Gesundes Gift

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Gesundes Gift
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Franz Kabelka


Roman


INHALT

Cover

Titel

Widmung

Prolog

TEIL I

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

TEIL II

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

TEIL III

25

26

27

28

29

30

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33

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37

38

39

40

Epilog

Glossar

Dank

Impressum

Für Sibylle,

die mir den Weg nach Indien wies

PROLOG

Sie liegt zusammengekauert auf dem nackten Lehmboden.

Kein Teppich, nicht einmal ein billiger Baumwollfetzen, der der fiebrigen Haut unter dem klatschnassen Kunststoffsari als Unterlage dienen würde. Durch die unverglasten Öffnungen unterhalb des Schilfdachs dringt das fahle Licht der Abenddämmerung in den kargen Raum, jener kurzen Dämmerung, die die Bewohner nördlicherer Breitengrade immer wieder zu überraschen pflegt.

Ein niedriger Schemel, zwei löchrige Matratzen. Kein Kasten, nur ein von der Feuchtigkeit verzogenes Regal; auf dessen Bambusrohren, säuberlich geschlichtet, die wenigen Kleidungsstücke, neben den verblichenen Fotos am Bindfaden Meeras ganzer Besitz. In Schwarz-Weiß starren Vater und Mutter auf sie herab, steif und ernst. Davor, aufgefädelt nach Größe, ihre vier Geschwister und sie selbst als Fünfjährige. Niemand auf dem Bild, der lächeln, niemand, der sich für diesen gewichtigen Augenblick entspannen würde. Auch der Fotograf hat sie nicht dazu aufgefordert, hat keinen Witz gemacht, damit sich die herben Mundwinkel womöglich ein bisschen nach oben bewegten. Er kannte die Befindlichkeit dieser Menschen, was sollte er ihnen vormachen. Vermutlich würde es ohnehin das einzige Familienfoto ihres Lebens bleiben. Na schön, vielleicht noch eines anlässlich der Hochzeit des ältesten Sohns. Aber da wären kaum noch dieselben fünf am Leben. Nein, dagegen sprach alle Erfahrung, alle Statistik.

In der Ecke, wo sich der Tonkrug mit dem brackigen Wasser befindet, hat sich etwas bewegt. Sie nimmt es wahr, aber sie reagiert nicht darauf. Dabei war sie, solange sie sich gesund und stark fühlte, immer darauf bedacht, die Kontrolle darüber zu behalten, was sich auf dem Fußboden und entlang der Wände abspielte. Die Kontrolle aller drei Dimensionen. Das ist allen an ihr aufgefallen: ihre unglaubliche Ordnungsliebe. Aditi, ihre Arbeitskollegin in der Fabrik und Zimmergenossin in Kannagi Nagar, hat öfters darüber geschmunzelt; gleichzeitig war sie über Meeras Haltung froh gewesen, kam diese ja letztlich auch ihr zugute. Armut und Sauberkeit mussten einander nicht widersprechen, davon waren sie beide als Angehörige einer der niedrigsten Kasten überzeugt. Ehe Meera ihren Sari abnahm und auf das Regal legte, pflegte sie immer zu überprüfen, ob sich keine Spinne darauf eingenistet hatte. Und ehe sie sich auf ihrem Lager niederließ, inspizierte sie den Boden darunter. Sie hasste es, nächtens auf eine Kakerlake zu treten, wie damals, als sie draußen in der freien Natur ihr Geschäft verrichten wollte. Das Krachen des gepanzerten Insekts hatte sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt. Das wollte sie nie, nie wieder erleben.

Und jetzt hat sie es nicht einmal mehr auf ihre Matratze geschafft.

Die Schlange nähert sich ihr: langsam, lautlos, mit gelegentlichen seitlichen Ausweichmanövern, aber zielsicher und beständig. Das schwarze, fleckige Kettenmuster auf dem Rücken hebt sich trotz der zunehmenden Dunkelheit im Raum deutlich vom erdbraunen Grundton ab, und als sich Kopf und Oberkörper aufrichten, scheint der weiße, gesprenkelte Bauch beinahe von innen her zu leuchten. Luzifer: der Leibhaftige, der Lichtbringer. Wie Vater und Mutter gehört Meera der christlichen Minderheit an, das Bild des Satans als Schlange ist ihr nicht unbekannt. Aber sie ist weit davon entfernt, sich zu fürchten. Weder vor dem Kuss des verkleideten Teufels noch vor dem Biss einer echten Schlange.

Sie hat diese Art schon öfter gesehen, jeder in der Gegend würde sie erkennen. Bei der Feldarbeit stellt die Kettenviper die mit Abstand größte Gefahr dar. Einerseits wegen ihrer enormen Giftigkeit, welche die Blutzellen binnen Sekunden zu zerstören vermag und Gehirnblutungen oder akutes Nierenversagen auslöst, andererseits wegen ihrer Vorliebe, in den Wiesen und Äckern nahe den menschlichen Siedlungen nach Mäusen zu jagen. Die bekanntere Brillenschlange ist dagegen vergleichsweise harmlos, sie scheut die Nähe des Menschen. Manchmal, vor allem zwischen Juli und Dezember, wenn die aggressiven Jungvipern gehäuft auftreten, versuchen die Vorarbeiter mit Stöcken und lauten Rufen die Felder zu säubern, bevor die Arbeiter, in der Hauptsache Frauen, beginnen. Dennoch gibt es jedes Jahr etliche Tote bei der Ernte, das ist Teil des ländlichen Lebens hier, und niemand regt sich darüber auf – bei wem auch?

Nein, sie hat keine Angst, nur Schmerzen. Von der rechten Niere strahlt es in alle Richtungen aus; es, das sie zu Boden geworfen hat und ihr nicht erlaubt, die wenigen Zentimeter Höhenunterschied hinauf zum weißen Laken zu überwinden. Ihr Atem geht laut und hechelnd und dröhnt in ihr wie ein Orkan. Trotz der späten Stunde ist es noch immer stickig und heiß, aber der Schüttelfrost lässt sie zittern und sich noch fester zusammenrollen.

Wie du, denkt sie. Ich werde dir immer ähnlicher, Schlange. Schlangengott.

Sie weiß, dass sie das Gift längst in sich trägt, das ihre Organe zersetzt. Seit Wochen hatte sie gespürt, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Später kamen Sehstörungen und eine nicht enden wollende Übelkeit dazu. Nachdem sie beim Mörsern plötzlich umgefallen und minutenlang nicht mehr zu Bewusstsein gekommen war, stellte Riya, die Vorarbeiterin mit den schmalen, verbissenen Lippen, sie von der Arbeit frei. „Bis auf Weiteres“, sagte sie. Aber das war nun schon viele Wochen her, und angesichts Meeras Zustands, der sich ständig verschlechterte, wäre niemand auf die Idee gekommen, sie wieder zurück in die Fabrik zu holen. Auf die Idee, nach einem Arzt zu rufen, kam allerdings auch keiner.

 

Stattdessen war eines Tages dieser alte Mann in der Tür gestanden und hatte sie mitgenommen. Gerade einmal hundertfünfzig Kilometer betrug die Strecke von der großen bis zur kleinen Stadt, aber die Busfahrt dauerte fast vier Stunden. Stunden, in denen sie im Mittelgang auf dem Boden kauerte und sich krümmte vor Schmerzen. Bis sie endlich mit den anderen Frauen in jener Hütte untergebracht wurde, wo sie seither lebt, ohne arbeiten zu müssen. Von den Leuten hier wird sie mit dem Wichtigsten versorgt, sogar Tabletten und Spritzen gibt man ihr, wenn die Schmerzen gar zu schlimm werden. Wann in ihrem Leben war ihr dieser Luxus gegönnt gewesen: zu leben, ohne sich dafür abschinden zu müssen?

Jetzt ist es zu hören, worauf Meera längst schon gewartet hat: das alles durchdringende Zischen, mit dem die Viper den Angriff einleitet. Den Flug der Schlange, wie man es nennt, wenn eine Kettenviper beim Zustoßen nahezu mit ihrem gesamten Körper vom Boden abhebt.

Die großen goldgelben Augen mit den senkrechten Pupillen wippen jetzt keine Armlänge von Meeras Kopf entfernt hin und her. Auch die Iris des Tiers scheint zu leuchten, zwei Lämpchen bei hereinfallender Nacht. Eigentlich bist du wunderschön, denkt sie. Trotz der fürchterlichen Krämpfe im Unterleib muss sie lächeln.

„Aber du kommst zu spät, Schlange!“

Ihr Atem trifft auf den flachen, geschuppten Schädel, dessen rundliche Nasenspitze sich nach oben wölbt und der Schlange ein Aussehen verleiht, als würde sie grinsen. Nicht böse, eher mitleidig.

„Wieso“, flüstert sie, „wieso kommst du erst jetzt?“

Sie hört noch, wie die Bastbänder mit den vielen bunten Glasperlen am Türrahmen leise klingelnd geteilt werden.

Dann taucht die Welt in ein alles erlösendes Schwarz.


„Eine Vergiftung ist immer moralisch.“

Francis Picabia, Jesus Christus Rasta

1

„So!“, zischte Frieda, was eigentlich so nicht bedeutete, nicht mit mir. Sie hatte die Schnauze gestrichen voll. Zog eine Zigarette aus der gelben Schachtel und stand auf, um sich zu verdrücken.

„Ich geh nur mal schnell an die frische Luft.“

An jene frische Luft, die gleich nicht mehr so frisch sein würde, weil sie sie jetzt verpesten würde. Krebs hin, vorzeitiger Tod her. Um sich und den Menschen ihrer Umgebung erheblichen Schaden zuzufügen. Wenigstens konnte ihr Gequalme ihrem Kind nichts anhaben. Weil sie keines hatte, haha, und auch keines erwartete. Baby, nein danke!

Wenn es noch einen anderen Grund als ihre Sucht gebraucht hätte, warum sie Leo allein in der andächtig lauschenden Menge zurückließ, hätte sie auf diesen schrägen Vogel aus dem Ländle verweisen können. Ein Vorarlberger Autor, der aus einem höchst nervigen Kriminalroman las. Nicht einmal ein verdammter Kommissar kam darin vor. Wie konnte man etwas Kriminalroman nennen, wenn darin kein Ermittler dem Verbrecher hinterherhechelte! Nur ein Bergfex, der auf über zweitausend Meter Seehöhe aufgewachsen war, konnte so etwas Geschraubtes von sich geben. It needs a mountain to fall that low. Ein Spruch von Lou Reed, oder doch von jemand anders? Kopfschüttelnd zog sie an der Zigarette.

Zwei weitere Literaturflüchtlinge gesellten sich zu ihr in die Kälte, packten ihre Päckchen aus, gaben einander Feuer. Die Raucherzone draußen vor der Tür: der letzte Ort für spontane Bündnisse in dieser entsolidarisierten Gesellschaft. Okay, sie stank ein bisschen, diese Zone, und man fror sich einen ab. Aber war das nicht immer so, wenn ein paar arme Schweine sich zusammenfanden? Vielleicht war ja nur dann etwas von Solidarität zu spüren, wenn es um einen herum so richtig bedrohlich war? So frostig und stinkig wie vor dem Wien Drei in einer Novembernacht, in der der Winter erstmals in diesem Jahr heftig an die Tür klopfte. Der mit den matschigen Stadtstraßen.

Denn der andere, der in ihr, war schon längst ausgebrochen. In aller Härte.

Sie war heute das erste Mal hierhergekommen – Leo zuliebe. Er hatte dieses Faible für Autoren aus dem alemannischen Westen entwickelt, seit er letzten Sommer bei einer von einem Supermarkt organisierten Bodenseefahrt entdeckt zu haben glaubte, dass das Ländle K & K vom Feinsten zu bieten hatte: Käse und Kultur. Seither suchte er auf Brunnen- und Naschmarkt gezielt nach Bergkäse aus dem hinteren Wauld (so nennen die Bregenzerwälder ihre Gegend) und las neuerdings Köhlmeier und Konsorten. Und eben deshalb hatte er sie ins Wien Drei geschleppt. Bloß, weil irgendein Vorarlberger Schriftsteller dort las. Und sie hatte genickt und war ihm nachgetrottet wie … wie ein folgsames Schulmädchen. War das jetzt die sexuelle Hörigkeit, oder was?

Bullshit! Mit Sex und Hörigkeit hatte das zuletzt zu tun. Das war nun echt nicht ihr Thema.

Sie wünschte, es wäre es gewesen!

Wann und wodurch wird eigentlich aus dem LAP, dem Lebensabschnittspartner, ein biederer Lapp im wahrsten Sinn des Wortes? Mit dieser Frage sollte frau sich schon einmal auseinandersetzen. Und sie sollte sich vor allem fragen, wann es an der Zeit wäre, diesen Lebensabschnitt für beendet zu erklären und den Lappen aus dem Bett zu werfen. Und sei es ein sündteures Wasserbett, das er ihr anlässlich seines Einzugs in ihre Wohnung vor fast genau drei Jahren vermacht hatte.

Das Blöde war nur, dass dieser Lapp immer genau dann, wenn sie so weit war, dass sie ihm sein verdammtes Wasserbett nachschmeißen und den Wohnungsschlüssel abknöpfen wollte – endlich, endlich auch zu Hause die Taffe sein, als die man sie in der Arbeit immer hinstellte! –, dass dieser Haderlump akkurat dann eines seiner selbst gekochten viergängigen Menüs für sie hinzauberte, wie es im besten Haubenlokal nicht raffinierter zu kriegen war, mit roten Rosenblüten als Dekoration. Oder dass er sie mit einer Massage verwöhnte, bei der sich im wohligen Rieseln die entschiedensten Trennungsgedanken von einem trennten, trennen mussten, um irgendwo in der Gegend des Steißbeins zu zerstäuben …

Nach dem Menü, nach der Massage dann das Ritual der Selbstvorwürfe: Wie konntest du nur vergessen, wie lieb er doch ist, was er alles für dich tut, wie viel Geborgenheit er dir schenkt. Zweifelsohne gab es Hunderte, ach was, Tausende alleine in dieser Stadt, die mieser waren als er. Wie egoman konnte frau eigentlich sein? Vielleicht lag es ja schlicht an ihr. Vielleicht sollte sie mal an der eigenen Fassade kratzen und, wenn möglich, noch ein bisschen tiefer. Woher rührte nur ihre wabernde Unzufriedenheit? War sie womöglich der Ausfluss aus der ständigen Beschäftigung mit den Grauslichkeiten dieser Welt im Jammertal unseres Jobs, wie Fillinger es neulich so treffend formuliert hatte? Und wenn du einmal über den eigenen Tellerrand schaust, nur ein bisschen, auf all die trauten Pärchen in deinem Bekanntenkreis zum Beispiel, wie sie ticken beziehungsweise eben nicht ticken! Sei ehrlich: Geht es dir da nicht vergleichsweise … ja, was genau? Super, prächtig, passabel? So lala? Wie auch immer, du gibst ihm und dir und dem, was man Beziehung nennt, halt noch eine Chance. Eine letzte oder vorletzte, was soll’s. Baust dich auf an den hausbackenen Leopold’schen Komplimenten, an seinen kleinen Aufmerksamkeiten. Opferst dem lieben LAP einen weiteren Lebensabschnitt, investierst erneut – wenn auch nicht gerade rundum erneuert – in die Beziehung und hasst dich gleichzeitig dafür, dass du Ausdrücke wie investieren und Beziehung verwendest, als wären die beiden kompatibel.

Sie dämpfte die Zigarette mit der Stiefelspitze aus und stapfte zurück ins Lokal. Der Vorarlberger Autor war immer noch nicht fertig mit seiner Lesung. Nach jedem zweiten Satz starrte er irgendwen im Publikum an, vielleicht versuchte er so, die Reaktion auf seine Worte zu testen. Jetzt hatte er Frieda beim Eingang bemerkt und musterte sie mit einem strafenden Blick. Schließlich hatte sie es gewagt, sich für die Dauer einer Zigarettenlänge seiner Aura zu entziehen.

Dann las er weiter aus seinem Buch: „,Cool, Baby!‘ ,grinst er. ,Du musst lernen, der Realität ins Auge zu sehen.‘“

Frieda wusste nicht, was mit ihr passierte. Aber plötzlich musste sie losprusten, deutlich vernehmbar bis in den hintersten Winkel. Das Publikum quittierte es mit einem entrüsteten Murmeln. Frieda konnte dennoch nicht aufhören zu lachen.

Der Schriftsteller legte langsam das aufgeschlagene Buch mit dem Umschlag nach oben auf den Tisch.

„Darf ich fragen, was Sie daran so lustig finden?“, fragte er pikiert.

„Keine Ahnung. Tut mir leid, es hat mich einfach so überkommen. Vielleicht …“, sie hielt sich kurz die Hand vor den Mund, um nicht wieder loszuprusten, „vielleicht liegt es ja an diesem Du musst lernen, der Realität ins Auge zu sehen. Erinnert mich irgendwie an einen alten Humphrey-Bogart-Schinken.“

Der Autor stand auf und knipste demonstrativ die Leselampe auf dem runden Tischchen aus.

„Ich denke, wir machen hier Schluss. Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit – jedenfalls all jenen, die sie mir tatsächlich geschenkt haben.“

Beleidigte Leberwurst! Frieda zuckte mit der Schulter. Ob sie Leberwürste im Ländle überhaupt kannten? Das böse Gemurmel im Raum nahm nach dem vorzeitigen Abgang des Schriftstellers kurz an Intensität zu, für Frieda hörte es sich an wie die akustische Vorhut eines nach Lynchjustiz gierenden Mobs. Sie zog Leo vom Stuhl hoch.

„Komm, wir gehen.“

„Also, ich wollte eigentlich noch …“

„Ich muss hier raus, Poldi – mit dir oder ohne dich!“

Er blickte einen Moment unschlüssig in Richtung Bar, wo dem frustrierten Autor gerade ein Glas Rotwein eingeschenkt wurde. Am Ende will er sich noch bei dem Xiberger für mein Verhalten entschuldigen, schoss es Frieda durch den Kopf.

Aber Leopold Laubers Grund, noch bleiben zu wollen, war ein durch und durch profaner: Er hatte sich die ganze Zeit über schon so auf das Vierterl gefreut, das ihm jetzt nicht vergönnt war. Dabei schmeckte der Zweigelt im Wien Drei hervorragend!

*

Danach hatte sie ihm gegenüber natürlich wieder dieses schlechte Gewissen, eh klar!

Längst hätte sie aus leidvoller Erfahrung wissen müssen, dass ihr schlechtes Gewissen niemals ein sanftes Ruhekissen hergab; schon gar nicht war es etwas, aufgrund dessen sie jemals eine Entscheidung gefällt hatte, die sie nicht sofort wieder bereut hätte. Dennoch, sie konnte auch diesmal nicht umhin, den von ihr provozierten Eklat gleich wiedergutmachen zu wollen. Eine spontane Einladung war das Einzige, was ihr auf die Schnelle einfiel.

„Weißt was, als Entschädigung kommst nächste Woche mit auf unser Symposium, okay? Ich weiß doch, wie du auf so was stehst. Mindestens fünf Stunden Philosophie am Stück. Wer, wenn nicht du, ist dafür der Richtige?“

VMV, der Vienna Medienverlag mit seinem knappen Dutzend an Zeitungen und Zeitschriften, wollte sein zwanzigjähriges Jubiläum mit einem Symposium feiern. Thema: Risken und Chancen des Unvorhersehbaren. Drei hochkarätige Referenten waren dafür angekündigt sowie eine abschließende Podiumsdiskussion, das volle Programm. God himself, im Zivilberuf Chefredakteur von opinion und gesegnet mit dem zu seiner Statur passenden Namen Fillinger, hatte ausdrücklich betont, dass nicht nur sämtliche Journalisten und Verlagsbedienstete eingeladen seien, sondern auch deren Angehörige, Freunde und Verwandte. Und irgendwo dazwischen war ja wohl auch Friedas knuddeliger Lapp anzusiedeln.

Leo war selig über die Einladung. Einem Privatgelehrten wie ihm, der seit Äonen Die Zeit abonniert hatte und diese auch las, der etliche Philosophen zu seinen persönlichen Freunden zählte und keinen öffentlichen Diskurs versäumte, konnte man damit echt Freude machen. Frieda selbst hätte auf das Brimborium gut und gerne verzichten können. Mit ihren Kollegen und Vorgesetzten musste sie nicht auch noch am freien Samstagnachmittag zusammenhocken, aber immerhin: So hatte man wenigstens zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Und dass der Veranstalter nur die besten Tröpfchen und ein erlesenes Buffet auffahren lassen würde, galt als gesichert.

 

*

Sie saßen in dem aus architektonischer Sicht nicht einmal üblen neuen Veranstaltungssaal im zweiten Bezirk und lauschten den einleitenden Grußadressen. Zuerst gab ein abgetakelter ORF-Reporter in seiner Funktion als Moderator den Ablauf der Veranstaltung bekannt; danach redeten, natürlich allesamt länger als vereinbart, die grüne Vizebürgermeisterin, ein launiger Vertreter der Gewerkschaft und Minister Steindlinger, der die Bedeutung des Vienna Medienverlags für die österreichische Printbranche nicht genug betonen konnte. Wahrscheinlich hofft der Gute, dadurch künftig ein wenig besser in den diversen Organen des VMV abzuschneiden, spekulierte Frieda. Wegen der leidigen Inseratenkampagne, die im Untersuchungsausschuss abgewürgt worden war, hielten sich die Ministerien derzeit ja etwas zurück mit Einschaltungen, welche die Hofberichterstattung fördern sollten.

Endlich waren die Grußadressen erledigt, und der Moderator kündigte die erste Referentin an: eine Frau Dr. Riemer aus Deutschland, die ihr Philosophie- und Sprachstudium summa cum laude abgeschlossen habe.

Als die blonde Dame mit ihrem Headset die Bühne betrat und sich einige Meter vom Rednerpult entfernt platzierte, um zu demonstrieren, dass sie sich nirgendwo anhalten musste, ging ein Raunen durch den Saal: Eine solch hübsche Philosophin hatte man seit der lesbischen Sappho nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Sie charakterisierte sich selbst als praktische Philosophin, die nicht nur ein Beratungsinstitut leite und wissenschaftlich tätig sei, sondern auch einmal pro Woche im Krankenhaus, Sparte Onkologie, arbeite. Nach Eigendefinition eine postanalytische Dekonstruktivistin und, wie sie zu vermitteln versuchte, eine mit unendlicher Erfahrung. Wie alt die Tussi wohl ist, fragte Frieda sich und holte den Programmzettel hervor. Aber das Alter der Referenten war darauf nicht vermerkt, nur deren wichtigste Publikationen.

DDr. Riemer sprach frei und nach allen Regeln der Kunst. Das heißt nach den Regeln der Rhetorik, die sie zweifellos beherrschte. Sie benötigte keinen Spickzettel, artikulierte klar und deutlich, ihre Stimme kippte nie und sie verstand es, mimisch zwischen ernstseriös und lächelnd-vereinnahmend zu changieren. Ihre Gesten unterstützten das Gesagte, ohne zu übertreiben, und die Pausen setzte sie geschult an der richtigen Stelle. Perfekt, ohne Frage, ein seltener Fall von femininer Selbstsicherheit und Bühnenpräsenz. Aber irgendetwas begann bei Frieda Widerstand zu erregen. Sie blickte zu Leopold hinüber, der sein allzeit bereites Notizbuch, das sie ihm letzte Weihnachten geschenkt hatte, aufgeklappt auf dem Schoß liegen hatte. Offenbar hatte er sich bisher noch kein Wort notiert und blickte unverwandt in Richtung Podium. Ob die Schönheit der Referentin ihn so ablenkte, dass er aufs Mitschreiben verzichtete? Als die doppelte Doktorin davon berichtete, ihre jeweiligen Krebspatientinnen gleich zu Beginn der gemeinsamen philosophischen Diskurse mit der Frage Wofür leben Sie? zu konfrontieren, begannen sich bei Frieda die Haare aufzustellen. Und was machst du, wenn eine deiner Patientinnen dir diese Frage zurückgibt? Oder wenn eine doppelt so alte wie du, mit dem Tod Ringende dich verzweifelt anschaut? Zuckst du dann vielleicht doch ein klein bisschen zusammen, wischst du dir die blonde Mähne dann nicht mehr ganz so kokett aus der Stirn?

Frieda verspürte den heftigen Impuls, den Saal zu verlassen. Nicht, weil ihr nach einer Zigarette zumute war, sondern aus dem Gefühl heraus, der aalglatten, geschniegelten Atmosphäre entkommen zu müssen, dieser Mischung aus Selbstinszenierung und gepflegter akademischer Zitiermanie (ein bisschen Nietzsche hier, ein bisschen Seneca da). Aber hatte sie sich nicht geschworen, dieses Mal durchzuhalten, komme, was da wolle? Um sich zu beweisen, dass sie noch gesellschaftsfähig war, und, ja vielleicht, auch ein bisschen Leo zuliebe? Sie atmete tief durch. Von Odysseus war jetzt die Rede, von der Unberechenbarkeit seiner Irrfahrt, die er auf sich genommen und trotz aller Fallen und Gefahren glücklich zu Ende gebracht habe. Und wie erging es seinen Gefährten? Kamen sie nicht allesamt dabei ums Leben?

Als hätte die Referentin Friedas stillen Einwand gehört, erläuterte sie, dass es genau darum nicht gehe. Die von Skylla Verschlungenen oder vom Zyklopen Erschlagenen seien Randfiguren in diesem Mythos, im Zentrum stünde die freiwillige Annahme des jeweiligen, noch so harten Schicksals. Das, und nur das gewähre Freiheit, die Freiheit des Geistes über alle irdischen Bedingtheiten. Das Akzeptieren der eigenen Unzulänglichkeit, der existenziellen Grenzsituation gelte es jeden Tag aufs Neue zu erproben und dem Unberechenbaren, Unerwarteten unerschrocken ins Auge zu sehen. Sich, um im Bild zu bleiben, dem fürchterlichen Blick des Zyklopen auszusetzen, nur um ihm bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mutig den Pfahl ins Auge zu rammen. Auch wenn diese Odyssee zehn Jahre dauern möge oder länger. Und so weiter, und so fort …

Nachdem die schöne Philosophin unter tosendem Applaus die Bühne verlassen hatte, folgte das Referat eines schon leicht ergrauten, aber umso arrivierteren Kriegsberichterstatters, der Frieda sofort an Bernd Lussnig erinnerte. Er erging sich in zahlreichen Anekdoten über die Unwägbarkeiten in arabischen und afrikanischen Kriegsgebieten und betonte, keineswegs aus selbstzerstörerischen Tendenzen heraus immer wieder solch lebensfeindliche Schauplätze aufzusuchen. Warum dann, das sagte er nicht. Nach der dritten Geschichte, in der der edle Held wieder nur um Haaresbreite einem Anschlag oder einer Entführung entkommen war, schaltete Frieda innerlich ab.

Von welchen verdammten Risken und Chancen war da eigentlich die Rede? Welche Präpotenz brauchte es, nach der glücklichen Heimkehr ins sichere Mitteleuropa vom Umgang der Kriegsopfer mit ihren Ängsten und Nöten zu schwafeln? War das nicht auch das Dilemma aller Promiberichterstatter: dass sie den eigenen Standpunkt, die eigene Wahrnehmung mit jener der direkt Betroffenen gleichsetzten? Dass sie ihr eigenes Davongekommensein mit anekdotengewürzten Referaten zu entschuldigen suchten? Es konnte einem übel werden davon, speiübel!

Wissend, dass sie soeben wieder einmal im Begriff war, einen Schwur zu brechen, erhob sie sich von ihrem Sitz und bat Leo, sie hinauszulassen.

„Ich muss nur schnell mal wohin.“

Aber sie kehrte nicht zurück. Schnappte sich stattdessen im Foyer, wo die Kellner bereits damit beschäftigt waren, das Buffet aufzubauen, ohne zu fragen, ein Glas Weißwein und flüchtete damit hinaus in den begrünten Innenhof. Hier würde sie warten, bis der dritte Vortrag, in dem eine Klimaforscherin über die Grenzen der Wissenschaft sprechen sollte, vorbei war. Bei Leo würde sie sich halt für ihre abermalige Desertion entschuldigen müssen. Vielleicht würde er sie dafür mit dem traurigsten Hundeblick bestrafen, zu dem er fähig war. Seis drum. Diese bescheuerten Referate hatten mit ihr so viel zu tun wie … wie die mythischen Sirenen mit jenen neuzeitlichen, die samstags zu Mittag heulten! Das musste sie sich nun wirklich nicht länger geben.

Sie fragte sich, von welchen Risken und Chancen die Rede sein müsste, dass es mit ihr etwas zu tun hätte. Dass auch sie, Frieda Prohaska, sich daran aufbauen könnte. Flaute. Einöde. Kahlschlag. Das waren die Bilder, die ihr einfielen, wenn es ums Eingemachte ging. Um die nüchterne, die ernüchternde Zwischenbilanz, die frau mit knapp achtunddreißig zu ziehen hatte.

Die einzig interessante Story der letzten Jahre war ihr vor fast vier Monaten entzogen worden. Unmittelbar nach Bernds Unfall. Weil man ihr nicht zutraute, in seine Fußstapfen treten zu können. Weil man ihr keine Chance geben wollte, die Sache alleine durchzuziehen. Und vielleicht hatten sie sogar recht gehabt damit.

Vielleicht kannten Fillinger und Glenk sie ja besser als sie sich selbst …

Jedenfalls musste sie sich seit Juli mit lächerlichen Brosamen über Wasser halten. Mit Aufträgen, die weder finanziell noch journalistisch gesehen etwas hergaben. Und den Wechsel zu einem anderen Magazin konnte sie auch vergessen. Sämtliche Bewerbungen waren ein Flop gewesen, meist hatte man sie nicht einmal zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Die Printbranche lag darnieder, so sah es aus. Da konnte Minister Steindlinger daherquatschen, was er wollte.

Sie hockte unter einer Linde, deren Blätter allesamt abgefallen waren, und schlotete still vor sich hin. Es war föhnig, untypisch für einen Novembertag in Wien, sie schätzte die Temperatur auf knapp zwanzig Grad. Aus dem Vortragssaal drang kein Laut, und die hohen Mauern des Innenhofs schirmten den Verkehrslärm fast hundertprozentig ab.

Dennoch hatte sie plötzlich dieses Rauschen in den Ohren.

Auf einen Schlag, ohne jegliche Ankündigung, wie es nun einmal so seine Art war, schlug der alte Tinnitus wieder zu.

*

Sie steht am offenen Grab, umgeben von wenigen Verwandten und Bekannten. Es ist ein Sommertag, es ist heiß. Sie lässt die weiße Rose auf den mit Weihwasser vollgespritzten Sargdeckel fallen. Ein Fallen in Zeitlupe, in Superzeitlupe, bei der alle Geräusche sich verzerren. Das Gemurmel des Pfarrers, der sich trotz allem bereit erklärt hat, ein Begräbnis zu zelebrieren, zu einem Gequietsche entstellt, beendet erst durch eine einzige, entsetzliche Detonation: Die Rose hat eingeschlagen. Hat sich in den massiven Deckel mit dem schlichten Holzkreuz gebohrt und verwandelt sich jetzt, geführt von Geisterhand, in eine Dornenkrone.

Eine Detonation, die es gar nicht geben kann, geben darf.

Und die dennoch einen Tinnitus auslöst, der sie in alle Ewigkeit begleiten wird.

Betäubt klappt sie den Sarg auf, betrachtet das Gesicht der Mutter mit den weit aufgerissenen Augen, mit den schrecklich bleichen Lippen, die vergeblich ein letztes Wort zu formulieren versuchen: Frieda.

Klagend, flehend, im höchsten Diskant: Friiie-da, Friiie-da …

Hör auf, bitte hör endlich auf! Vergib uns unsere Schuld, Mama, vergib wenigstens mir!

Ja, ich hätte dich öfter besuchen müssen, dich nicht so alleine lassen dürfen. Hätte wissen müssen, wie dir zumute ist, nach all den Jahren ohne Mann, ohne Wärme. Du und ich, wir sitzen im selben Boot, hast du mehr als einmal gesagt. Aber ich habe dich nicht verstanden, habe deine Hilferufe nicht gehört. Du hast geschrien, wenn du schweigend in deinem Lehnstuhl gehockt bist, wenn du mich so müde angeschaut hast. Nicht anklagend, nur unendlich müde.

Das Schnitzelmesser, es ist neben dir in der Wanne gelegen.

Ein solides, altes Küchenmesser mit zwei Messingschrauben im Griff. Du hast dafür gesorgt, dass es immer gut geschliffen war. Das zäheste Hammelfleisch hat sich anstandslos damit zerlegen lassen, mit dem Schleifstein hast du umgehen können wie keine sonst. Das kommt davon, wenn man mit der Sense in der Hand auf die Welt gekommen ist – deine Worte! Früher hast du die Wiese hinterm Haus noch selbst gemäht. Alle paar Minuten hast du den grauen, speckigen Schleifstein hervorgezogen und das Sensenblatt damit nachgeschärft. Das Messer war ein Teil der Mitgift, ja, der halbe Hausrat wurde einem nachgeschmissen bei der Hochzeit dazumal, nicht irgendwelche teuren Reisegutscheine wie heutzutage. Deine Eltern haben es bei einem der letzten Messerschmiede in Zwettl anfertigen lassen. Weißt du noch, wie du mir das stolz erzählt hast?