Kompetenzorientierter Unterricht mit Portfolio

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6.2 Aufgaben und Rahmenbedingungen, die günstig für die Diagnose sind

Die im Folgenden genannten Aufgaben und Rahmenbedingungen sind größtenteils allgemein bedeutsam für erfolgreiche Portfolioarbeit und nur teilweise spezifisch nützlich für die Kompetenzdiagnose.

Es geht um Aufgaben,[11]

•die anspruchsvoll sind, inhaltlich und methodisch attraktiv und authentisch, solche, die sowohl Wissen als auch bestimmte Fähigkeiten und deren Anwendung verlangen;

•die offen sind für eigene Zielsetzungen, Interessen und Arbeitsweisen;

•die persönlich bedeutsam werden können;

•die es ermöglichen, auf unterschiedlichen Niveaus etwas zu erarbeiten;

•die zu geeigneten Produkten für das Portfolio und die Präsentation führen (das können z. B. auch filmisch dokumentierte Performanzen sein);

•fachliches und überfachliches Handeln (und entsprechende Kompetenzen) verlangen und ausbilden helfen;

•für welche die Anforderungen und Bezugskompetenzen ansatzweise analysiert sind;

•die Reflexionen herausfordern.

Bei den Rahmenbedingungen sind folgende Punkte zu nennen.

Unter den folgenden Rahmenbedingungen kann Portfolioarbeit gelingen und werden gute Voraussetzungen für die Kompetenzdiagnostik anhand von Portfolios geschaffen:

•genügend gemeinsame und individuelle Zeit für die Entwicklung und Vertiefung der Arbeit;

•gute schriftliche und mündliche Orientierung zur Portfolioarbeit, zu den Schritten, die hier zu gehen sind, und den Zielen, die erreicht werden sollen;

•intensive Beratung und Begleitung der Arbeiten, vor allem zu deren Beginn (bis die persönlichen Interessen, die Fragestellungen und die Arbeitsweisen geklärt sind);

•eventuell vorab eine Einschätzung zum Lernstand;

•Hilfsmittel, die das selbstständige Recherchieren und Lernen ermöglichen (Bücher im Klassenraum, eine Schulbibliothek, Internetzugang); eventuell auch vereinbarte Hilfen vonseiten der Eltern;

•ein fehlerfreundliches Lernklima;

•Kriterien (eventuell Raster) für wichtige Prozesse, Performanzen und Produkte;

•Zeitpunkte und Anlässe für Reflexionen und gemeinsame Beurteilungen;

•viel Feedback (Selbst- und Fremdfeedback);

•gemeinsames Abstecken der jeweils nächsten Schritte;

•geplante und gut organisierte Präsentationen;

•Aus- und Bewertung der Arbeiten; gemeinsame Schlussfolgerungen.

7 Fragen der Kompetenzdiagnostik in der Schule – eine theoretische Vertiefung

Das Konzept der Kompetenzen ist – wie oben bereits konstatiert – mit dem Ziel entwickelt worden, diese mithilfe von Schulleistungstests erfassen zu können (vgl. Weinert 2001). Darüber, wie sie im Rahmen der Schule von den Lehrkräfte erfasst und eingeschätzt werden können, herrscht noch weitgehend Unklarheit (vgl. Winter 2015, S. 38 ff.) Sicher ist, dass sich aus den Ergebnissen einzelner Aufgabenbearbeitungen bzw. Klassenarbeiten Kompetenzen nicht erschließen lassen. Denn Kompetenzen, die ja definitionsgemäß hinter dem aktuellen Handeln liegen, betreffen immer größere Verhaltensbereiche und treten nur in Kombination mit vielen anderen Kompetenzen auf. Die Kompetenzdiagnose ist folglich immer stark schlusshaltig (»hoch inferent«) und auch unsicher. Es kommt noch hinzu, dass verschiedene Lernende ein und dieselbe Aufgabe unter Einsatz verschiedener Kompetenzen bewältigen können. In den Verlautbarungen der EDK heißt es deshalb auch konsequent:

Bedeutsame fachliche und überfachliche Kompetenzen lassen sich nicht kurzfristig in einer einzelnen Unterrichtseinheit erwerben. Sie erfordern eine kontinuierliche und längerfristige Bearbeitung im Sinne des kumulativen Lernens. Dies setzt eine langfristige Planung und Beobachtung der Zielerreichung im Unterricht voraus. [...] Erst wenn den Schülerinnen und Schülern zahlreiche ähnliche Lerngelegenheiten in variablen Sachzusammenhängen, mit unterschiedlichem Komplexitätsgrad und wechselnden Schwerpunkten angeboten werden, bauen sie beweglich nutzbares Wissen und damit verbundene Kompetenzen auf.

(D-EDK 2014, S. 7)

Bei Beurteilung von Kompetenzen wird unterschieden zwischen einer formativen, im Lernprozess stattfindenden und einer summativ-bilanzierenden. Zur formativen Beurteilung heißt es:

Formative Beurteilung berücksichtigt fachliche, personale, soziale und methodische Kompetenzen. Sie stützt sich auf unterschiedliche Informationsquellen, beispielsweise Prüfungsaufgaben und Lernkontrollen, Portfolios, beobachtbare Handlungen und Verhaltensweisen.

(A. a. O., S. 11)

Damit ist ein Spektrum von Informationsquellen genannt, die allerdings nicht alle gleich geeignet für eine formative Beurteilung sind. Diese wird aus meiner Sicht hier etwas zu einseitig im Dienst der bilanzierenden Kompetenzbeurteilung betrachtet und zu wenig im Dienst des unmittelbaren Feedbacks und Weiterlernens (s. o. Diagnosesituation A). Zur summativen Beurteilung heißt es:

Summative Beurteilung richtet das Augenmerk auf den Leistungsstand der Schülerin oder des Schülers nach Abschluss eines längeren Zeitraums (Lerneinheit, Semester, Schuljahr und Zyklus) und zieht Bilanz über die erworbenen Kompetenzen. Summative Beurteilung orientiert sich an den Zielsetzungen des Lehrplans und des Unterrichts.

(A. a. O., S. 11)

Es stellt sich also die Frage, wie Lehrkräfte vorgehen können, wenn sie die Kompetenzentwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler einschätzen wollen. Und auch die Frage, worin sie diese Einschätzungen verankern. Insbesondere soll dabei die Portfolioarbeit berücksichtigt werden.

Das hauptsächliche Instrument, mit dem heute an Schulen versucht wird, Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern einzuschätzen, sind Kompetenz- und Beurteilungsraster (vgl. Keller 2011). Bei diesen handelt es sich um mehrdimensionale Skalen. Ein wesentliches Grundprinzip ist die Darstellung in zwei Hauptdimensionen, sodass eine Matrix entsteht. Meist sind in der Vertikalen die Fähigkeiten (»traits«) oder Merkmalsklassen (»criteria«) eingetragen, die manchmal noch in Unterstufen, das heißt Indikatoren (»indicators«), aufgegliedert werden.[12] In der Horizontalen sind dann die verschiedenen Niveaustufen (»level«) unterschieden. In den Zellen der Matrizen werden die Merkmale der Leistung bzw. der Fähigkeit auf der entsprechenden Stufe sprachlich beschrieben, diese Beschreibungen nennt man Deskriptoren (»descriptors«; vgl. Chappuis u. a. 2012, S. 226 f.; Keller 2011, S. 151). Manchmal werden sie auch nur in Form von Symbolen, etwa Smileys, gekennzeichnet, was unzureichend ist.

Mit Rastern wird heute an vielen Schulen gearbeitet. Zum Beispiel in der Weise, dass Lernende und Lehrkräfte getrennt die Bogen ausfüllen und dann über die Einschätzungen gesprochen wird. Oder aber Lehrkräfte nehmen die Raster, um eine Einstufung des Lernstandes vorzunehmen. Die wichtigsten Fragen scheinen mir dabei zu sein: Auf welcher Erfahrungsbasis und wie werden die Einstufungen vorgenommen? Wie oben geschildert wurde, muss dazu das Handeln der Schülerinnen und Schüler in längeren Perioden des Unterrichts und an verschiedenen Aufgaben beobachtet werden und die dabei entstandenen Eindrücke müssen zusammengefasst werden. Ein Vorgehen, bei dem eine riesige Fülle von Eindrücken verarbeitet werden muss: Zum Beispiel müssen vorliegende Aufgabenlösungen, Reflexionen der Lernenden dazu und Beobachtungen der Lehrkraft integriert werden. Ein Schema dafür, wie das zu vollziehen ist, gibt es nicht und kann es m. E. auch nicht geben. Allenfalls lassen sich Bedingungen angeben und herbeiführen, unter denen eine Einschätzung entstehen kann, die elementaren Gütekriterien entspricht. Ansonsten werden die Eintragungen auf den Skalen weitgehend »freihändig« vorgenommen werden müssen, das heißt, sie geben lediglich einen allgemeinen Eindruck wieder. Vor allem auf Schülerseite ist zu befürchten, dass die Eintragungen einfach dem Wunsch entsprechen, die Kompetenz zu besitzen. Aber auch die Lehrkräfte dürften versucht sein, die Kompetenzeinschätzungen positiv zu gestalten, denn schließlich attestieren sie ihren eigenen Unterrichtsbemühungen damit mehr Erfolg. Kritisch betrachtet dürften derartige Einstufungen mit Kompetenzrastern deutlich schlechter begründet sein als Noten, die sich bestimmten Leistungen in Klassenarbeiten, also definierten Prüfsituationen, zuordnen lassen und vor allem abfragbares Wissen zum Ziel haben.

Angesichts dieser schwierigen Situation steht m. E. Folgendes zu befürchten: Lehrkräfte und Schulen werden die Aufgabe der Kompetenzeinschätzung so vornehmen, dass sie den Ansprüchen der Gütekriterien für solche Vorgänge nicht entsprechen. Und sie werden versuchen, diese Aufgaben von sich wegzuschieben, an andere Institutionen zu delegieren, die mit Tests arbeiten. Etwa an entsprechende Institute oder Verlage, die Raster und Prüfmaterialien zu den Unterrichtsmaterialien gleich dazuliefern. Beide Vorgehensweisen stellen aus meiner Sicht aber eine Gefahr für einen lebendigen und adaptiven Unterricht dar, der ja auf die konkreten Schülerinnen und Schüler sowie ihre Lernwege bezogen sein muss. Dieser braucht eine Beurteilungs- und Feedbackkultur, die unmittelbar nützlich ist (vgl. Winter 2011; 2015). Im ungünstigsten Fall könnte es also dazu kommen, dass an den Schulen künftig drei Arten von Leistungsbeurteilungen dominieren: erstens extern erarbeitete Tests und Prüfmaterialien; zweitens freihändige Selbst- und Fremdeinschätzungen und drittens die herkömmlichen Noten, die eher den kurzfristigen Wissenserwerb abbilden. Von allen dreien kann aber keine Unterstützung einer individuell förderlichen und kompetenzorientierten Lernkultur erwartet werden.

 

Ein Ausweg aus den geschilderten Dilemmata ergibt sich m. E. nur, wenn die Schulen und die Lehrkräfte erstens die Herausforderung einer kompetenzorientierten und formativen Leistungsbeurteilung annehmen (so wie das in diesem Buch an vielen Stellen aufgezeigt wird) und wenn sich zweitens die Vorstellungen ändern, wie man in der Schule zu guten Beurteilungen gelangen kann. Auf diese Frage soll nun noch eingegangen werden.

Die schulische Leistungsbeurteilung orientiert sich bislang – zumindest implizit – weitgehend am klassisch psychometrischen Modell einer Testung. Vor allem dort, wo sie Klassenarbeiten und Prüfungen veranstaltet, tut sie das. Es herrscht die Vorstellung, aussagekräftige Ergebnisse dadurch erzielen zu können, dass man die Leistungen möglichst objektiv untersucht. Das heißt, man möchte ohne Berücksichtigung der Person und ihrer Besonderheiten deren Leistungen, Fähigkeiten oder Eigenschaften erheben. Praktisch geschieht das dann, indem alle die gleichen, vorab festgelegten Aufgaben erhalten, die gleiche Zeit zur Bearbeitung und keine oder streng kontrollierte Hilfsmittel benutzen dürfen. Kommunikation während der Prüfungen wird unterbunden. Damit schafft man aber eine recht künstliche Situation, die von derjenigen stark abweicht, in der sich üblicherweise Kompetenzen äußern. Zudem ist es in dieser Erhebungssituation schwer, Hinweise auf das Vorgehen der Personen und die Kompetenzen, die dabei eingesetzt wurden, zu gewinnen. Außer der Durchführung der Überprüfung soll auch die Auswertung möglichst objektiv erfolgen. Das wird versucht zu erreichen, indem deren Regeln und die Normen vorab festgelegt werden, sodass derjenige, der Punkte für eine Aufgabe vergibt, möglichst keinen Einfluss darauf hat und etwaige Vorurteile zur Person nicht einfließen können. Damit wird aber eine flexible Auswertung, die beide oben genannten Blickrichtungen realisiert, zusätzlich verunmöglicht. Da Schulleistungstests und deren Durchführung Zeit und Geld kosten, wird versucht, sie möglichst ökonomisch zu gestalten, was in der Regel dazu führt, dass sie nur kurze Zeit dauern und lediglich einige Aufgaben zu lösen oder Fragen zu beantworten sind. Es werden Papier- und Bleistifttests erstellt. Oftmals geht es sogar nur darum, aus vorgegebenen Antworten die richtigen auszuwählen. Die Prüfungen auf Schulebene werden zum Teil ähnlich gestaltet.

Diese objektivierenden Bedingungen aus der Testtheorie gelten aus Voraussetzung dafür, dass der Test oder die Prüfung vergleichbare und zuverlässige Ergebnisse erbringt, was wiederum als Voraussetzung für deren Aussagekraft (Validität) gesehen wird. Dieses Modell ist in Abbildung 2 grafisch dargestellt.


Abbildung 2 Psychometrisches Modell zum Erreichen von Testergebnissen hoher Güte

Betrachtet man dieses Modell mit Bezug auf die schulische Beurteilungssituation, so stellt man fest, dass es in mehrfacher Hinsicht eigentlich unangemessen ist. Vor allem fällt es Lehrkräften verständlicherweise schwer, ihre vorherigen Erfahrungen mit den Schülerinnen und Schülern, die bisherigen Einstufungen und ihre Bilder von deren persönlichen Eigenschaften und sozialen Bedingungen ganz außen vor zu lassen. Nach dem psychometrischen Modell tauchen diese im Kontext der Prüfungen eher als Störfaktoren auf, die zu fehlerhaften Einschätzungen führen können. Im Kontext des Unterrichts dagegen und vor allem dann, wenn Schülerinnen und Schüler individuell gefördert werden sollen, braucht man gerade dieses (Vor-)Wissen, um angemessene Lernstrategien zu finden, Aufgaben zu erstellen und Fördervorschläge zu entwickeln. Die Testtheorie denkt an Eigenschaften (Statusdiagnostik), die es zu erfassen gilt, die Fördertheorie sucht nach geeigneten Situationen, Lernhandlungen, Bedingungen, die Lernende voranbringen können.

In jüngerer Zeit gibt es Versuche, die Bedeutung des psychometrischen Paradigmas für die Beurteilung in der Schule (und in therapeutischen Einrichtungen) zu hinterfragen. Dabei entstanden Umrisse eines sogenannten hermeneutischen Modells (vgl. Moss 1994; 1996). Einige Kerngedanken daraus sind in Abbildung 3 zusammengestellt.


Psychometrische VorgehensweiseHermeneutische Vorgehensweise
Jede Aufgabe wird unabhängig bewertet.Holistische, integrative Interpretation der gesammelten Aufgaben. Man will das Ganze im Licht der Einzelteile verstehen.
Die Korrigierenden kennen die geprüfte Person möglichst nicht oder versuchen davon abzusehen.Die Meinung jener Korrigierenden, die den Kontext der Schülerbeurteilung und die Person am besten kennen, ist besonders wichtig.
Die Korrigierenden fällen ihre Urteile unabhängig voneinander, das heißt, sie wissen nicht, wie der jeweils andere eine Arbeit bewertet hat.Die Korrigierenden fällen ihre Urteile zunächst einzeln, führen aber anschließend eine rationale Diskussion über die verschiedenen Urteile durch, um zu einem gemeinsamen Urteil zu kommen.
Das Schlussergebnis entsteht, indem man die Einzelwerte der verschiedenen Aufgaben zusammenfasst und in Beziehung setzt zu dem Ergebnis einer Vergleichsgruppe oder einem Kriterium.Das Schlussergebnis entsteht nicht nur aus der Interpretation der verfügbaren Hinweise aus Texten und dem Kontext, sondern auch durch eine rationale Debatte innerhalb der Gruppe der Korrigierenden.
Die Empfänger der Schlussergebnisse erhalten Richtlinien für die richtige Interpretation der Ergebnisse.Die Empfänger der Schlussergebnisse können die Schlussfolgerungen der Korrigierenden selbstständig überprüfen und unmittelbar nutzen.

Abbildung 3 Kerngedanken des hermeneutischen Modells in Gegenüberstellung zum psychometrischen

Bei der hermeneutischen Vorgehensweise gehen die Beurteilenden davon aus, dass sie notwendig eine subjektive Sicht realisieren – nicht objektiv sein können. Sie versuchen aber durch Perspektivwechsel, den kommunikativen Austausch und die Explikation ihrer Vorgehensweise, die Güte der Beurteilung insgesamt zu erhöhen (ähnlich, wie das in der oben geschilderten Bewertungskonferenz geschieht). Im Mittelpunkt der Bemühungen steht die Validität und sie wird auf anderen Wegen angesteuert, als dies im psychometrischen Modell der Fall ist. Nach dem hermeneutischen Modell ist es von Vorteil, wenn viele Informationen und solche aus verschiedenen (Unterrichts-)Situationen in den diagnostischen Prozess einfließen. Eine gewisse Objektivität oder besser gesagt Intersubjektivität versucht man durch Zusammenschau verschiedener Informationen und den Austausch der beteiligten Personen herzustellen. Dabei ist es auch möglich und sinnvoll, die Sichtweisen der Lernenden selbst heranzuziehen. In Abbildung 4 ist das Modell schematisch dargestellt.


Abbildung 4 Hermeneutisches Modell zum Erreichen guter Einschätzungen

Aus meiner Sicht passt das hermeneutische Modell recht gut zur Urteilsproblematik, die in den Schulen mit der Aufgabe der Kompetenzeinschätzung heute gegeben ist. Insbesondere deshalb, weil dabei viele Informationen verarbeitet und zusammengefügt werden müssen, aber auch weil damit nahegelegt wird, dass mehrere Personen beteiligt sind und zusammenarbeiten sollten. Das können Gruppen von Lehrkräften sein, aber auch multiprofessionell zusammengesetzte Gruppen (Lehrkräfte, Sozialarbeiter, Theaterpädagoginnen u. a.), außerdem Arrangements, wo auch die betreffenden Schülerinnen und Schüler und/oder ihre Eltern anwesend sind. Letzteres ist zum Beispiel in den zunehmend verbreiteten Eltern-Lehrenden-Lernenden-Gesprächen der Fall. Ein weiterer großer Vorteil der gemeinsamen Diagnostik ist es, dass die Beteiligten unmittelbar Schlussfolgerungen ziehen können und für diese vereinbart werden kann, wer sie umsetzt (Lern- und Erziehungsvereinbarungen; vgl. Horstkemper u. a. 2008; Winter 2008). Im Kontext dieses Modells brauchen die Einzelurteile nicht unbedingt sehr genau und zuverlässig zu sein, weil sie einerseits im Gespräch kommunikativ validiert werden können, aber auch weil die Diagnostik nur eine Momentaufnahme in einem Prozess ist und Fehlurteile längerfristig wieder korrigiert werden können (vgl. Weinert und Schrader 1986, S. 18).

Die gemeinschaftliche, dem hermeneutischen Modell folgende Methode ist aufwendig und wird daher eher die Einzelbeurteilungen der Lehrkraft ergänzen und relativieren – vor allem dann, wenn wichtige Bildungsgangentscheidungen anstehen. Andererseits handelt es sich aber auch um ein alltagstaugliches Verfahren, dann nämlich, wenn Lehrkräfte und Schüler ihre Einschätzungen im Unterricht abgleichen und versuchen zu klären, was gelungen und was noch nicht gelungen ist und welches die nächsten Schritte sind.

Für die hier diskutierte Kompetenzdiagnostik anhand von Portfolios passt das hermeneutische Modell gut (vgl. Johnston 2002). Das gilt sowohl für die Diagnosesituation des Typs A als auch für die des Typs B und auch für die besondere Situation im Beispiel von Julias Portfoliobesprechung. Auch und gerade kleine Beratungs- und Beurteilungssituationen, in denen die Lehrkraft sich mit einzelnen Lernenden über deren Portfolioarbeit unterhält, können unter diesem Aspekt betrachtet und gestaltet werden. Die Lernenden sind dabei als Beurteilende sehr wichtig, weil sie am besten wissen, wie die Portfoliobelege zustande gekommen sind, und oftmals auch etwas Wichtiges dazu sagen können, wie sie weiterlernen und gefördert werden können. In der Kommunikation aller Beteiligten können Entscheidungen überlegt oder vorbereitet werden, die dem weiteren Lernprozess wieder zugutekommen.

8 Fazit

Nimmt man das zuvor Dargestellte ernst, so ist es vor allem eine Aufforderung, die Portfolioarbeit und die daran geknüpfte Kompetenzdiagnostik gut zu planen. Zumindest in dem Sinne, dass man sich überlegt, wie (in welchen Situationen), zu welchem Zweck (mit Bezug auf welche Standards und Kriterien) und mit wem (allein oder mit Kolleginnen und Kollegen) das Portfolio der Leistungsdiagnostik dienen soll. Allgemein lässt sich aber sagen, dass Portfolioarbeit sehr wohl geeignet ist, Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern diagnostizieren und entwickeln zu helfen. Für die Diagnose etlicher Kompetenzen scheint sie sogar unentbehrlich zu sein. Denn viele Kompetenzen können nur in komplexen, authentischen und längerfristig angelegten Lern- und Arbeitsprozessen sicher festgestellt werden. Dafür bietet die Portfolioarbeit einen günstigen Rahmen. Andererseits wurde auch deutlich, dass eine Portfolioarbeit, die gute Informationen für die Kompetenzdiagnostik liefern soll, ihren ›Preis‹ hat. Sie muss sorgfältig angelegt und dokumentiert werden. Und schließlich geht es darum, die Prozesse und Produkte dieser Arbeit gründlich und erfahrungsoffen zu analysieren. Am besten wird dies in der Zusammenarbeit der beteiligten Personen geschehen können. Dafür wurden hier geeignete Vorgehensweisen und auch ein theoretischer Rahmen geschildert.

Viele Lehrkräfte scheinen heute noch davor zurückzuschrecken, in ihren Klassen mit Portfolios zu arbeiten, weil sie die Vorstellung haben, dafür zusätzliche Zeit zu brauchen und selbst stärker belastet zu werden. Zudem vermuten sie, dass die Ergebnisse der Portfolioarbeit schwer vorauszubestimmen und zu sichern sind. Diese Erwartungen sind nur zum Teil richtig. Gewiss, Portfolioarbeit lässt sich nicht nebenbei organisieren, sondern braucht Zeit für die Planung und Beratung der individualisierten und stärker personalisierten Arbeiten der Lernenden. Und es stimmt auch, dass die Schülerinnen und Schüler sich im Vergleich mit dem lehrerzentrierten, darstellenden Unterricht zunächst eher kleinere exemplarische Wissensbereiche (Wissensinseln) erarbeiten – diese aber intensiv und mit hoher persönlicher Beteiligung. Gleichzeitig erwerben sie aber Kompetenzen, die fachlich und fachübergreifend wichtig sind. Die Besprechung der Erträge der Portfolioarbeiten in der Klasse muss daher – wegen der vielen Wissensinseln – so angelegt werden, dass alle davon etwas haben und die Lehrkraft Fehlendes gegebenenfalls ergänzt und dafür sorgt, dass das Erworbene verallgemeinert sowie theoretisch vertieft wird (siehe die Ausführungen von Oswald Inglin in Teil I und das Praxisbeispiel von Franz König in Teil II dieses Buches). Die Anforderungen an die Lehrkraft sind bei der Portfolioarbeit also andere, nicht aber per se viel umfangreicher und zeitraubender. Und erfahrungsgemäß wird die Lehrkraft durch die Freude der Kinder und Jugendlichen an der Umsetzung ihrer Portfolioprojekte für ihren eigenen Einsatz in hohem Maße belohnt.

 

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