Liebesgeschichten des Orients

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Liebesgeschichten des Orients
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Liebesgeschichten des Orients

Erotische Bibliothek

Band 6

Franz Blei

Liebesgeschichten des Orients

Erstmals erschienen 1923

© Lunata Berlin 2019

Inhalt

Vorwort

Die Truhe

Die Kurtisane und der Kaufmann

Die Dame mit dem weißen Fächer

Der Yogi Vasava

Der durchlöcherte Schleier

Die unbesiegbare Prinzessin

Der arme Mann

Ardjunas Himmelfahrt

Der schlechte Khablis

Das heilige Buch der Liebe

Die vornehme Dame und die vier Liebhaber

Die beiden Brüder

Die Frauen

Der falsche Eid

Drei kleine Geschichten

Die Frau des Krämers

Der dumme Khodja Binai

Indischer Karneval

Ben Beschir und Tschunder

Die Hetären

Der Blumenunterricht in der Yoschiwara

Die verräterische Trompete

Der Kaufmann und seine Frau

Esthers Wahl

Die unerbittliche Kurtisane

Der Sänger

Über den Autor

Die erotische Bibliothek

Vorwort

Die Literaturen des Orients haben drei verschiedene Quellgebiete, aus denen sie ihre Inspiration holen oder holten, besser gesagt, denn die Quellen sind seit langem verschüttet. Erschöpft ist die althebräische Quelle, nachdem sie die Literaturen Vorderasiens gespeist hat bis an die Südostspitze Arabiens und bis an das afghanische Bergland. Erschöpft ist die Quelle des Sanskrit. Und der dritte originäre Kreis, China, dem der ganze asiatische Osten seine literarische Eingebung dankt, ist steril geworden. Frühesten Einfluss auf europäische Inspiration gewann das örtlich nächste: die althebräische Literatur in ihren erzählenden weltlichen Gebilden, z. B. der wollüstigen Erzählung Ruth oder dem Hirtenlied von der Sulamith. Die erzählende griechische Prosadichtung wird diese hebräischen Gebilde gekannt haben. Zeitlich später begann das örtlich fernere Indien auf Europäisches zu wirken: ein großer Teil dessen, was wir seit den Gesta Romanorum an Märchen und Erzählungen, zumal erotischen Charakters, in den frühen europäischen Literaturen besitzen, z. B. der altitalienischen, der altfranzösischen Novellistik, stammt aus indischem Urgut. Ohne jede Wirkung auf Europa blieb allein China. Wenigstens ohne direkte Wirkung, denn über Indien und in indischem Gewande dürfte manches zu uns gekommen sein.

Zwei elementare Motive, in ihrer Menschlichkeit allgültig, bringen fremdes nahe und machen es zu eignem: die Deutung der Welt ist das eine, die Liebe ist das andere Motiv, Erkenntnis der Welt, Erkenntnis des Weibes. Das eine tendiert zu Systemen, in denen alle Mannigfaltigkeit auf das Eine gebracht wird, das andere bricht das Eine in alle Mannigfaltigkeiten seiner unerschöpflichen Erscheinungsformen. Dort die eine Geschichte der Götter, hier die abertausend Geschichten der Menschen. Dort wird das in der Lehre Empfangene und Weitergegebene Glaube und Kult, in der Liebe wird altes immer aufs Neue als neu erfahren mit Lust und Schmerz, und wird immer aufs Neue davon berichtet. Erst in der indischen Dekadence treten gewisse Regelbücher und Traktate der Liebe mit so etwas wie kultischem Anspruch auf, wie in Europa auch erst das Christentum den Versuch machte, die Liebe zu kanalisieren, da es sie, wie Paulus und nach ihm Marcion gern gewollt hätten, nicht abschaffen konnte. Wie dieses längst ungläubig gewordene Europa immer noch daran festhält, die Liebe, diese individuellste Freiheit, zu reglementieren, wo doch die Ansprüche der modernen Gesellschaft nur zwei Fälle kennen, in denen das Gesetz sein Recht hat: im Falle der Notzucht, die Beraubung ist, und im Falle des Ehebruches, der eine Vertragsverletzung ist – diese außerordentliche Vorliebe der Moralisten und Gesetzgeber für den sechsten Sinn, diese sinnlos gewordene Erbschaft einer Moral, welcher die Religion, ihre Quelle fehlt, ist eines der vielen Zeichen der Schwächung dieses sechsten Sinnes. Ein gläubiger Christ kann und muss daran festhalten, dass die Unkeuschheit eine Sünde und von Gott verboten ist. Behauptet dies aber ein Ungläubiger, so redet er Unsinn. Und versucht er es »wissenschaftlich« zu begründen, indem er ausführt, dass die Unkeuschheit dem sie begehenden Menschen schade und Staat und Gesellschaft dazu da seien, ihn vor solchem Schaden zu bewahren, ja ihn auch noch dafür zu strafen, dass er sich schade, so verirrt sich solcher Beweis völlig ins Absurde, denn das Leben schadet dem Leben immer: man lebt unter Verminderung seines Erhaltungswertes von dem Moment ab, da man geboren wurde.

Aus den mannigfaltigen Stücken, welche der Übersetzer aus den orientalischen Literaturen unter dem künstlerisch gerechtfertigten Gesichtspunkte des Liebesmotives ausgewählt hat, wird dem Leser zunächst dieses auffallen müssen: die Naivität, mit welcher die orientalischen Völker ohne Ausnahme geschlechtliche Dinge ansehen, nicht anders, als es die alten europäischen Völker taten, wovon sich Reste bis in die Renaissance noch erhielten, wo ein Papst den Aretino wegen seines Talentes zum Kardinal machen wollte – trotz oder eben wegen des Talentes der Sonnetti lussoriosi. Dem Orient ist der Begriff wie das Wort des Schlüpfrigen ganz fremd. Der Orientale lacht wohl über den in der Liebe Geprellten, den Hahnrei, aber alles, was mit der Leidenschaft zu tun hat, nimmt er durchaus leidenschaftlich und in einer untrennbaren Einheit des Seelischen und Leiblichen; er setzt das eine dem andern nicht vor, unterwertet das eine nicht auf Kosten des andern, blickt nie weg, um heimlich zu grinsen. Das sexuelle Grinsen ist wie die schmutzige Literatur eine europäische Verfallserscheinung, die Rabelais noch nicht kannte und die zuerst im England des frühen 17. Jahrhunderts auftauchte und gerade hier, wo eine moralische Orthodoxie sondergleichen eine bis auf das Harmloseste gereinigte und so gefälschte Literatur erzeugt, dass sich in einem richtigen englischen Familienroman auch heute noch ein Brautpaar nie einen Kuss gibt. Diese Störung des Gleichgewichtes im Sinnlichen musste die heimliche Pornographie hervorrufen, die im 19. Jahrhundert ihre höchste Blüte erreichte; und sie musste eine Unsicherheit in Urteil, Anschauung, Behandlung zur Folge haben, die Flaubert wegen der Madame Bovary, Baudelaire wegen der Fleurs du Mal den Prozess wegen Unsittlichkeit machte. Baudelaire erzählt in seinem Tagebuch von einem Besuch, den er mit einer gemeinen Straßendirne dem Louvre abstattet, den das Mädchen zum ersten Mal sieht, und er berichtet den Ausspruch der Prostituierten vor den alten Meistern, dass ›diese Schweinereien ein Skandal seien und sie sich nur wundere, dass man derlei dulde‹! Aber es urteilt der sogenannte Gebildete nicht anders, der die bronzene Plastik eines weiblichen Leibes »künstlerisch« bewundert, um doch das nackt tanzende Modell dieser Plastik dem Staatsanwalt wegen Unsittlichkeit anzuzeigen.

Ich weiß nicht mehr, in welchem Lande es war, noch wie der Richter hieß, der mit einer praktischen Definition der Scham diesen Fall entschied: eine junge schöne Dame vergnügte sich in ihrem Landhaus damit, vor einigen Freunden nackt zu tanzen. Die nicht ganz schließende Jalousie eines Fensters gestattet es Passanten, indiskret zu sein, und einige dieser Neugierigen rächten sich an ihrem Vergnügen durch eine Anzeige bei Gericht. Der Richter ließ diese Neugierigen und die Dame sich entkleiden, wies auf die also Nackten hin und sagte zum Volke: »Hier, seht euch jene an, die sich beklagen, eines Abends durch ein schlecht schließendes Fenster die Haut dieses Mädchens hier gesehen zu haben.« Man kennt aus solchen Prozessen immer nur die Amtsperson, welche jene Personen vertritt, welche den sittlichen Anstoß genommen haben, – diese Personen selber bleiben im Dunkel. Aber man weiß längst, dass ihre merkwürdigen Instinkte das Licht sehr zu scheuen haben; man weiß, dass ihre sittliche Entrüstung immer nur der nachfolgende Ärger über ein ohnmächtiges geschlechtliches Vergnügen ist; durch die Anzeige rächen sie sich an dem unfreiwilligen und von ihnen missbrauchten Objekt ihrer schmutzigen Geschlechtlichkeit. Die Sittlichkeitsschnüffelei ist der Geschlechtsgenuss des Impotenten.

 

Die Stücke dieser Sammlung orientalischer Liebesgeschichten gehören fast ohne Ausnahme einer frühen Zeit des Schrifttums an und einer noch weiter zurückliegenden Zeit ihrer mündlichen Verbreitung. Denn es ist kein Zweifel, dass das meiste schon lange erzählt wurde, bis es einen fand, der niederschrieb, was man erzählte. Der Übersetzer hat gut daran getan, zwei neuere Stücke, ein indisches und ein japanisches, des Kontrastes halber aufzunehmen: beide diese Stücke zeigen die gleiche Wertlosigkeit, gemessen an dem alten Erzählergut; man spürt in beiden den schlechten europäisch-modernen Einfluss. Die sparsame Auswahl aus dem Schatzhause von Tausendundeiner Nacht dürfte der Umstand motivieren, dass dieses große Erzählwerk, das größte des Orients, in vielen Ausgaben bekannt ist.

Die Truhe
Aus dem Arabischen

Ueddah, vom Lande Jemen, war berühmt unter den Arabern für seine Schönheit. Er und Om-el-Bonain, Tochter von Abd-el-Asis, dem Sohne Meruans, liebten sich, als sie noch Kinder waren, schon so sehr, dass eins vom andern nicht einen Augenblick getrennt sein mochte.

Als Om-el-Bonain die Frau des Ualid-Ben-Abd-el-Malek wurde, verlor Ueddah den Verstand. Nachdem er lange Zeit in einem Zustand von Wirrnis und Weh hingebracht hatte, begab er sich nach Syrien und fing an, täglich um die Wohnstätte Ualids, des Sohnes Maleks, umher zu streifen, ohne zuerst eine Möglichkeit zu finden, sein Begehren zu erreichen. Zuletzt begegnete er einem jungen Mädchen, das er durch beharrliche Fürsorge an sich zu fesseln verstand. Als er meinte, ihr vertrauen zu können, fragte er sie, ob sie Om-el-Bonain kennte.

»Freilich, sie ist ja meine Herrin«, antwortete das junge Mädchen.

»Nun denn«, fuhr Ueddah fort, »deine Herrin ist meine Base, und willst du ihr Nachricht von mir bringen, so wirst du ihr gewiß Vergnügen bereiten.«

»Ich will sie ihr gern bringen«, erwiderte das junge Mädchen. Und darauf lief sie alsbald zu Om-el-Bonain, um ihr Nachricht von Ueddah zu geben.

»Gib acht, was du sagst!«, rief diese, »wie? Ueddah lebt?« – »Gewiß«, erwiderte das Mädchen. »Geh und sag ihm«, fuhr alsbald Om-el-Bonain fort, »er soll nicht weggehen, bis ihm von mir eine Botschaft gekommen ist.« Dann traf sie ihre Maßnahmen, um Ueddah bei sich einzulassen, und daselbst hielt sie ihn versteckt in einer Truhe. Sie ließ ihn heraus, um mit ihm zusammen zu sein, wenn sie sich in Sicherheit glaubte; und wenn jemand kam, der ihn hätte sehen können, so ließ sie ihn wieder in die Truhe gehen.

Eines Tages geschah es, dass man Ualid eine Perle brachte, und er sagte zu einem seiner Diener: »Nimm diese Perle und bringe sie Om-el-Bonain.«

Der Diener nahm die Perle und brachte sie Om-el-Bonain. Er ließ sich aber nicht anmelden und trat ein in einem Augenblick, als sie mit Ueddah zusammen war, also dass er einen Blick in das Gemach Om-el-Bonains werfen konnte, ohne dass sie danach acht hatten. Der Diener Ualids entledigte sich seines Auftrags und bat Om-el-Bonain, ihm etwas zu geben für das Kleinod, das er ihr gebracht hatte. Sie verweigerte ihm das streng und gab ihm einen Verweis. Voll Zorn auf sie, ging der Diener fort, begab sich zu Ualid, sagte ihm, was er gesehen, und beschrieb ihm die Truhe, in die er Ueddah steigen gesehen hatte.

»Du lügst, Sklave ohne Mutter! du lügst!«, sagte Ualid. Und ungestüm lief er zu Om-el-Bonain.

Es waren im Gemache mehrere Truhen; er setzte sich auf die, in welcher Ueddah verborgen war und die ihm der Sklave beschrieben hatte, und sagte zu Om-el-Bonain: »Gib mir eine von diesen Truhen.« – »Sie gehören dir alle ebenso wie ich selbst«, antwortete Om-el-Bonain. – »Nun denn«, fuhr Ualid fort, »ich wünsche die zu haben, auf der ich sitze.« – »In dieser sind Sachen, die eine Frau notwendig braucht«, sagte Om-el-Bonain. »Ich will ja nicht diese Sachen, die Truhe möchte ich haben«, fuhr Ualid fort. »Sie ist dein«, antwortete sie.

Alsbald ließ Ualid die Truhe forttragen und ließ zwei Sklaven rufen, denen befahl er, eine Grube in die Erde zu graben so tief, bis Wasser käme. Dann näherte er seinen Mund der Truhe und rief: »Man hat mir etwas gesagt von dir. Hat man mir Wahres gesagt, so sei jede deiner Spuren von dir getrennt, so sei jede Kunde von dir begraben. Hat man mir Falsches gesagt, so tue ich nichts Schlechtes, wenn ich eine Truhe vergrabe; dann wird nur Holz begraben.« Er ließ dann die Truhe in die Grube stoßen und Steine und Erde, die man aufgeworfen hatte, darauf schütten.

Seitdem besuchte Om-el-Bonain unablässig jene Stätte und weinte daselbst, bis man sie eines Tages fand ohne Leben, das Gesicht auf der Erde.

Die Kurtisane und der Kaufmann
Aus dem Sanskrit

In der Stadt Mattura in Bengalen lebte eine Kurtisane von großer Schönheit namens Vasavadatta, die sich heftig in den jungen Upapusta, den Sohn eines reichen Kaufmanns, verliebte, als zum ersten Mal ihre Augen auf ihn fielen. Sie schickte ihre Magd zu ihm, ihm sagen zu lassen, dass sie ihn mit Freuden in ihrem Hause empfinge. Aber Upapusta kam nicht. Er war keusch und voll Frömmigkeit; er besaß das Wissen; er beobachtete das Gesetz und lebte nach den Lehren Buddhas. Deshalb verachtete er die Liebe dieser Frau.

Da geschah es bald darauf, dass Vasavadatta wegen eines Verbrechens zum Verlust der Hände, Füße, Ohren und der Nase verurteilt wurde. Man führte sie auf einen Kirchhof und das Urteil wurde vollstreckt. Man ließ Vasavadatta an dem Orte, wo sie ihre Strafe erlitten hatte. Sie lebte noch.

Ihre treue Dienerin war bei ihr und jagte mit einem Fächer die Fliegen weg, damit die Arme ungepeinigt von ihnen sterbe. Während sie dies fromme Werk tat, sah sie einen Mann herbei kommen, nicht wie ein Neugieriger, sondern wie einer in tiefer Demut. Ein Kind hielt über ihn einen Sonnenschirm. Als die Dienerin den jungen Upapusta erkannte, raffte sie in Eile die abgehauenen Gliedmaßen ihrer Herrin zusammen und verbarg sie unter ihrem Mantel. Ganz nah gekommen stand nun der Jüngling vor Vasavadatta und blickte schweigend auf jene, deren Schönheit einst wie eine Perle in der Stadt geglänzt hatte. Da erkannte die Kurtisane den einst Geliebten und sprach mit verhauchender Stimme:

»Upapusta, da mein mit Gold und Seide geschmückter Leib süß war wie der Johu, da habe ich Unglückliche dich vergeblich erwartet. Als ich Verlangen einflößte, bist du nicht gekommen. Upapusta, Upapusta, warum kommst du jetzt, wo mein blutender, verstümmelter Leib nichts weiter ist als Gegenstand des Ekels und des Grauens.«

Da antwortete Upapusta mit weicher Stimme: »Meine Schwester Vasavadatta, in den schnellen Tagen, wo du schön schienest, da wurden meine Sinne vom leeren Scheine nicht verlockt. Ich sah dich bereits mit dem Auge der Schauung so wie du jetzt erscheinst. Ich küsste deinen Leib nicht als ein Gefäß der Laster. Du hast nichts verloren in Wahrheit, Schwester. Weine nicht über die Schatten der Freude und der Lust, welche dich fliehen, laß den schlimmen Traum des Lebens vergehen. Alle Freuden der Erde sind wie spiegelnder Mond im Wasser. Dein Leiden kommt davon, dass du zu viel begehrt hast. Begehre nicht mehr, sei süß zu dir selber und wünsche das Leben nicht mehr – du siehst, wie schlecht es ist. Ich liebe dich. Glaube mir, Schwester Vasavadatta. Gehe ein in die Ruhe.«

Die Kurtisane hörte die Worte, und da sie ihre Wahrhaftigkeit erkannte, starb sie ohne Verlangen und ging heilig aus dieser Welt.

Die Dame mit dem weißen Fächer
Aus dem Chinesischen

Tschuang-Tsen aus dem Lande Sung war ein Gelehrter, der die Weisheit so weit trieb, dass er allen vergänglichen Dingen entsagte; und da er als ein frommer Chinese nicht an die ewigen Dinge glaubte, so blieb ihm zur Zufriedenheit seiner Seele nichts sonst als das Bewusstsein, den gemeinen Irrungen der Menschen nachzugehen, die da tätig sind, um Reichtümer zu gewinnen oder leere Ehren. Aber es muss diese Befriedigung eine sehr tiefe gewesen sein, denn Tschuang-Tsen wurde nach seinem Ableben selig gepriesen und des Neides würdig befunden. Nun hatte er, während der irdischen Tage, wo ihm die unbekannten Genien der Welt unter einem grünen Himmel zu spazieren erlaubten zwischen blühendem Bambus und Weiden, da hatte, sage ich, Tschuang-Tsen die Gewohnheit angenommen, träumerisch durch das Land zu wandeln, in dem er lebte ohne zu wissen, warum und wozu. Als er eines Morgens so dahin schritt an den blumigen Hängen des Gebirges Namhoa, fand er sich auf einmal mitten auf einem Friedhof, wo die Toten nach Landesbrauch unter einem kleinen Hügel aus Backsteinen ruhen. Beim Anblick der endlosen Gräberreihen dachte der Gelehrte über die Bestimmung des Menschen.

»Dahin also führen, in diese Sackgasse, alle Wege des Lebens. Und man kommt nicht wieder an den Tag, hat man einmal hier Platz genommen.«

Nun, dies ist kein ungewöhnlicher Gedanke, aber er enthielt doch alles, was Tschuang-Tsen mit seiner Philosophie denken konnte. Und da er zu gebildet war, forderte er von dem roten Drachen aus Porzellan, der über dem Tore zum Friedhof lag, keinen Trost. Während er nun so denkend durch die Gräberreihen wandelte, begegnete er plötzlich einer jungen in Trauer gekleideten Dame, denn sie trug ein langes weißes Kleid aus grobem Stoff. Sie saß an einem Grabe und bewegte ihren Fächer über der noch frischen Erde des Hügels.

Neugierig, was solches bedeuten möge, grüßte Tschuang-Tsen die junge Dame höflich und sagte:

»Erlaubt, junge Frau, die Frage, wer unter diesem Hügel ruht und weshalb Ihr Euch so viel Mühe gebt, die Erde des Grabes zu fächeln? Ich bin ein Philosoph und suche die Gründe, und der Grund für Euer Tun entgeht mir.«

Die junge Frau hörte zu fächeln nicht auf. Sie errötete, senkte das Haupt und flüsterte einiges, was der Weise nicht verstand. Er wiederholte noch ein paarmal seine Frage, aber es war vergeblich. Die Dame beachtete ihn nicht weiter, und es schien ihre Seele ganz in der Hand zu sein, welche den Fächer bewegte.

Tschuang-Tsen entfernte sich mit Bedauern. Wenn er auch vom Wahne alles Tuns überzeugt war, so neigte er doch dazu, die Gründe dieses Tuns zu suchen, insbesondere die der Frauen.

Und die kleine Frau am Grabe erregte seine lebhafteste Neugier. Er ging weiter, nicht ohne sich wiederholt umzusehen und immer den lebhaft bewegten Fächer zu gewahren, der wie ein Schmetterling tat. Da machte ihm eine alte Frau, die er zuvor nicht gesehen hatte, ein Zeichen, ihr zu folgen. Er trat zu ihr in den Schatten eines Grabhügels, und sie sagte zu ihm:

»Ich hörte, wie Ihr meiner Herrin eine Frage stelltet, die sie nicht beantwortete. Ich will Euch Antwort geben aus Höflichkeit und für ein weniges, damit ich mir vom Priester Gebetstreifen zum Verbrennen kaufen kann, auf dass ich lange lebe.«

Tschuang-Tsen zog seine Börse und gab der Alten ein Geldstück.

»Die Dame dort am Grabe ist Frau Lu, die Witwe eines Gelehrten namens To, der vor einer Woche an einer langen Krankheit gestorben ist. Sie kniet an ihres Gatten Grab. Sie liebten einander sehr zärtlich. Selbst auf dem Sterbebett konnte sich Herr To nicht entschließen, sein Weib zu verlassen, denn es war ihm unerträglich, dass sein Weib in der Blüte ihrer Jahre auf der Welt bleiben sollte. Aber da er sanften Wesens war, so fand er sich endlich damit ab und unterwarf seine Seele der Notwendigkeit. An seinem Lager saß während seiner langen Krankheit Frau Lu und versicherte ihm unter Tränen, dass sie ihn nicht überleben und seinen Sarg teilen werde, wie sie sein Bett geteilt habe. Aber da sagte Herr To:

›Verschwöre das nicht, liebe Frau.‹

›Nun denn, wenn ich dich schon überleben muss,‹ sagte die Frau, ›wenn ich von den Geistern schon verurteilt bin, das Licht des Tages zu sehen, da ich dich nicht sehe, so wisse, dass ich nie die Frau eines anderen werden werde, und dass ich nur einen Gatten hatte, wie ich nur eine Seele habe.‹

Aber Herr To sagte:

›Schwöre das nicht, liebe Frau.‹

›Dann, lieber Mann, laß es mich für fünf Jahre beschwören!‹

›Schwöre das nicht, Frau Lu. Und schwöre nur dieses, dass du meinem Andenken so lange treu sein wirst, als die Erde auf meinem Grabe noch nicht trocken.‹

 

Frau Lu tat einen großen Schwur, und der gute Herr To schloß für immer die Augen. Die Verzweiflung von Madame kannte keine Grenzen. Tränen verzehrten ihr die Augen. Mit den Nägeln zerriß sie sich die zarten Wangen. Aber alles hat ein Ende. Drei Tage nach Herrn Tos Tode wurde der Schmerz von Frau Lu menschlicher. Ein junger Schüler des Herrn To drückte das Verlangen aus, die trauernde Witwe in ihrem Leid zu trösten. Und sie schloß mit Recht, dass sie diesen Besuch nicht abschlagen könne. Sie empfing ihn seufzend. Der junge Mann war sehr vornehm und hübsch; er sagte ihr, dass sie reizend sei und wie er fühle, dass er sie liebe. Sie ließ es ihn sagen. Er versprach wiederzukommen. Und in Erwartung seines Besuches sitzt Frau Lu am Grabhügel ihres Mannes, wie Sie sie gesehen haben, und bringt den ganzen Tag damit zu, die Erde des Grabes mit ihrem Fächer zu trocknen.«

Als die Alte ihren Bericht geendet hatte, dachte Tschuang-Tsen:

»Die Jugend währt kurze Zeit. Der junge Adler der Begierde leiht den jungen Frauen und Männern seine Flügel. Schließlich ist Frau Lu eine anständige Frau, die ihren Mann nicht betrügen will.«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?