Resli, der Güterbub

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Resli, der Güterbub
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Resli, der Güterbub

Geschichte eines Bernerjungen

Franz E. Schlachter


Impressum

© 1. Auflage 2021 ceBooks.de im Folgen Verlag, Langerwehe

1. Neuauflage der Druckausgabe 2004 im Eigenverlag Freie Brüdergemeinde Albstadt

© 2004 Karl-Hermann Kauffmann, Albstadt

Erstmals 1891 erschienen bei: Verlag der „Brosamen“

Büreau der Evang. Gesellschaft, Bern.

Für Deutschland bei Joh. Schergens, Bonn.

Autor: Franz E. Schlachter

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-281-4

Verlags-Seite und Shop: www.ceBooks.de

Kontakt: info@ceBooks.de

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Inhalt

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Autor

Vorwort

1. Die Verdinggemeinde

2. Die erste Morgenandacht

3. Zu früh

4. Wie Resli vom Regen unter das Dachtrauf kommt

5. Resli geht auf die Wanderschaft

6. In die Hölle und wieder heraus

7. Am Maimärit auf dem Tanzboden

8. Ein Dieb

9. Wie ein junger Knecht Neujahr gefeiert hat

10. Ein überwundenes Vorurteil

11. Wie ein Meister zum Bauen und ein Knecht zu seiner Erbauung kommt

12. Ein misslungener Angriff

13. Eine Maifahrt

14. Wie ein junger Bauernknecht zum ersten Mal nach Bern kommt und ein alter Schulmeister zum letzten Mal

15. Was die Liebe vermag

16. Wie aus dem ehemaligen Güterbuben ein Gutsbesitzer wird

Nachtrag

Chronologische Bibliographie Schlachters Schriften (nur auszugsweise):

Letzte Seite

Autor

Franz Eugen Schlachter war Prediger der Evangelischen Gesellschaft in Bern und Biel bzw. der Freien Evangelischen Gemeinde in Bern. Er war Schriftsteller, Verfasser verschiedenster Bücher und Broschüren, Herausgeber der „Brosamen“, einer erwecklichen evangelischen Volkszeitung und der Übersetzer der „Miniaturbibel.


Das Bild zeigt Franz Eugen Schlachter in jungen Jahren, ca. Mitte 20, als Prediger der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Bern

Geprägt war er von der Heiligungsbewegung, mit der er in jungen Jahren in Berührung kam und von seiner Ausbildung an der Evangelischen Predigerschule in Basel unter Inspektor Wilhelm Arnold-Rappard, einem Schwager von Carl-Heinrich Rappard. An dieser Schule kam er vor allem mit dem Gedankengut von Johann Tobias Beck in Berührung, dem großen Prediger und Theologen aus Tübingen, der in Balingen, Württ., als Sohn eines Seifensieders geboren wurde.


Vorwort

Das vorliegende Buch ist eine der ersten großen Erzählungen von Franz Eugen Schlachter. Eigentlich ist es eine Nacherzählung der Geschichte des Berner Verdingkindes Andreas Balli.

Im Stil eines Jeremias Gotthelf erzählt Franz Eugen Schlachter (FES) die erschütternde Geschichte des jungen „Resli“.

Um dieses wertvolle Werk Schlachters auch in seiner Eigenart wirken zu lassen, habe ich auf eine eigentliche Bearbeitung verzichtet und nur die übersetzungsbedürftigen Worte in der Fußnote erklärt.

Wie die meisten Werke Schlachters war der „Resli“ zuerst in den „Brosamen“, der Zeitschrift Schlachters, erschienen.

Herzlich danken möchte ich Paul Blösch sen., der mir das Originalbüchlein „Resli“ freundlicherweise geschenkt hat und meinem Sohn Peter-Michael, der das Buch Wort für Wort abgetippt, die „unverständlichen“ Begriffe herausgesucht, im Lexikon nachgeschlagen bzw. als offenen Punkt festgehalten hat.

Nicht zuletzt gebührt mein Dank aber auch Pfarrer i.R. Franz Baumann, dem Enkel von Franz Eugen Schlachter, der mir freundlicherweise und unermüdlich die spezifischen – für mich schwer verständlichen – Berndeutschen und Altschweizer Ausdrücke „übersetzt“ hat.

Man muss sich des Weiteren ja fragen, was einen „Schwaben“ bewegt, dieses Werk von Franz Eugen Schlachter – vorläufig nur im Manuskriptdruck – neu aufzulegen.

Im Zuge der Biographie musste ich mich natürlich auch mit den Werken von FES auseinandersetzen. Frühzeitig stieß ich auf den Resli und meine Neugier kannte keine Grenzen, diese Geschichte kennen zu lernen.

Lange sah es danach aus, als wäre es unmöglich, ein Exemplar vom „Resli“ zu bekommen. Ich war deshalb umso mehr erfreut und sehr dankbar, als Paul Blösch sen. mir das Büchlein freundlicherweise geschenkt hat.

Schon als ich die ersten Seiten las, hat mich die Geschichte dieses Bernerkindes erschüttert.

Nachdem schon lange der Entschluss gereift war, die zugänglichen Schriften von Franz Eugen Schlachter neu aufzulegen, liegt nun „Resli“ als zweites Werk, nach „Berechtigung und Aufgabe der Predigt“, im Manuskriptdruck vor.

Ich wünsche dem Leser Gottes Segen und ein vertieftes Nachdenken darüber, wie gut es uns heute geht und was wir Gott alles zu danken schuldig sind.

Karl-Hermann Kauffmann

1. Die Verdinggemeinde1

Es war an einem jener schönen Februarmorgen, wo der Bär seine Tatzen sonnt, um sich nachher noch weitere sechs Wochen in die Höhle zu verkriechen. Unerfahrene Leute hängen an einem solchen Tag die Vorfenster aus, suchen die Sommerkleider hervor, und in manchem Hause gibt es Tränen, weil die Mädchen gerne ihre Strohhüte aufsetzen würden und die Mutter es nicht haben will. Sogar ein Margritli steckt da und dort den Kopf unter der schützenden Mutter Erde hervor und schaut verwundert in die neue Welt; von wegen, so ein Margritli ist eben auch ein unerfahrenes Ding, es hat noch nicht manchen Winter erlebt.

Die ehrbaren Gemeindsmannen von Kurzenwyl waren nun freilich keine unerfahrenen Neulinge mehr auf dem Gebiet der Wetterkunde, und doch saßen sie heute samt und sonders in der „Sonne“ zu Kurzenwyl. Gab es doch nicht alle Tage einen so guten Vorwand, um unbeschrauen2 zu einem Schoppen3 zu gelangen, wie an diesem Tag.

Auf 9 Uhr war die Verdinggemeinde angesetzt, und dass es heute etwas lange gehen könnte im Schulhaus drüben, das bewies das dicke Buch des Gemeindeschreibers, in dem ein ganzes Heer von Notarmen verzeichnet stand. Die Gemeinde Kurzenwyl war von jeher nicht reich gewesen, und nun hatten sich auch noch die Folgen der Hungerjahre eingestellt, die nach den Kriegen des großen Napoleon Europa heimsuchten und noch vollends zertraten, was diese Geißel Gottes nicht getroffen hatte. Man zählte zwar jetzt Anfangs der 20er Jahre, aber die Wunden, welche das 17er Hungerjahr geschlagen, waren noch nicht verschmerzt; dazu kam, dass in der armen Gemeinde sieben Jahre hintereinander das Hagelwetter minder oder mehr die Ernte zerstörte. In einer Zeit, wo man in den abgelegenen Schweizertälern noch kein russisches Getreide aß, wie dies heute dank der Eisenbahnen der Fall ist, bedeutete eine solche Vernichtung der Ernte noch einen viel schwereren Schlag, als jetzt.

 

Kein Wunder, dass heute das Schulhaus der besuchteste Ort in der ganzen Gemeinde war. Die Kurzenwyler hielten zwar sonst nicht viel drauf. Sie fanden es nicht nötig, dass die Jungen mehr wissen sollten als die Alten gelernt. Wenn ihre Kinder Gedrucktes und etwa noch Geschriebenes lesen konnten, war das nicht genug? Sie schickten sie also nicht gar zu fleißig in die Schule; zwei bis drei halbe Tage in der Woche war übergenug. Heute aber, wo es sich nicht ums Lernen, sondern um Armenversorgung handelte, war das Schulhaus viel zu klein. Vielleicht stand die große Armenlast der Gemeinde in einem gewissen Zusammenhang mit der Gleichgültigkeit gegen die Schule? Wir wissen gar wohl, dass die Bildung nicht alle Quellen der Armut verstopft, aber Manches wäre nicht auf die Gemeinde gekommen, wenn es in der Jugend mehr gelernt hätte.

Während die Gemeindsmannen sich in der „Sonne“ drüben stärkten für die bevorstehende schwere Pflicht, sammelten sich die Armen vor dem Schulhause. Sie waren froh, dass der liebe Gott eine Sonne gemacht hat, in der man sich erquicken kann ohne Geld und umsonst.

Dort auf der Bank hinter dem Schulhause hatte sich eine Mutter mit drei Kindern hingesetzt. Das Älteste, ein Mädchen, mochte etwa 11 Jahre alt sein; ihr Jüngstes, ein Knabe, hatte eben das 7. zurückgelegt. Die Kinder hielten die Mutter fest, und die gute Frau trocknete ihre Tränen und rang nach Trost. Sie kam sich vor wie Abraham, als er an jenem Morgen in der Frühe seine Hütte verließ, um seinen geliebten Sohn auf dem Berge Morija zu opfern. War doch auch sie heute Morgen von zu Hause aufgebrochen, um diese ihre drei Kinder auf den Altar zu legen. Nur schien es ihr, ihre Lage sei unendlich trauriger als diejenige Abrahams. Er hatte nur einen Sohn zu opfern, sie aber ihren Jüngsten und noch zwei Töchter dazu. Abraham wusste, wo sein Isaak hinkomme, wenn er ihn geopfert hatte; er gab ihn ja Gott; sie aber wusste nicht, wo ihre Kinder hinkommen konnten, wenn sie heute von der Gemeinde an den Mann versteigert würden, der das geringste Kostgeld verlangte für sie. Da konnten sie ja zu einem wahren Teufel kommen, in eine wahre Laster- oder Zankhölle, jedenfalls kamen sie nicht wie Isaak in den Himmel hinein. Diese Gedanken plagten die betrübte Mutter, und wie ein Schwert ging es ihr durch die Seele, wenn eins ihrer Kinder ums andere sie schluchzend fragte: „Gelt Mutter; Du verlässest uns nicht; gelt, man nimmt uns nicht von Dir weg?“

Ja, die arme Mutter, sie hätte ihre Kinder jetzt nicht verlassen müssen, wäre sie nur im Witwenstand geblieben. Aber sie hatte das Los ihrer Kinder und ihr eigenes zu verbessern gedacht, dadurch dass sie zwei Jahre nach dem Tode ihres Mannes einen Witwer heiratete, der zwar ein Heimet4, aber ein verschuldetes und dazu vier minderjährige Kinder besaß. Als Witwe hatte sie wenigstens nur für drei zu sorgen gehabt, bekam den Bürgernutzen5 in ihrer Heimatgemeinde und war als fleißige Arbeiterin im Stande, Tagelohn zu verdienen da und dort. Ihre Kinder erzog sie ordentlich, und der gute Gott, auf den sie vertraute, sorgte väterlich für sie. Wenn die Kinder um ein Stücklein Brot baten, so hatte sie es ihnen nie abschlagen müssen, und wenn sie sich zusammen an den Tisch setzten, so mussten die Kleinen das Verslein singen:

Er ist’s, der die Witwen schützt,

Er versorgt das Waisenkind,

Er erhält und unterstützet

Alle, die bedürftig sind!

Aber nach ihrer zweiten Verheiratung sah sie sich bald bitter getäuscht und lernte das Wort der Schrift verstehen: „Verflucht ist, wer sich auf Menschen verlässt und Fleisch für seinen Arm hält.“ Mit einem Male war sie nun Mutter von sieben Kindern geworden. In der neuen Heimat, auf die sie sich vertröstet, fand sie, als sie mit ihren drei Kindern einzog, alles öd und leer. Als das Wenige, was sie noch mitgebracht hatte, aufgezehrt war, ging das Hungern an. Die vier hungrigen Wölfe, deren Stiefmutter sie geworden, nahmen ihren eigenen Kindern die Speise vom Munde weg. Resli, so hieß ihr Jüngster, wurde vom Stiefvater manchmal ungegessen mit den Ziegen auf die Weide geschickt.

O, wie oft hat er da gewünscht, wenn er nur auch eine Ziege wäre, damit er doch Gras essen und so wenigstens wieder einmal seinen Hunger stillen könnte! Einmal, im Herbst, saß der sechsjährige Knabe am Saume des Waldes. Während die glücklichen Ziegen ihr Futter suchten, weinte Resli bitterlich, weil der Hunger ihn plagte. Endlich fing er an zu beten, das hatte ihn ja die Mutter gelehrt: „O treuer Gott, in meiner Not ruf‘ ich zu Dir!“ Und sieh‘, da kam eine Frau aus dem Wald mit einem Korb am Arm. Ob sie den Knaben gehört hatte, oder ob Gottes Geist sie unbewusst dazu trieb, sie stellte den Korb ab, nahm einen Laib Brot herunter, groß genug, um seinen Hunger damit zu stillen.

Aber nicht genug an dem, dass die armen Kinder hungern mussten, ihre Mutter musste auch Zeuge davon sein, wie der Stiefvater, ein rauer, grober und selbstsüchtiger Mann, sie lieblos behandelte, und wie sie ihm überall im Wege waren. Dass er seine eigenen Kinder nicht viel besser behandelte, war kein besonderer Trost. Diese hielten sich auch darnach; wie der Baum, so die Frucht. Sie waren wild und unbändig, konnten weder lesen noch beten, dafür hatten sie das Fluchen umso besser los. Es wollte der Mutter das Herz brechen, dass ihr Resli solche Buben zu seinen Brüdern und Vorbildern bekommen hatte; denn sie waren älter als er, und er musste ihnen folgen, oder sie schlugen ihn. Das erste Mal, als sie mit ihm die Ziegen hüteten, sagten sie dem arglosen Jungen die schrecklichen Flüche vor, er musste sie ihnen nachsprechen; zuerst tat er`s gezwungen, nach und nach aber gewöhnte er sich daran. Sie belehrten ihn über die schändlichsten Dinge, so dass sein jugendliches Herz nach und nach von der Sünde vergiftet ward.

Nach zweijährigem Ehestand erklärte der Stiefvater seiner Frau, er könne ihren Kindern nicht mehr länger zu essen geben, sie müssten auf die Gemeinde. Seine zweite Verheiratung hatten die Gemeindebehörden ihm nur unter der Bedingung gestattet, dass er zwei Jahre lang die drei Kinder seiner zweiten Frau bei sich behalte. Er hielt sein Versprechen pünktlich, denn es waren gerade zwei Jahre seit der Hochzeit verflossen, als die Mutter unter Tränen den drei Kindern ihre wenigen Habseligkeiten in Bündeli zusammenschnürte und schluchzend den Weg zum Schulhaus unter die Füße nahm. Den Gang haben die Kinder in ihrem Leben nie vergessen. Besonders Resli, dem Jüngsten, schien der Gedanke an die Trennung von der Mutter unmöglich zu sein, denn er hing mit ganzer Seele an ihr, und die Tränen der Mutter, die auf dem ganzen Weg ins Dorf hinunter das Gesicht im Lumpen verbarg, redeten laut in die Kinderherzen hinein. Hier saß sie nun mit ihren Würmlein und wartete der Stunde, die ihr das Liebste, was sie auf Erden noch hatte, vielleicht für immer vom Herzen reißen sollte. Doch nein, man kann die Kinder wohl von einer Mutter trennen, aber von ihrem Herzen reißt sie keine Kreatur; eine Mutter, wenigstens eine solche, wie Resli eine hatte, liebt ihre Kinder bis in den Tod.

Mit diesem festen Entschluss, ihre Kinder im Herzen zu behalten, auch wenn sie ihr nun entrissen würden, trat die Mutter mit ihnen in die Schule hinein, als es 9 Uhr schlug. Ach, was bot sich da ihrem feuchten Auge für ein trauriger Anblick dar! Eine solche Verdinggemeinde ist eine Gelegenheit, wo alles Elend einer ganzen Gemeinde zusammenströmt. Alte, gebrechliche Leute werden da von ihren eigenen Kindern hergebracht, damit die Gemeinde sie versorgt oder ihnen ein Kostgeld für sie zahlt. Leichtsinnige Personen werfen hier der Gemeinde ihre armen Würmlein in den Schoß, die oft genug büßen müssen, was ihre gewissenlosen Väter verschuldet haben. Blinde und Taubstumme, Missgeburten und vergleichgültigte6 Geschöpfe, beschränkte und verkrüppelte Personen, die ihr Brot nicht selber verdienen können, werden da zusammengeschleppt, dass es aussieht, wie am Teich Bethesda. Dazu kommen dann erst noch die eigentlichen Waisenkinder, und es fehlt auch nicht an solchen Eltern, welche von ihrem reichen Kindersegen schon während ihren Lebzeiten der Gemeinde gerne eine Abtretung machen würden.

Die Verdinggemeinde zu Kurzenwyl wickelte an jenem Tage ihre Geschäfte in zwei Akten ab. Der erste Akt war die Musterung, der zweite die Versteigerung. Gemustert wurden diejenigen Kinder und Pfleglinge, welche bisher schon von der Gemeinde verkostgeldet gewesen waren. Ihre Meister und Pflegeeltern hatten sie zu diesem Zweck in sauberer Kleidung vor die Gemeindsbehörde zu stellen, damit diese sehen könne, ob sie ihre Sache haben. Nachdem dieser weniger wichtige Teil der Tagesordnung erledigt war, ging man zur Versteigerung der Neuzuversorgenden über. Diese las nun der Gemeindeschreiber der Reihe nach aus seinem Armenrodel7 ab. Reslis Schwestern waren unter den ersten, die an die Reihe kamen. Sie wurden in ein Dorf verdingt, zwei Stunden von der Heimat entfernt. Es war der Mutter ein Trost, dass die beiden Mädchen wenigstens nicht auseinander gerissen wurden, und als sie weinen wollte und jammern, dass sie so weit fort kämen von ihr, sagte der Mann, der sie ersteigert hatte: „Häb nit Chummer, es geiht `ne nit übel by mir, mys Bäbi isch nit öppe die leidischt Meisterfrau und mir hei scho z`ässe für sie. Es isch de nit, dass mir sie näh wegem Chostgeld, mir hei vill z`werche u Ching z`gaume, u cheu fettig Meitscheni bruuche.“8

„Andreas Balli!“ tönte es jetzt vom Richterstuhl des Gemeindeschreibers herab, der im Ablesen der zu verdingenden Kinder weiter fuhr. Aller Augen richteten sich auf den Knaben, der sich krampfhaft an der Mutter festhielt und aus Leibeskräften schrie: „Mutter, Mutter, lass mich nicht, ich bin Dein!“

„Wer will den Knaben nehmen?“ fragte der Präsident. „Man muss ihn hie und da in die Schule schicken, nebenbei kann er hüten und werchen9 was man will; wenn er schon jung ist, er hat arbeiten gelernt.“

Ein alter freundlicher Mann trat vor. „Der Bub gefällt mir“, sagte er. „Er dauert mich, dass er die Mutter verlassen muss, aber ich will ihm ein Vater sein. Zu werchen habe ich nicht viel, aber seitdem mir mein Fraueli gestorben ist, macht meine Tochter die Haushaltung, und weil sie taubstumm ist, so muss ich jemand haben, der mir die Kommissionen10 macht und die Sachen zuträgt. Wenn der Bub das besorgt und ein wenig holzen kann Winterszeit, so darf er meinetwegen daneben in die Schule gehen, so viel er will.“

Der Mutter war es, als ob ihr ein Stein vom Herzen fiele, der Alte machte einen guten Eindruck auf sie. Dem Präsidenten ging es ebenso. „Du kannst ihn haben“, sagte er zu ihm, „wenn du nicht zu viel verlangst.“

„Versprecht mir 30 Franken, so will ich ihn ein Jahr lang nähren und kleiden dafür.“

„Verlangt jemand der Anwesenden weniger für das Kind?“ Alles blieb mäuschenstill. Nur der Knabe wimmerte leise und verbarg in der Schürze der Mutter sein Gesicht.

„So nimm ihn!“ sagte der Präsident zu dem alten Mann; „du wirst wohl keinen großen Profit machen; er sieht verhungert genug aus; es braucht schon etwas, bis er zweggefüttert11 ist.“

„Mutter, Mutter!“ schrie der Knabe und brach in lautes Schluchzen aus; „lass mich nicht, ich bin dein!“

„Schweig du nur, Resli“, beschwichtigte die Mutter, „ich geh` mit dir.“ – Die beiden verließen das Zimmer, und der Alte trappete ihnen nach. „Kommt“, sagte er, „wir wollen in die „Sonne“ hinübergehen, ich will eine Halbe zahlen, es leichtet ihm dann vielleicht.“

„Danke“, sagte die Mutter, „wir wollen lieber gleich gehen und sehen, wo mein Bub hinkommen soll. Ich muss eilen, dass ich nach Hause komme, sonst macht mir der Mann noch Vorwürfe, wenn ich schon das ganze Jahr nirgends hinkomme, nicht einmal z`Predigt lässt er mich.“

 

„Wie du willst“, sagte der Alte. „Mein Haus steht dort oben auf dem Hubel12, es ist nicht weit, aber es geht ein wenig langsam mit mir, ich habe kurzen Atem und die Gliedersucht plagt mich heute, es wird wohl bald ander Wetter geben wollen; der Horner13 wird seine Sache noch wollen verrichten. Zum Laufen bin ich nicht mehr viel wert, darum muss ich so einen Buben haben, der hurtiger14 ist als ich.“

Oben angekommen, ließ der Mann einen guten Kaffee bereiten und stellte Käse und Butter dazu auf. Resli fing es an wohl zu werden hinter dem Tisch, es war seit langer Zeit das erste Mal, dass er genug zu essen bekam. Noch etwas anderes fiel ihm auf; hier wurde gebetet vor und nach dem Essen, der alte Mann entblößte sein schneeweißes Haupt, betete vor dem Essen das Unservater und sprach nach Tisch ein herzliches Dankgebet. Das hatte die Mutter früher auch so gehalten, aber seitdem sie beim Stiefvater wohnten, war das Gebet verstummt.

Nach Tisch nahm der Alte den Jungen mit in den Stall und zeigt ihm seine schöne Kuh. Unterdessen machte sich die Mutter aus dem Staub, und Resli hatte über all dem Neuen, das er sah, die Trennung wirklich bald verschmerzt. Der Alte war so gut gegen ihn, er schenkte ihm ein paar Äpfel und einen schönen neuen Batzen15. Am Abend nahm er ein Buch vom Schrank herunter und stellte mit dem Knaben ein Examen an. Resli konnte schon recht ordentlich lesen und erhielt nun die Aufgabe, die Morgen- und Abendgebete, die in dem Buch standen, auswendig zu lernen. „Du hast bei mir nichts zu tun“, sagte der Alte, „als zu lernen und in die Schule zu gehen, hie und da werde ich dich zwischenhinein da- und dorthin schicken.“

Resli hatte Freude an den Büchern und ging gerne in die Schule. An den langen Winterabenden lernte er die Katechismusfragen, der Pflegevater war ihm dabei behülflich, und bis zum Examen war er im Fragebuch hinten aus.

1 Das „Verdingen“ war eine Sitte im vergangenen Jahrhundert, bei der Kinder, die nicht von der Familie verhalten werden konnten, gegen ein Kostgeld an eine andere Familie weggegeben wurden und dort arbeiten mußten. Die Verdinggemeinde war eine Versammlung, in der die Kinder „versteigert“ wurden.

2 ohne Aufsehen

3 Trinkgefäß, kleiner Umtrunk

4 Heimat, Bauernhof

5 eine juristische Einrichtung, bei der jemand das Nutzungsrecht an einem Stück Land in

seiner Burgergemeinde hatte

6 vernachlässigte

7 Akte, Aktenbündel, Flurliste

8 „Mach dir keine Sorgen, es geht ihnen nicht schlecht bei mir, meine Babette ist nicht die übelste Meisterfrau und wir haben schon zu essen für sie. Es ist nicht, dass wir sie wegen dem Kostgeld nehmen, wir haben viel Arbeit und Kinder zu hüten und könnten solche Mädchen für das brauchen.“

9 arbeiten, werken, schaffen

10 Aufträge

11 aufgepäppelt, herausgefüttert

12 Hügel, kleiner Berg

13 Februar

14 flinker

15 eine Münze (1/10 Franken)