Kompetenzorientierter Unterricht mit Portfolio

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2 Portfolios – eine vertiefte Definition

In diesem Buch wird ein relativ weiter und umfassender Begriff von Portfolios verwendet, der sich in der Definition von Paulson u. a. (1991, S. 60) ausdrückt:

Ein Portfolio ist eine zielgerichtete Sammlung von Arbeiten, welche die individuellen Bemühungen, Fortschritte und Leistungen der/des Lernenden auf einem oder mehreren Gebieten zeigt. Die Sammlung schließt die Beteiligung der/des Lernenden bei der Auswahl der Originaldokumente ein, enthält Beurteilungskriterien sowie den Nachweis von Selbstreflexion durch die Lernenden.[2]

Den Kern eines Portfolios bilden Originalarbeiten der Lernenden, die entweder etwas über ihre Lernprozesse aussagen oder deren Resultate belegen. Für die Erstellung eines Portfolios werden in der Regel gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Ziele und Kriterien formuliert, an denen sie sich orientieren können, wenn sie für ihr Portfolio arbeiten und eine Auswahl von Dokumenten zusammenstellen. Ein Portfolio zeigt also, wie Lernende arbeiten und welche fachlichen Entwicklungen sie während des Lernprozesses durchgemacht haben.

Die schulische Portfolioarbeit in ihrer modernen Form stammt ursprünglich aus den USA, wird aber seit den 1990er-Jahren auch im deutschsprachigen Raum zunehmend angewendet (vgl. Brunner u. a. 2006; Schwarz u. a. 2008; Biermann und Volkwein 2010; Eisenbart u. a. 2012; Bräuer u. a. 2012). Da sich der Begriff aus der Praxis entwickelt hat, gibt es neben unterschiedlichen Definitionen auch vielfältige Formen von Portfolios, mit denen unterschiedliche Zwecke verbunden werden. Portfolios lassen sich nach bestimmten Kriterien einordnen, etwa:

•nach dem Zweck, dem das Portfolio dient (z. B. Entwicklungsportfolio, Talentportfolio, Bewerbungsportfolio);

•nach der Art der Qualifikationen, die darin nachgewiesen werden sollen (z. B. Sprachenportfolio, Kompetenzportfolio);

•nach der damit verbundenen Unterrichtsform (z. B. Projektportfolio, Selbstlernportfolio);

•nach dem Medium, in dem das Portfolio primär erstellt wurde (z. B. elektronisches Portfolio, Bildportfolio);

•nach dem Zeitrahmen, über den das Portfolio geführt wird (Epochenportfolio, Jahrgangsportfolio).

(Erweitert aus Häcker 2006, S. 30)

Portfolios lassen sich also für unterschiedlichste pädagogische Ziele einsetzen oder darauf anpassen. In den Praxisbeiträgen dieses Buches ist jeweils spezifiziert, um welche Art von Portfolio es sich handelt, wie dieses im Unterricht konkret verwendet wurde und welche Ziele damit verbunden wurden.

Man kann sich dem Begriff des Portfolios auch annähern, indem man sich die Metaphern ansieht, die in der Literatur für die Arbeit damit verwendet werden. Ein Portfolio kann sein:

•eine Geschichte des eigenen Lernens oder eine Reportage über eigene Lernprozesse;

•ein Behälter zur zweckorientierten Aufbewahrung von Lernprodukten und Leistungsnachweisen;

•ein Rahmen, in dem bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen entwickelt werden können;

•ein Spiegel des Lernens, ein Porträt eigener Leistungen oder ein Schaufenster der eigenen Arbeit;

•eine Brücke zwischen Lernen und Beurteilen;

•ein Dreh- und Angelpunkt einer erweiterten, dialogischen Feedback-Kultur;

•ein Ich-Buch der Erinnerung, des Stolzes und der Freude an der eigenen Arbeit.

(Erweitert aus Häcker 2006, S. 35)

An diesen Metaphern lassen sich bereits wesentliche Funktionen von Portfolios für den kompetenzorientierten Unterricht ablesen. Erstens sind sie ein Lerninstrument zum Aufbau von Kompetenz. Sie begleiten Lernende dabei, wenn sie in einen persönlichen Dialog mit einem Inhaltsstoff treten, und helfen, Vorwissen, Ideen und Konzepte dazu explizit zu machen. Sie dienen sodann dazu, die persönliche Auseinandersetzung der Jugendlichen mit den Lerngegenständen zu dokumentieren, die Spuren von eigenen Lernprozessen festzuhalten und der Wahrnehmung durch andere zugänglich zu machen. Damit können sie zum Anlass für Peer-Feedback, für Lerndiagnose oder formative Rückmeldungen durch die Lehrkraft werden.[3] Portfolios sind schließlich ein Instrument der Dokumentation von Lernprodukten und können damit auch der summativen Beurteilung dienen: Genauso breit und vielfältig wie die Art der Belege, die ein Portfolio enthalten kann, sind auch die Kompetenzen, die damit dokumentiert werden können. Dabei können auch Leistungen anerkannt werden, die durch Tests nicht erfasst werden und zum Beispiel die eigenen Stärken oder Interessen der Lernenden widerspiegeln (vgl. z. B. die Beiträge zu Talentportfolios von Simone Thomann und Beat Schelbert, S. 127 ff. und S. 167 ff.). Dabei kann es sich auch um Leistungen handeln, die teilweise außerhalb der Schule erbracht wurden, in den Fremdsprachen zum Beispiel um Kontakte zu Muttersprachlern oder Reisen in Länder, in denen die entsprechende Sprache gesprochen wird. Portfolios sind also Orte der Dokumentation, der Evaluation und der Reflexion von persönlichen Leistungen, an denen die Kinder und Jugendlichen vielleicht auch Freude haben und auf die sie stolz sein können.

Man kann den Beitrag des Portfolios zum Unterricht auch im Sinne des von Hattie (2013) formulierten Prinzips des »Lernen sichtbar machen« erklären. Nach Hattie ist es ein Qualitätskriterium von Unterricht, wenn Lehrkräfte das Lernen mit den Augen der Lernenden sehen und Lernende sich selbst als ihre eigenen Lehrerinnen und Lehrer betrachten: »Am wichtigsten ist, dass das Lehren für die Lernenden sichtbar ist und dass umgekehrt das Lernen für die Lehrperson sichtbar ist. Je mehr die Lernenden zur Lehrperson werden und je mehr die Lehrperson zum bzw. zur Lernenden wird, desto ertragreicher sind die Outcomes. […] Das Modell des sichtbaren Lehrens und Lernens kombiniert lehrerzentriertes Lehren und schülerzentriertes Lernen, statt beide gegeneinander auszuspielen« (Hattie 2013, S. 31). Das Portfolio kann man als Instrument dieses »Sichtbarmachens« von Lernen und als Ort der Zusammenarbeit sehen, an dem sich Lehrkräfte und Kinder gemeinsam um das Lernen bemühen.

3 Portfolio als Unterstützung von Kompetenzerwerb
3.1 Differenzierte Lernprozesse sichtbar machen und begleiten

Kompetenzen werden in langen und komplexen Lernprozessen erworben, wobei fachliche Problemlösefähigkeiten nicht (nur) instruktiv vermittelt werden können, sondern aktiv und individuell in konkreten Situationen durch Auseinandersetzung bestimmten Anforderungen erarbeitet werden können (vgl. Weinert 2001). Kompetenzerwerb stellt damit eine autonome, konstruktive Leistung eines Individuums dar, wobei Lernfortschritte nur dann gemacht werden, wenn das Bestehende sinnvoll mit neuem Wissen und erweiterten Handlungsoptionen verknüpft werden kann. Der Lehrplan 21 drückt das so aus:

Bedeutsame fachliche und überfachliche Kompetenzen lassen sich nicht kurzfristig in einer einzelnen Unterrichtseinheit erwerben. Sie erfordern eine kontinuierliche und längerfristige Bearbeitung im Sinne des kumulativen Lernens. Dies setzt eine langfristige Planung und Beobachtung der Zielerreichung im Unterricht voraus. In der aktiven Auseinandersetzung mit Lerninhalten erwerben die Schülerinnen und Schüler Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Bereitschaften, Haltungen und Einstellungen auf unterschiedlichen Qualitätsebenen. Dies führt vom reinen Faktenwissen über das Verstehen, Analysieren und Strukturieren von Informationen hin zum Lösen von Problemen und zur Anwendung des erworbenen Wissens in neuen Zusammenhängen.

(EDK 2016, S. 26)

Entscheidend dabei ist, dass die Qualität der erworbenen Kompetenzen in überwiegendem Maße von der Qualität der Prozesse abhängt, in denen diese erworben wurden (vgl. Lersch 2006, S. 32). Bei kompetenzorientiertem Unterricht muss also neben der Qualifikation von Lehrkräften und der Gestaltung von Lernumgebungen auch »der Prozessebene des Unterrichts die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt werden« (Oelkers und Reusser 2008, S. 406). Diese Qualität der Lernprozesse ist es, die für die Qualität des Lernerfolgs als ›Output‹ letztlich verantwortlich zeichnet.

Portfolios haben eine besondere Stärke bei der Dokumentation von Lernprozessen, etwa, wenn Schülerinnen und Schüler über eine längere Zeit an einem Thema arbeiten und ihre Lerntätigkeit mit unterschiedlichen Dokumenten belegen. Nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die Bemühungen und Fortschritte der Jugendlichen können sichtbar gemacht werden, was allen Akteurinnen und Akteuren, die am schulischen Lernen beteiligt sind, vertiefte Einsichten in den Verlauf von Lernprozessen ermöglicht. Sie haben also das Potenzial, die Lernenden »auf ihrem Weg des langfristigen, kumulativen Kompetenzerwerbs zu unterstützen, Lernen als konstruktive, schrittweise selbstregulierte und reflexive Prozesse situationsbezogen zu gestalten und wirksam didaktisch zu unterstützen« (EDK 2013).

Indem die Portfolios die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf die Prozesse des Lernens lenken, schulen sie auch ein Bewusstsein für metakognitive (bzw. reflexive) Komponenten des Lernens. Dies beinhaltet einen kritischen Blick auf die eigenen Lernfortschritte, Erfolge und Lernschwierigkeiten. Die Arbeit mit Portfolios – allein und mit anderen – ist eine Möglichkeit, Fähigkeiten der Selbststeuerung sukzessive aufzubauen. Gerade auf höheren Schulstufen wird es zentral, dass junge Menschen Lernprozesse nicht nur durchlaufen, sondern auch auswerten und ihre Wirkung verstehen. Damit sie lernen, die eigenen Lernprozesse aktiv zu hinterfragen anstatt dem Unterricht nur passiv zu folgen, sollte früh, von den ersten Jahren der Volksschule an, damit begonnen werden, die Kinder als aktive »Sense-makers« zu verstehen. Die Praxisbeispiele in diesem Buch setzen deshalb bereits in den ersten Schuljahren an und enden mit dem Abitur- bzw. Maturaniveau.

 

3.2 Diagnose und individuelle Förderung anregen

Im kompetenzorientierten Unterricht nehmen Lehrkräfte verstärkt die Rolle von Lerncoaches ein und müssen damit auch ihre Fähigkeiten der Lernberatung kontinuierlich entwickeln, damit sie die Jugendlichen begleiten und unterstützen können. Sie haben die anspruchsvolle Aufgabe, individuelle Ressourcen der Schülerinnen und Schüler zu erkennen und steuernd in die Lernprozesse einzugreifen, um deren produktiven Verlauf zu sichern. Mit dieser Aufgabe rückt auch das Prinzip der Lerndiagnose stärker in den Fokus: Lehrkräfte müssen hinreichend über den Leistungsstand, die verfügbaren Vorkenntnisse und auch nichtkognitive Lernvoraussetzungen orientiert sein, um die Jugendlichen adäquat fördern zu können. Dazu gehört »das Zulassen individueller Lernwege, die Analyse des jeweils erreichten Lernstandes und die individuelle Planung des weiteren Lernens« (Klieme u. a. 2003, S. 11).

Einerseits ist damit die Intention verbunden, den individuellen Förderbedarf von Lernenden im unteren Leistungssegment zu erkennen. Gutes kompetenzorientiertes Lernen soll asymmetrische Bildungschancen kompensieren, etwa indem Lernschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen mit nachteiligem sozialem Umfeld identifiziert werden und ihnen besondere Unterstützung zugesprochen werden kann. Gleichzeitig geht damit der Anspruch einher, die individuellen Talente und Ressourcen aller Lernenden freizulegen, bei Schwächeren wie bei besonders Eifrigen und Begabten.

Diese Art von Diagnosekompetenz ist ein hoher Anspruch an die Lehrkräfte. Ein Mittel dazu, Kompetenzen von Lernenden sichtbar zu machen und ihnen Rückmeldungen dazu zu geben, ist beispielsweise die Portfoliokonferenz. Dabei beugt sich eine Gruppe von Lehrkräften gemeinsam über ein Portfolio und bestimmt in einem hermeneutischen Prozess Kompetenzen darin (vgl. den Beitrag von Felix Winter, S. 27 ff.). Mit Portfolios lassen sich also Datengrundlagen bereitstellen, die für gehaltvolle Diagnosen über die Kompetenzentwicklung der Lernenden unerlässlich sind. Lerndiagnosen können sich zum Beispiel auf die Vorwissensbestände der Schülerinnen und Schüler beziehen, werden also am Anfang einer Unterrichtseinheit durchgeführt und haben zum Zweck, Potenziale und Ideen der Lernenden zu identifizieren oder versteckte Defizite zu entdecken. Im weiteren Lernverlauf kommt der Diagnose eine lernbegleitende Funktion zu: Lehrkräfte versuchen zu verstehen, wie die Jugendlichen das bestehende Lernangebot nutzen, wo sie erfolgreich lernen, wo eigene Ressourcen nicht ausreichen und wo deshalb Unterstützung und ein erweitertes Lernangebot nötig werden (vgl. den Beitrag von Oswald Inglin, S. 65 ff.). In der Endphase von Lernprozessen geht es darum, zu erkennen, welches Kompetenzniveau die Schülerinnen und Schüler erreicht haben, und sie – im Sinn einer summativen Beurteilung – auf einem bestimmten Kompetenzniveau zu verorten (vgl. den Beitrag von Felix Winter, S. 27 ff.).

Mit individueller Diagnose geht auch die Förderung unterschiedlicher Lernender einher, die auf unterschiedlichen Wegen zum selben Kompetenzziel unterwegs sind. Dies entspricht einem Anspruch an moderne und demokratische Bildungssysteme, nämlich Unterschiede zwischen den Lernenden nicht als Ungleichheit zu interpretieren, sondern ihnen Wertschätzung entgegenzubringen (vgl. Prengel 1993). Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern heißt, sie in ihrer gesamten Persönlichkeit ins Auge zu fassen, ihr außerschulisches Umfeld in die Förderung einzubeziehen und offen zu sein für ihre Interessen und Stärken. Darauf aufbauend können Lehrkräfte durch didaktische Maßnahmen den Kindern und Jugendlichen dabei helfen, ihr individuelles Potenzial zu verwirklichen. Der Unterricht mit Portfolios hat also zum Ziel, mit den Lernenden Leistungsziele und allgemeine Standards dadurch zu erreichen, dass die Lernprozesse selbst durch Anleitung, vorgezogene Kontrolle und Bewertung verbessert werden (vgl. Winter 2004).

Lehrkräften stehen dazu vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung: Sie lektorieren Dokumente, die Schülerinnen und Schüler in Portfolios sammeln, und geben ihnen lernförderliche Rückmeldungen dazu. Oder sie markieren gelungene Passagen mit einem Häkchen oder Ausrufezeichen oder unterstreichen Fehler, um Schülerinnen und Schüler darauf aufmerksam zu machen, ohne die Fehler zu sanktionieren. Eine so geartete Lernbegleitung dient der Längsschnitt- und Entwicklungsdiagnose und bietet Lehrkräften die Möglichkeit, in ein fachbezogenes Gespräch mit Schülerinnen und Schülern über Lernwege, Lernbedingungen und erreichte Leistungen zu kommen, und damit in einen wirksamen Lerndialog.

3.3 Einen Rahmen für erweiterte Aufgabenstellungen bieten

Damit Kompetenzen »unterrichtstauglich« werden, müssen Lehrkräfte dieselben auf konkrete Anforderungssituationen beziehen. Eine wichtige Aufgabe von Lehrkräften ist es deshalb, im Unterricht Lernsituationen anzulegen, in denen die Schülerinnen und Schüler die geforderten (Teil-)Kompetenzen tatsächlich aufbauen können. Dazu ist »ein aktives Lernen an sinnvollen Aufgaben- und Problemstellungen nötig, womit der Unterricht auf ein handlungs- und problemorientiertes Lernen umzustellen ist [...]« (Dubs 2006, S. 168). Kompetenzorientierung im Unterricht steht und fällt daher mit den Aufgabenstellungen, denn »Kompetenzen werden nicht unterrichtet, sondern in Handlungen und in unterrichtlichen Anforderungssituationen an fachlichen Inhalten mit und durch Aufgaben erworben« (Leisen 2013). Dieser zentrale Teil der Portfolioarbeit wird in den Beiträgen von Martin Keller (S. 47 ff.) und Franz König (S. 59 ff.) vertieft behandelt. In den Praxisbeispielen in Teil II ist für unterschiedliche Schulstufen und Fächer dargestellt, wie Lehrkräfte diese Ansprüche an Lernaufgaben in verschiedenen Fächern und Schulstufen in Lernsettings umgesetzt haben (jeweils im Abschnitt »Aufgabenstellungen und Wahlmöglichkeiten«).

3.4 Erweiterte Formen der Leistungsbeurteilung ermöglichen

Mit der Kompetenzorientierung ist – im Rahmen des Bildungsmonitorings – auch die Absicht verbunden, erworbenes Wissen und Können in objektivierbarer Form beschreiben und vergleichen zu können, das heißt, die wünschbare Verbindung von Wissen, Können und Handlungsfähigkeit so herzustellen, dass sie messbar wird. Da bei dieser Form des Bildungsmonitorings immer ein ganzes Bildungssystem einbezogen und große Schülerzahlen erfasst werden müssen, geschieht diese Beurteilung gegenwärtig primär mit standardisierten Leistungstests. Diese sollen ausgewählte Informationen zur Evaluation der Bildungsbemühungen an den Schulen liefern, an transparenten Kompetenzmodellen orientiert sein und testtheoretischen Gütekriterien wie Objektivität oder Reliabilität genügen. Derartige Tests prüfen die Kompetenzen jedoch anhand kleiner, kurzfristig zu bearbeitender Aufgaben und orientieren sich stark an der Realisierung kognitiver Lernziele, sind also tendenziell wissensorientiert. Stärker handlungsorientierte oder problemlösende Wissensformen (also Kompetenz im Sinn von ›Handlungsbefähigung‹) lassen sich mit standardisierten Schulleistungstests weniger gut erfassen.

Gerade beim kompetenzorientierten Unterricht, bei dem junge Menschen über längere Zeiträume selbstständig an offenen Aufträgen arbeiten, sind die Lernerträge jedoch multidimensional und werden von einem Bündel von Maßnahmen und Lernumständen mitbestimmt, die sich gegenseitig ergänzen und kompensieren. Einführung von kompetenzorientierter Leistungsbewertung auf standardisierte Tests würde bedeuten, dass viele der didaktisch wertvollsten Ziele der Kompetenzorientierung ›von hinten‹«, von der Beurteilung her, wieder demontiert und entwertet würden (vgl. Girmes 2004). Warum denn sollten Jugendliche ihr Lernen reflektieren, warum sollten sie personale und soziale Fähigkeiten erwerben, wenn diese in den maßgeblichen Tests gar nicht erfasst und geschätzt werden?

In der aktuellen didaktischen Diskussion herrscht Konsens darüber, dass von der Art der Beurteilungskultur ein starker Effekt auf die Lernkultur ausgeht (vgl. Winter 2004). Wenn die Lernförderung gegenüber der Selektionsabsicht nicht genügend Gewicht erfährt, entsteht zwischen Lern- und Beurteilungskultur eine problematische Lücke, die nachhaltiges Lernen behindern kann. Die ›Macht‹ der Testung kann Lehrkräfte dazu verführen, verstärkt Testaufgaben einzuüben und so zu versuchen, geforderte Kompetenzen ›direkt‹ anzusteuern. Eine solche Engführung der Leistungsbewertung birgt letztlich auch die Gefahr einer Behinderung und Entmutigung innovativer didaktischer Ansätze. Um die Lernenden in ihren aktiven, selbstverantworteten Lernprozessen zu bestärken, müssen auch erweiterte Methoden der Leistungsbeurteilung entwickelt werden: Genauso umfangreich wie die Breite und Vielfalt der erforderlichen Lernsituationen, in denen Kompetenzen entwickelt werden, soll auch die Vielfalt der Beurteilungsanlässe sein, mit denen Kompetenzerwerb für alle Akteurinnen und Akteure nachvollziehbar beurteilt wird (vgl. dazu im Detail die Beiträge von Felix Winter und Franz König, S. 27 ff. und S. 59 ff.).

Die Arbeit mit Portfolios bietet die Möglichkeit, individuelle Ressourcenförderung bei Lernenden und den verstärkten Fokus auf Messbarkeit nicht als Gegensätze zu sehen, sondern als gegenseitige Herausforderung. Tests können gewisse eng definierte Kernfähigkeiten standardisiert und generalisierbar erfassen. Portfolios zeigen ihre Stärke dadurch, dass sie ein breites Spektrum an Leistungen zu dokumentieren vermögen und damit auch diejenigen Kompetenzdimensionen erfassen, die sich einer standardisierten Testung entziehen oder durch diese nur schwer erfasst werden können. Wird das Portfolio als zusätzliches Instrument zur Leistungsbeurteilung eingesetzt, öffnet sich damit auch der Kreis der direkten Leistungsnachweise, die darin dokumentiert sind. Portfolios können Lerndokumente enthalten,

•die über einen längeren Zeitraum entstanden sind;

•die mehrfach überarbeitet wurden und nun in der bestmöglichen Form vorliegen, die der/dem Lernenden im Moment der Beurteilung möglich war;

•die eigenes Interesse oder eigene Initiative der Lernenden unter Beweis stellen und ihre individuellen Talente abbilden (vgl. die Beiträge zum Talentportfolio von Simone Thomann und Beat Schelbert, S. 125 ff. und S. 167 ff.);

•die Lernreflexionen beinhalten, beispielsweise als Begleitbriefe oder Texte zur Selbsteinschätzung.

Allerdings ist die Beurteilung einer Sammlung von unterschiedlich komplexen und vielseitigen Lernendenprodukten in einem Portfolio für Lehrkräfte ein ungewohnter und anspruchsvoller Prozess. Der Einstieg in diesen Prozess erfordert grundsätzliche Überlegungen zu drei elementaren Schritten:

•Die Lehrkraft legt im ersten Schritt das Vorgehen für den Bewertungsprozess fest, mit dem sie der Arbeit einer/eines Lernenden begegnet;

•im zweiten Schritt entwickelt sie nachvollziehbare Kriterien, deren Anwendung zu einer transparenten Bewertung führen;

•schließlich legt sie die Form fest, in der sie die Bewertung ausdrücken und den Betroffenen mitteilen möchte (vgl. Winter 2004, S. 170 ff.).

Besondere Aufmerksamkeit beansprucht dabei der Umgang mit individuellen Kompetenzen der Lernenden auf der einen, und der Beurteilung festgesetzter Standards auf der anderen Seite: Einerseits sollen Portfolios nicht ›irgendetwas‹ dokumentieren, sondern jene ›offiziellen‹ Kompetenzziele nachweisen, die dem schulischen Lernen als Orientierungsgrößen vorgegeben sind und auf jeden Fall erreicht werden sollen. Andererseits sollen an Portfolios nicht nur jene Aspekte interessieren, die sich in der Sprache der Standards ausdrücken lassen. Vielmehr sollen auch persönlich bedeutsame Leistungen beachtet und gewürdigt werden, bei denen sich die Lernenden von anderen unterscheiden und die nicht vergleichbar oder standardisierbar sind (vgl. Sacher 2003, S. 17). Dies bedeutet die Feststellung der im Portfolio dokumentierten Kompetenzen in einem hermeneutischen Prozess, wie er im Beitrag von Felix Winter (S. 27 ff.) im Detail dargestellt ist. Die Praxisbeispiele dieses Buches enthalten zudem jeweils detaillierte Auflistungen von Kompetenzen aus dem Lehrplan 21, die für die Unterrichtseinheiten zentral sind, sowie mögliche Prüfungs- und Präsentationsaufgaben für deren Erfassung.