und ich bilden dann also das Team 10. „Hallo, ich bin der Franz, wir müssen zusammenhalten, Angela!“, rufe ich und freue mich, dass ich nicht alleine auf die Piste muss.

Einer heißt Bobo. Der Name ist Programm. Wenn man Bobo kennen lernt, dann ist alles Bobo. Ein sagenhafter Kerl. Und ein witziger Kerl, nicht aus der Ruhe zu bringen ist. Er gibt Tina Tipps wie „Ab Kilometer 35 ist sogar Rückenwind wie Gegenwind“ oder „Und ein Höhenunterschied von zehn Zentimeter, das wird ein Berg!“. Sein hämisches Grinsen unter den erkälteten Augen spricht Bände. Bei Bobo bleibt bis zuletzt unklar, ob er am Sonntag läuft oder nicht, er fühlt sich nicht gut und wird Samstags auch zuletzt zum Frühstück erscheinen.

Hubertus ist mit seiner Frau Dagmar unterwegs und völlig relaxt. Er ist sich sicher, er wird das heimschaukeln. Was soll schon passieren? Ein Selbstbewusstsein, so groß wie seine Körpermaße. Man könnte immer weiter so aufzählen, alle im Bus haben ihre Besonderheiten. Als einige über Sinn und Unsinn von Kompressionskleidung diskutieren, schlage ich vor, es wäre doch auch mal was, ein Angorahosenrennen zu veranstalten, was Tina einwenden lässt, dass das Jucken würde wie Seuche. Andreas kontert: „Ey, ohne Mist, ich hatte mal einen Arbeitskollegen, dem haben sie die Arbeitshose linksrum durch Glaswolle gezogen, des war brutal, ohne Mist, haahaaha!“.

Inzwischen sind wir tief auf niederländisches Territorium vorgedrungen. Was mir auffällt: Die Strommasten, die Versorgungsmasten für die Bahn, sind total schön. Sie sehen aus wie ein futuristischer Flitzebogen aus verzinktem Stahl. In Deutschland gibt es so gebogene Sachen im öffentlichen Verkehrsnetz nicht. Das ist alles gerade. Die Böschungen neben der Autobahn sind auch erfrischend. Der Raps blüht hier gelb, während bei uns von Flensburg bis nach Berchtesgaden an den Autobahnen langweilige Anspritzbegrünungen in grasgrün wuchern.

Rotterdam soll ja auch sehr modern und extravagant sein, konnte ich vor der Reise aus dem Internet recherchieren. Die Architektur dort muss maßgebend in den Niederlanden sein. Die Innenstadt wurde im 2. Weltkrieg von deutschen Bombern praktisch dem Erdboden gleich gemacht und statt alles zu rekonstruieren, wurde in den Aufbaujahren neu und gewagt gebaut. Der Hafen ist der zweitgrößte weltweit. Ich bin gespannt. Eine ganz und gar witzige Anekdote ist folgende: Wenn sich ein Mann in Rotterdam ein Hemd kauft, sind gleich die Ärmel hochgekrempelt, da dort malocht würde, während der Rest von Holland nur lebt. Eine These, die jedoch wenig später von Tina im Hotel Tulip Inn widerlegt wird: „Die Fenster da gegenüber bei dem Haus, die sind ja total dreckig! Die könnt’ ich gerade putzen! Ohh, ist das furchtbar!“, gätzt sie.

Die Einfahrt nach Rotterdam ist ein Traum. Der erste Eindruck ist so gigantisch. Einen ersten Blick auf Piet Bloms Kubushäuser konnten wir schon erhaschen, die Dinger sehen aus wie ein Haufen hingeworfener Spielwürfel. Überall grandiose Neubauten, einer spektakulärer als der andere. Dazwischen liegen in alten Hafenbecken Kähne, Ein-, Zwei- oder Dreimaster, stehen Krananlagen (da schlägt jedes Kinderherz höher!), kutschen sich Cafés und Seemannskneipen in das Parterre älterer und neuerer Häuser. Der Fortis-Marathon kündigt sich auch schon an, wie wir vom Bus aus sehen können. Hier und da Plakate und Fahnen, die an Leuchtmasten hängen, die den Lauf am Sonntag publik machen sollen. Andreas hat eine sehr gute Idee. Als klar wird, dass unser Hotel in unmittelbarer Nähe des Start-/Zielbereiches ist, schlägt er vor, evtl. am Sonntag ein Zimmer bis zum Abend zu buchen. Als saubere Duschmöglichkeit für alle nach dem Marathon. Erfahrene Marathonis und Triathleten denken an Dinge, die für Normalbürger wie mich völlig fremd sind. Beispielsweise wo ich am Sonntagabend duschen werde..