Buch lesen: «Currys für Connaisseure»
Winter
Currys für Connaisseure
Frank Winter
Currys für Connaisseure
Schottland-Krimi mit Rezepten
Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
Frank Winter kennt Schottland und insbesondere den Schauplatz seiner Krimis, Edinburgh, wie seine Westentasche, Immer wieder zieht es ihn in die urwüchsige schottische Landschaft, seine historischen Städte und zu den geheimnisvollen Seen.
Gleich seinem Helden Angus MacDonald setzt er sich für die Küche des Landes ein. Sein Buch »Schottisch kochen« (erschienen im Verlag Die Werkstatt, 2014) wurde von der Gastronomischen Akademie Deutschlands mit einer Silbermedaille ausgezeichnet.
© 2016 Oktober Verlag, Roland Tauber
Am Hawerkamp 31, 48155 Münster
2. Auflage
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Umschlag: Thorsten Hartmann unter Verwendung eines Fotos von Lilechka75 / Getty Images
Rezepte: Frank Winter
ISBN eBook: 978-3-946938-38-5
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
Inhalt
Die Personen
Ein seltsames Paar
Signor Vitiello und der Engpass
Breakfast de Luxe
Hausgemachte Probleme
Kulinarisches Rendezvous
Dabbawallahs in Edinburgh
Spukt es noch?
Indisches Flair in der Villa Buongiorno
Eine Kuh zuviel!
Unerwarteter Hausbesuch
Scottish Country Dance
Hunderttausend Frühstückseier
Angus MacDonald will einfach nur seine Ruhe!
Wie alles endet
Rezepte
Currys etc
Beilagen
Getränke
Glossar schottischer, britischer wie auch indischer Begriffe
»Popping out for a Curry!« - Indisches Essen in Großbritannien
Die Personen
Angus Thinnson MacDonald
Gleich zwei Damen wohnen beim Junggesellen und könnten unterschiedlicher nicht sein. Ein geordnetes Leben gerät aus der Form …
Alberto Vitiello
sucht verzweifelt einen Klempner. Um sich etwas zu zerstreuen, hilft er Freund Angus beim Ermitteln. Bis ein Gespenst in seinem Guest House auftaucht …
Miss Armour, geborene Reid
Die eisenharte Diplom-Ökotrophologin beißt sich an ihrem Zögling Angus Thinnson MacDonald fast die Zähne aus.
Thomasina Armour
Miss Armours Tochter entwickelt eine interessante kulinarische Geschäftsidee und bezirzt MacDonald, ihr zu helfen.
Aadi Panicker
Der erfolgreiche, indische Geschäftsmann nimmt zögerlich MacDonalds Hilfe in Anspruch und macht seltsame Kapriolen.
Mrs Panicker
Sie steht unverdient im Schatten ihres Ehemannes, scheint es aber mit Fassung zu tragen.
Devasree Panicker
Die bildhübsche, junge Frau hat einen starken Willen und konnte sich bislang noch immer durchsetzen.
Doktor Kaphi, Psychoanalytiker und Ayurveda-Berater
Er ist allen Panickers irgendwie bekannt. Doch auf wessen Seite steht er?
Finlay Edgar
Handelt es sich um Thomasinas Freund oder Devasree Panickers Verlobten? Mit dieser Frage verbringt Angus MacDonald unruhige Stunden.
Dougal Dinwiddie
Mister Dinwiddie, ein neuer, alter Gast im Hause Vitiello, hat lange in Indien gelebt.
Malcolm MacDonald
Angus’ Vater findet neben dem Whiskytrinken im Sammeln von schottischen Redensarten eine weitere Beschäftigung und natürlich greift er den beiden Detektiven wieder gerne unter die Arme!
Dr. Karen Miller
MacDonalds Leibärztin hält sich auch während seines neuen Falls fern und nimmt so fast gespensterhafte Züge an.
Sir Robert
MacDonalds furchsroter Kater hat sich zwischen den beiden Armour-Damen entschieden: Die Mutter hasst er und die Tochter ist sein Liebling.
… sowie weitere Personen in Edinburgh.
»Beefsteaks an porter is guid belly mortar.«
Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.
Ein seltsames Paar
Aadi Panicker saß auf seiner liebsten Bank in South Queensferrys Hafen, heftig atmend. Er war ein großer Mann mit prominenter Nase und dünnen Lippen. Kohlrabenschwarze Haare ließen den Schluss zu, dass er aus Indien stammte, auch sein dunkler Teint, dem schottischen Wetter trotzend. Von diesen Merkmalen abgesehen, wirkte er sehr britisch: Zweireiher, weißes Hemd und distinguiertes Benehmen. Die Papageien-Krawatte wiederum schien all das zu belächeln. Mister Panicker liebte den ehemaligen Fischereihafen, der nur noch von Hobbyseglern genutzt wurde. Robert Stevenson, Großvater des berühmten Schriftstellers, hatte den Anlegeplatz mit John Rennie zwischen 1809 und 1818 neu konstruiert. Die Stevensons waren angesehene Ingenieure und bauten die meisten Leuchttürme Schottlands. Nur Robert Louis schlug mit seinen Büchern aus der Art. Doch würdigte er die Verwandten mit dem Ausspruch: »Wann immer ich Salzwasser rieche, bin ich dem Werk meiner Vorfahren nahe.« Wo aber waren seine Ahnen, wenn er Rat benötigte? Nicht in der Nähe! Auch mit dem Stolz South Queensferrys war es eines Tages zu Ende gegangen. Er konnte sich noch gut an die Empörung der Bürger im Jahr seiner Ankunft, 1975, erinnern. Über Jahrhunderte hinweg war das Städtchen autonom gewesen, betrachtete sich höchstens als Teil West Lothians. Bis diese arroganten Edinburgher kamen und uns eingemeindeten! Wo wären sie denn ohne die beiden Brücken, den famosen Eisenbahnübergang, hier von fast jedem Punkt zu sehen, und die Autobrücke im Hintergrund, ein weiteres Beispiel schottischer Ingenieurskunst? Bald würden sie Gesellschaft bekommen. Eine zweite Brücke für Pkws und Lastwagen baute man bereits: Am Anblick der gewaltigen Stützpfeiler, die ins Meer gestemmt wurden, konnte er sich nicht sattsehen. Regen, Sturm und klirrende Kälte machten alles noch beeindruckender. Brooklyn Bridge, Golden Gate Bridge und wie sie alle hießen, konnten mit dieser Skyline nicht mithalten. Solange man nichts Essbares bei sich hatte, ließen die Möwen einen sogar unbehelligt! Die Angelegenheit war ein gewaltiges Musibat! Ja, ja, ein Musibat! Was mochte die Ursache sein? Hatte er sich in einem vergangenen Leben eines Verbrechens schuldig gemacht? Oder kämpfte er gegen irdische Plagen, kam bald sein Ende? Andächtig zog er ein Gläschen aus dem Jackett und liebkoste es.
»Wir sind immer noch auf dem Weg zum ernährungswissenschaftlichen Fachbereich der Universität!«, verkündete Miss Armour, ihren Stechschritt nicht ein Jota verlangsamend.
Für Angus Thinnson MacDonald war es eine allzu bittere Tatsache, dass ihm die Diplom-Ökotrophologin wie ein Mühlstein am Hals hing. »Ich erkundigte mich nur, weil wir bereits zum zweiten Mal an der Quarter Mile entlangschritten. So schön sie auch ist …«
»Drei Worte: Bewegung, Bewegung und Bewegung.«
»Das ist immer das gleiche Wort, werte Miss Armour und …«
»Genug geplappert! Jetzt verbrennen wir Kalorien.«
Welcher Erwachsene ließ sich gerne den Mund verbieten?, dachte MacDonald. Er jedenfalls nicht! Grotesk war es, dass sie solche Wüstheiten ausstieß und den Mund kaum öffnete. Die Beine bewegten sich, doch die Arme klebten am Oberkörper, welcher in einem blauen Polyacrylpullover steckte. Schuld an allem war Karen Miller, seine … sehr gute Bekannte und Hausärztin, in Großbritannien als GP, General Practioner, bekannt. Immer wieder riet sie zum Abnehmen. Bar sichtbaren Erfolges, war ihm die Armour erneut einquartiert worden, und zu seiner Buße gehörte der heutige Termin. Sie hatte das Büro wohl aus Nervosität zwei Mal passiert, wollte sich im Gehen beruhigen. Selbstverständlich würde Miss Armour das niemals zugeben, denn jemand, der sich gesund ernährte, glich einem Wunder und konnte nur von Fledermaus-Batman übertroffen werden. Er öffnete den untersten Knopf seines Harris-Tweed-Jacketts, weil der Oktober sich in den letzten Tagen frühlingshaft gerierte.
»Obacht!«, blaffte sie ihn an. »Was genau besprachen Sie mit den Waddells?«
»Die … äh … Waddells?«, erkundigte er sich unschuldig.
»Leiter der ernährungswissenschaftlichen Forschungsgruppe!«
»Sind es Brüder?«
»Nein! Mann und Frau! Sie führten doch eine Unterredung?!«
»In der Tat. Nur an den Namen der Herrschaften konnte ich mich nicht mehr erinnern. Man erwartet uns um zehn Uhr.«
»Schweigen!« Miss Armour hob den rechten Polyacrylärmel in die Luft, derweil der linke nach dem mobilen Telefon fischte. Doch so flink war sie nicht. Das Läuten brach ab. »Thomasinas Nummer! Ich rufe kurz zurück.«
MacDonald nickte verständig. »Unbedingt! Wir sollten wissen, was los ist.«
Thomasina war mit ihrer Mutter eingezogen. Obwohl er nicht um Erlaubnis gebeten wurde, hatte er gegen eine derart liebreizende, junge Dame natürlich nichts einzuwenden. Am Abend zuvor wollte sie ihn um detektivischen Rat angehen, brachte die Sprache schüchtern auf sein neues Buchprojekt »Currys für Connaisseure«. Wie ihre Sache mit der Kulinarik verquickt war, schien noch nicht klar, denn nur solche Fälle übernahm er und als er nachfragte, wehrte sie ab. Miss Armour wählte die eingespeicherte Nummer und schüttelte den Kopf. »Nimmt nicht ab! Es wird alles in Ordnung sein!« Träten Worte als Kanonenschläge auf, wäre er an diesem Vormittag mehrfach zermalmt worden. »Kommen Sie oder halten wir Maulaffen feil?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Immer mit der Ruhe.«
»Achtung!« Erneut läutete ihr Telefon. Einmal, zweimal, Schluss. »Shite!«
»Miss Armour! Ich kann vieles ertragen. Doch Kraftausdrücke sparen Sie sich besser für Kreaturen, die sie zu schätzen wissen!«
»Irgendetwas stimmt nicht. Doch wir gehen weiter.«
»Ihre Frau Tochter …?«, erwiderte MacDonald weitaus milder.
»Später, später. Kommen Sie jetzt. Die Waddells hassen Unpünktlichkeit.«
»Wer tut das nicht? Aber machen Sie sich keine Sorgen. Es wird schon klappen.«
»Pah, Sie haben gut reden mit Ihren Artikeln, Bestsellern und Fernsehsendungen!«
»Arbeit schändet nicht, Gnädigste«, antwortete er indigniert.
Es kam selten vor, doch Miss Armour gab keine Widerrede. Zu ihrem Glück! Sonst hätte er sie alleine zu dem Gespräch wandern lassen. Sorgen musste sie sich keine machen, denn er, Angus MacDonald, hatte alles arrangiert. Auf die Nase binden würde er es ihr nicht, denn womöglich lehnte sie ab und Thomasina zog aus. Also gingen sie gemeinsam weiter und als er kaum noch damit rechnete, standen sie vor dem Gebäude. Ein Herr in mittleren Jahren, sehr wahrscheinlich der Hausmeister, hielt ihnen die Tür auf und nickte ihm ironisch zu. Unerhört! Wie konnte er annehmen, dass die Armour seine Bekanntschaft war!
»Vierter Stock!«, sagte sie bellend und eilte zu den Treppen.
»Wir nehmen besser den Aufzug.«
»Bewegung ist …«
»Danke für die Durchsage. Sie erinnern sich, dass ich kein Waldläufer bin, ja?«
»Stimmt allerdings. Los, einsteigen.« Armour drückte den Knopf mit der Nummer vier. Der Aufzug startete raketenhaft, die Anzeige erlosch und sie blieben stecken. »Hülfe! Zu Hülfe!«, schrie die Ernährungsberaterin jämmerlich und trommelte die Fäuste gegen die Tür.
»Sicherlich streikt die Kabine auch bei anderen Nutzern hin und wieder. Sie müssen es nicht persönlich nehmen.«
»Mensch, wir haben einen Termin!«
»Ich weiß«, erwiderte er stirnrunzelnd, »und deswegen sollen Sie sich zügeln. Ein erhitztes Gemüt ist jeder Präsentation abträglich.« Er suchte in seiner Aktenmappe nach Notizbuch und Kugelschreiber.
Miss Armour stemmte die Arme in die Flanken. »Was machen Sie da?«
»Notizen, Miss Armour.«
»Wie können Sie in dieser Situation an Essen denken?!«
»Ein neuer Bestseller, wie Sie es so drollig bezeichneten, schreibt sich kaum von alleine, gnädige Frau. Schon gar nicht, wenn das Thema ›Currys für Connaisseure‹ ist.«
»Ich dachte, Sie wollen meine Bewerbung unterstützen?«
»Miss Armour! Wenn Ihnen jemand zur Seite steht, dann bin ich …«
»Hallo, ist da wer?«, fragte eine männliche Stimme vor der Kabine.
Er nahm Haltung an. »Guten Morgen, Sir. Hier spricht Angus Thinnson MacDonald. Neben mir steht Miss Armour. Wir haben einen Termin bei Familie Waddell.«
»Befinden Sie sich in der richtigen Fakultät?«
»Er meint Mister und Mrs Waddell!«, sagte die Armour ärgerlich.
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Sind wir noch weit weg?«
»Im Gegenteil.«
»Ihre Stimme kommt mir sehr bekannt vor. Kennen wir uns, Sir?«
»Wir hatten telefoniert. Waddell, der Name.«
Schwarztee mit Pfeffer drin! Waren alle Ernährungsfachleute so kauzig? »Mister Waddell, ja. Wusste ich es doch.«
Mit einem sanften Schnurren öffnete sich die Tür. »Sehen Sie, alles ist gut.«
Miss Armour drückte sich die Hand auf den Mund und konnte das infernalische Lachen doch nicht zurückhalten! Wenn doch nur ihr Telefon wieder klingelte, er sich vom Abspecken fernhalten und detektivisch arbeiten könnte …
»Tak the bit an the buffet.«
Man soll das Leben nehmen, wie es ist.
Signor Vitiello und der Engpass
Alberto saß mit dem Branchenbuch auf dem Schoß im Wohnzimmer der Villa Buongiorno. Seitdem billige Hotels wie Pilze aus dem feuchten Waldboden sprossen, gingen die Buchungen zurück. Detektivische Arbeit stand nicht an und so entwickelte er, um Langeweile zu bannen, ein neues Projekt. Neben dem Schlafzimmer sollte ein Badezimmer installiert werden. In vielen Ländern hätte man dieses Vorhaben senza problema umsetzen können, nicht aber in Großbritannien, das einmal mehr auf den Sonderstatus in Europa bedacht zu sein schien, und deshalb war die Chance, in Edinburgh professionelle Handwerker zu finden, gering. Eher konnte man mit einem Lotteriegewinn rechnen. »Die Klempner sind die Schlimmsten von allen«, wurde Alberto nicht müde, Maria zu klagen, so als ob er unter einer brutalen Besatzungsmacht zu leiden hätte. Fünfzehn solcher Unmenschen hatte er bereits kontaktiert. Die ersten zwölf erachteten es nicht für nötig, in seinem Haus aufzukreuzen, und nur ein Einziger war gewillt, einen Kostenvoranschlag aufzusetzen. Zumindest behauptete der Mann das. Leider wurde der Brief niemals durch die Klappe in der Haustür geworfen und Alberto musste weiterfahnden. Maria bezweifelte, dass er so viele Telefonate hinter sich hatte, kapitulierte aber und lobte sein hervorragendes Gedächtnis. Sollte der Traum von einem neuen Badezimmer so schnell ein Ende finden? Das konnte er Enkelin Fiona nicht antun. Sie glaubte, dass Großvater nur für sie eine besondere Toilette baute. Nachdem alle Gäste versorgt waren und er das Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte, nahm er, um sich etwas abzulenken, den Bus zur Princess Street. Die schicke Tram glitt fast geräuschlos über die Einkaufsstraße. Alteingesessene Edinburgher nörgelten wegen eines überzogenen Budgets. Aber das war bei solchen Projekten immer so! Alberto schlenderte an den Schaufenstern vorbei. Ein Geschäft mit Taschen und Koffern zog seine Aufmerksamkeit auf sich und dann rief er: »Ein Klempner, ein Klempner!« Den hatte er als Spiegelbild in der Fensterscheibe entdeckt. Blitzschnell drehte er sich zu dem Lastwagen auf der anderen Straßenseite um, wo der Fahrer geduldig auf Grün wartete. Er war Mitte dreißig und kahlköpfig. Alberto wollte über die Straße spurten, doch der Verkehr war zu dicht und er musste am Straßenrand warten. Als der nächste Bus herandonnerte, sprang er zurück. Exakt in dieser Schrecksekunde fuhr der Installateur weiter. Vitiello stampfte mit dem Fuß auf.
MacDonald war erbost. Ja, der arme Mister Waddell schielte. Dicke Brillengläser vergrößerten sein Missgeschick für die Welt und darüber zu kichern, war ein Zeichen miserabler Erziehung!
»Fühlt sich Ihre Begleiterin ungut?«, fragte Waddell, der so etwas schon oft erlebt hatte, gleichmütig.
»Es ist nur die Freude über unsere unverhoffte Befreiung. Nicht wahr, Miss Armour?« MacDonald schob sie aus dem Aufzug.
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, sagte Waddell. »Meine Frau wartet bereits.«
Sie schritten über einen langen, tristen Flur bis zum letzten Büro. Waddells Schuhe quietschten bei jedem Schritt. Als Miss Armour seine Gattin erblickte, verlor sie gänzlich die Kontrolle und rannte davon. Das Ehepaar ähnelte sich wie ein Ei dem anderen: braune Haare mit grauen Strähnen, Hornbrillen, erdfarbene Kleidung. Mrs Waddell wurde allerdings noch ein bisschen mehr als ihr Ehemann vom Schielen geplagt. Sich darüber zu belustigen, war das Allerletzte! MacDonald empfand die Situation als sehr misslich. In Armours »Pause« legten sie das Honorar fest, das MacDonald in Form einer großzügigen Spende aufbrachte. Drei Monate sollte das Projekt dauern und sich auf seinen Wunsch mit der indischen Küche beschäftigen. Über Inhalte wollte man sich in der Konversation einig werden. Falls die Armour jemals von ihrer Erfrischungstour zurückkehrte! Bam! Der Teufel sprach, will heißen, sie klopfte an die Tür. »Ja, bitte«, sagte Mister Waddell schmunzelnd, weil so förmlich um Eintritt gebeten wurde. »Ich hoffe, es geht Ihnen besser, Miss Armour.« Dem Himmel sei Dank, dass der Mann über den Dingen stand, dachte MacDonald. Seine Mitbewohnerin fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, versuchte, ihrer habhaft zu werden und schaffte es nicht! MacDonald sprach ein Machtwort: »Da die Dame sich noch immer krank fühlt, schlage ich vor, alles Weitere in einer Telefonkonferenz zu regeln, wenn Sie einverstanden sind, Mister und Misses Waddell?« Die beiden nickten. Man verabschiedete sich und MacDonald schob die Armour aus dem Büro, durch den langen Flur, über die Treppen (!) und zum Ausgang. Dort war es dann an ihm, die Beherrschung zu verlieren. »Sie hatten die Waddells doch schon einmal gesehen!«
»Nein.«
MacDonald überlegte. Wenn sie an der Universität gearbeitet hatte, war das unmöglich. Entweder die Armour schwindelte oder sie hatte sich, grässlicher Gedanke, an seinen Whiskybeständen vergriffen und delirierte! Mitunter waren es Abstinenzler, die sich abrupt am Alkohol labten. »Wie konnten Sie es wagen, sich so daneben zu benehmen?«
»Wovon reden Sie?«, fragte Armour putenrot. »Ich habe nichts getan.«
»Außer Ihre Arbeitgeber wegen eines körperlichen Gebrechens zu verlachen!«
»Gebrechen …? Ach, Sie meinen das Schielen? Zu ulkig!«
»Vielleicht wollen Sie sich das nächste Mal noch auf die Schenkel klopfen, ja? So etwas macht man einfach nicht!«
»Fanden Sie es nicht komisch?«
»Hat man mich vielleicht kichern gesehen? Würden Sie einen Einarmigen ebenfalls verspotten?«
»Das ist etwas anderes«, antwortete sie griesgrämig.
»Nein, es ist genau das Gleiche! Wir können uns glücklich schätzen, wenn die Waddells noch Interesse haben.«
»Ich dachte, wir sprechen am Telefon weiter?«
»So lautete mein Vorschlag, auf den die Herrschaften eingehen müssen.«
»Das geschah doch bereits?«
»Es könnte auch schiere Höflichkeit gewesen sein.«
Sie wurde schneegansweiß. »Oh Gott, meinen Sie, die beiden haben etwas bemerkt?«
»Miss Armour, ich weiß nicht, was Sie mit dieser Frage bezwecken.«
»Es ist also alles aus? Erst verliere ich wegen Ihnen meine Projektstelle zur Atkins-Diät und nun vermasseln Sie mir den zweiten Job auch noch!«
»Sind Sie übergeschnappt? Den Schaden haben Sie … einen Moment mal eben.« Sein Telefon klingelte. »Hier spricht Angus MacDonald. Beruhigen Sie sich bitte. Wir sind gleich da. Ja, sie steht neben mir. Bis gleich.«
»War das meine Tochter?«
»So ist es. Thomasina benötigt unsere Hilfe.«
»Ist etwas passiert? Geht es ihr gut?«
»Lassen Sie uns nach Hause fahren.«
»In Ihrer Benzinschleuder? So weit käme es noch!«
»Schön, dann steigen Sie eben auf Ihren Drahtesel mit angehängtem Leiterwägelchen! Wir treffen uns in Dean Village.« MacDonald ging zu seinem Käfer, den er nahe des Museum of Scotland geparkt hatte. Von wegen Benzinschleuder! Sein Volkswagen war ein treuer Geselle und ließ ihn niemals im Stich. Als er zu Hause ankam, stand Thomasina vor dem Haus und winkte in albatrosähnlichen Flügelschlägen. Indien ist in Not, hatte sie am Telefon furchtsam gesagt und nun würde er hoffentlich erfahren, was das zu bedeuten hatte.
Miss Armour kochte eine große Kanne Kräutersud und stellte sie auf den Küchentisch: Fenchel mit Anis. Nach MacDonalds Auffassung hatte das mit Tee nichts zu tun. Ebenso gut könnte man ein Stück Holz in Wasser erhitzen! Vielleicht Pinie, der Herr? Oder lieber eine Tasse Eiche rustikal?
»Mit Milch und Zucker, Mister MacDonald?«, fragte Thomasina.
»Um Gottes … äh, nein danke. Ich finde, pur mundet er am allerbesten.« Wenn sie ihn so anschaute, hätte er auch das Abwaschwasser getrunken. Dieses gelockte Haupt, perfektes Antlitz wie eine Statue. »Nun, Miss Thomasina, wo drückt der Schuh?«
Sie lächelte ihn zauberhaft an. »Welcher Schuh?«
Im eingeschränkten Vokabular der Jugend waren keine Redensarten enthalten. Da ihre liebste Fußbekleidung, Sportschuhe, »super bequem« waren, fehlte auch die Assoziationsbrücke. »Indien ist in Not, hatten Sie vorhin gesagt?«
»Stimmt, ja. Meine Freundin Devasree steckt in Schwierigkeiten.«
»Die Prinzessin von der Erbse!«, warf Miss Armour senior schnippisch ein.
»Sie hegen den Verdacht, dass die Dame etwas unbedarft durch die Welt schreitet, ja?«
»Das ist noch harmlos ausgedrückt!«, rebellierte die Ernährungsberaterin. »Außerdem benötige ich kein Mannsbild, meine Worte zu erklären! Schon lange nicht mehr!«
MacDonald wusste, dass sie auf Bräutigamschau war – sich, obwohl geschieden, »Miss« nannte, um jugendlicher zu wirken, enthielt sich aber eines Kommentars, denn so langsam begann sein Magen zu knurren und gegen diesen Kumpan zu kämpfen, war aussichtslos.
»Also«, fuhr Thomasina fort, »gestern Nachmittag habe ich Devasree getroffen …«
»Darf man fragen wo?«
»In der Cafeteria der Uni …«
»Ha!«, rief Miss Armour.
»Lassen Sie Ihre Frau Tochter bitte ausreden!«
»Von dieser Person kommt nichts Gutes. Immer schon habe ich es gesagt!«
»… hat sie mir ihr Herz ausgeschüttet«, fuhr Thomasina fort, »obwohl ich das überhaupt nicht abkann. Es geht um ihren Vater und die Fabrik.«
»Was stellt der Gentleman her?«
»Och, alles Mögliche: Chutneys, Pickles, Soßen. Auch Fertiggerichte.«
»No, thank you«, erwiderte MacDonald nachdrücklich.
»Die Sachen schmecken superlecker.«
»Liebe Thomasina, Sie sollten nicht zu häufig in Cafeterien einkehren. Deren sogenanntes Essen verdirbt den Gaumen.«
»Aber bei Aadis Kram ist das anders. Glauben Sie mir.«
»Na, ich weiß nicht.«
»Sie müssen unbedingt probieren. Devasree hat mir eine kleine Kiste mit Artikeln gegeben. Moment, ich hole sie.«
»Das wird nicht nötig …« Zu spät, Thomasina war nach oben in ihr Zimmer gejoggt. Auch das noch, traute Zweisamkeit mit der Ernährungsberaterin! Er war kurz davor, zwanghaft Konversation zu machen, als ihre Tochter wieder auftauchte. Die Kiste stellte sie mitten auf den Tisch und ihre Mutter brachte seine Teekanne in Sicherheit. MacDonald war es egal, ob sie zu Bruch ging, denn in dem kontaminierten Gefäß konnte er keinen guten Tee mehr aufgießen.
»So, das sind die Sachen«, sagte Thomasina. »Zitronenchutney, Curry mit Lamm und das Allerbeste, Pathia-Soße. Kennen Sie die?«
»Gewiss, wenn auch nicht als Fabrikprodukt.« MacDonald musterte die Produkte mit hochgezogener Augenbraue. Auf allen prangte das lächelnde Gesicht des Fabrikanten Aadi Panicker.
»Kosten Sie doch mal, Mister MacDonald.«
Die Armour legte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »Thomasina, erzähle uns, worum es geht!«
»Ach so, ja. Devasree möchte so bald wie möglich ihren Schatz heiraten. Die Eltern sind einverstanden. Aber immer wenn sie über den Termin spricht, bekommt sie keine richtige Antwort.«
»Was heißt das, Miss Thomasina?«
»Ihre Mutter sagt, sie solle Vater fragen. Der spricht in Rätseln und will nur seine Geschäfte in Ordnung bringen.«
»Ohne einen Termin zu nennen?«
»Ja, das stimmt.«
»Welcher Religion gehören die Panickers an?«
»Hindus.«
»Ist der zukünftige Gatte auch Hindu?«
»Glaub ich eher nicht.«
»Vielleicht lehnt Panicker den Herrn aus anderen Gründen ab. Es ist zwecklos«, sagte MacDonald, »kein Hase liegt im Pfeffer.«
Thomasina sah hilflos zu ihrer Mutter.
»Unser Herbergsvater übernimmt nur Fälle, die mit Essen oder Trinken zu tun haben.«
»Meine Damen! Ich möchte mich an die Arbeit für mein Buch machen.«
»Wie auch mit der Diät beginnen!«
»Meinethalben! Ich bin übrigens nicht Ihr Herbergsvater!«
»Devasrees Problem hat mit Essen zu tun!«, erklärte Thomasina freudig. »Jemand vergiftet die Pathia-Soße. Mister Panicker liebt sie und kann kaum ertragen, was abläuft. Aber ich verstehe total, wenn Sie keine Zeit finden. Hab ihr gleich gesagt, dass es schlecht aussieht.«
Angesichts ihrer geweiteten Pupillen war MacDonald chancenlos: »Wie wird vergiftet?«
»Mit Salz.«
»Das ist kein Gift.«
»Schon Paracelsus wusste: Im Übermaß kann alles schädlich werden«, dozierte Miss Armour senior.
MacDonald starrte sie wie eine fehlgezündete Silvesterrakete an. »Hat der Erpresser sich schon gemeldet?«
»Welcher Erpresser denn?«
»Derjenige, der die Pathia-Soße versalzt.«
»Von Erpressung hat niemand was gesagt. Nur, dass bei Waitrose auf der Morningside Road Gläschen mit zu viel Salz drin auftauchten.«
»Aber woher weiß Ihre Bekannte dann, dass die Soßen wegen Böswilligkeit ungenießbar sind? Es könnte ein Produktionsfehler sein. Immerhin handelt es sich um Fabrikerzeugnisse.«
Thomasina schwieg, drehte sich mit dem Zeigefinger eine zusätzliche Locke.
»Wie lange kennen Sie diese Devasree schon, Miss Thomasina?«
Sie zeigte mit den Händen einen meterlangen Abstand an.
»Also einige Jahre?«
Thomasina zuckte mit den Schultern.
»Ich frage nur, weil Sie sehr gut über die familiären Verhältnisse Bescheid wissen?«
»In der letzten Zeit sehen wir uns nicht mehr so oft.«
»Warum bitte?«
»Puh, manchmal entwickelt man sich eben auseinander.«
»Ehrenvoll, dass Sie sich trotzdem engagieren.«
»Was sollte ich denn machen?! Devie hat schrecklich geheult. Hab ich ein Problem mit!«
»Ich werde den Herrn mit meinem assoziierten Detektiv aufsuchen. Mal sehen, was wir eruieren können.«
Thomasina blickte ihn wie einen fremdsprachigen TV-Moderator an.
»Er und dieser Vitiello kümmern sich darum«, dolmetschte ihre Mutter.
»Fein! Vielen Dank. Sie sind der Größte, Mister MacDonald! Da gibt es allerdings ein Problem …«
Als Alberto die Villa Buongiorno betrat, rief er. »Peter Pirie, der Ire! Dass ich nicht früher daraufgekommen bin.«
Maria rannte ihrem Mann entgegen. »Ist alles in Ordnung?«
»Hab mich selten besser gefühlt.«
»Darf man deine Freude teilen?«
»Ich habe einen Klempner aufgetrieben!«
»Sitzt er in deiner Jackentasche?«
»Princess Street«, sagte Alberto.
»Ist das nicht die Einkaufsstraße in der Innenstadt?«
»Haha, sehr gut! Erinnerst du dich an die Firma Robertson?« »Si, mein Gatte hat die Installateure aus dem Haus geworfen.«
Alberto atmete kräftig durch. »Zu Beginn, mit diesem jungen Klempner, lief alles tadellos. Peter arbeitete gut und schnell. Heute ist er auf der Princess Street an mir vorbeigefahren. Wie es aussieht, hat er sich selbstständig gemacht. Nun muss ich nur noch seinen Nachnamen und die Geschäftsadresse ausfindig machen.«
»Eine weitere Herausforderung für Alberto Vitiello.«
Das Telefon klingelte.
»Die Ironie habe ich überhört, liebe Frau.«
Maria reichte ihm das Telefon. »Hast du Zeit, ein Gespräch zu führen?«
Alberto nickte. »Pronto. Du bist es, Angus. Schon wieder ein Fall für uns kulinarische Detektive? Ich weiß nicht so recht.«
Maria drückte sich die Hände auf den Kopf und rannte in die Küche. Diese Zeremonie kannte sie zur Genüge. Er wollte von Angus ausgiebig um Hilfe gebeten werden.
»Du kämst also ohne mich nicht aus? Sisi, dann mache ich natürlich mit. Wie, jetzt gleich? Da muss ich Maria fragen …« Alberto riss die Tür zum Garten auf, doch seine Frau fand er nicht. »Angus, bist du noch dran? Sie muss hinten in ihrem Gewächshaus sein. Nein, warum sollte Maria etwas dagegen haben? In zehn Minuten also. Ciao.« Wie hatte Angus das gemeint: Indien ist in Not? Bei ihrem ersten Fall1 wäre er im Zuge der Ermittlungen in einem indischen Restaurant fast gestorben, so scharf war das Curry Vindaloo! Sein Freund erwartete doch hoffentlich nicht, dass er erneut sein Leben aufs Spiel setzte?
MacDonald war wieder auf die Minute pünktlich, rangierte seinen tuckernden Käfer in eine Parklücke. Die Aktenmappe in der Linken, klingelte er dezent. Vitiello riss die Tür auf und sprudelte los. »Hab überhaupt keine Zeit, muss einen Klempner auftreiben.«
»Freut mich ebenfalls, dich zu sehen, Alberto. Darf ich reinkommen?«
»Natürlich, entschuldige.«
MacDonald nickte. Er hatte eine Vermutung, was das Problem war.
»Ich mache uns Tee«, sagte Alberto umgänglicher.
»Schwarztee bitte!«
Vitiello schüttelte den Kopf. »Anderen habe ich gar nicht. Es ist sehr einfach, Angus: In dieses indische Restaurant gehe ich nie mehr im Leben. No, no!«
Bombay Palace hatte längst geschlossen. Nur das Kebab Mahal hielt sich mit seinen exzellenten Speisen am Nicholson Square und sollte dort oder anderswo eine Ermittlung notwendig werden, würde MacDonald sich darum kümmern. »Natürlich, mein Freund.«
»Versprochen?«
»Aber ja. Mach dir keine Sorgen.«
»Molto bene. Miss Thomasina steckt also in Schwierigkeiten?«
»Eine Freundin von ihr. Sie heißt Devasree Panicker.«
»Der Name kommt mir bekannt vor.«
»Vielleicht hast du dir schon einmal die Produkte ihres Papas einverleibt. Er fabriziert Fertigsoßen, Chutneys, Pickles und dergleichen Dinge. Alle tragen sein glückliches Konterfei.«