Muster für morgen

Text
Aus der Reihe: Andere Welten #4
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Wir werden sehen, was wir tun können«, fasste Sonnenfeuer die unausgesprochenen Gedanken der drei zusammen. »Aber dazu ist es nötig, dass wir genauer Bescheid wissen über euch und das, was ihr vorhabt.«

»Wir wollen uns morgen zusammensetzen und die verschiedenen Vorschläge diskutieren«, informierte sie die Mutantin. »Aber vorher solltet ihr uns vielleicht erzählen, wie ihr hierhergekommen seid.«

Die drei berichteten abwechselnd in Kurzform über ihre Erlebnisse der letzten Zeit und lösten nun ihrerseits Erstaunen und Verwunderung aus.

Nachdem nun beide Seiten genug Stoff zum Nachdenken hatten, löste sich die Runde schnell auf und alle gingen wieder ihren Beschäftigungen nach.

Sonnenfeuer, Kortanor und Lucky erhielten eine geräumige Pflanzenbehausung zugewiesen, in der sie die Nacht bequem verbringen konnten. Eine Frage von Lucky, ob die Mutanten etwas über den Verbleib Speedys, Sucherins und der Helfer wussten, erbrachte kein Resultat. Alle drei waren nach den Erlebnissen todmüde und fielen sofort in einen langen Schlaf, obwohl die Sonne noch ihre letzten Strahlen durch die Baumwipfel schickte.

10.
SONNENFEUER

Sonnenfeuer war die erste, die am nächsten Morgen aufwachte. Sie stand sofort auf, um sich ausgiebig zu waschen und ein wenig zu essen. Danach suchte sie sich ein ruhiges Fleckchen, wo sie nicht so schnell gestört werden konnte. Die angekündigte Besprechung sollte erst gegen Nachmittag stattfinden. Und das war auch gut so, denn sie brauchte unbedingt Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen und neue Kräfte zu sammeln. Der Anfang gestern hatte sie dabei etwas ermutigt.

Hier etwas abseits von den Robotern und Mutanten konnte sie wenigstens versuchen, sich ein ungeschminktes Bild der Lage zu verschaffen, in der sie sich befand. Es konnte immer noch keine Rede davon sein, dass sie sich besonders wohl fühlte, obwohl dieser Ort natürlich eine Verbesserung gegenüber der Raumstation darstellte. Aber die Umweltbedingungen waren wohl nirgends auf dieser Welt dazu angetan, ein Wohlbefinden bei ihr herzustellen.

Andererseits, sagte sie sich, hatte sie beim Verlassen ihres Heimatplaneten in etwa gewusst, auf was sie sich einließ. Sie war schließlich freiwillig mitgekommen, obwohl der Gedanke an einen Arbeiter-Planeten ihr Schauer über den Rücken jagte. Trotzdem hatte sie es für notwendig befunden, ihren Eingebungen zu folgen, selbst als die Invasion ihrer Heimat bevorstand. Sie war sich nach wie vor sicher, dass ein Kontakt mit Traumschwester für sie unumgänglich und lebenswichtig war, obwohl er zur Zeit in weite Ferne gerückt schien, da die Trennung von Sucherin es nahezu unmöglich machte, einen Realitätswechsel zu Traumschwesters Ebene vorzunehmen. Es war ihr auch nicht klarer geworden, was genau dieser Kontakt mit Traumschwester bewirken sollte, aber sie zweifelte nicht daran, dass er vollzogen werden musste.

Sie dachte an die Tage des Weltraumfluges zurück: ihre anfängliche Neugier, besonders Speedy gegenüber, hatte sich schnell reduziert, als ihr bewusst wurde, in was für einer (Gedanken)-Welt er und Lucky lebten. Sie wussten rein gar nichts über kosmische Zusammenhänge, magische Energien und die daraus resultierende Vielfältigkeit des Lebens. Ihre Welt war zusammengeschrumpft auf ein völlig verzerrtes Bild ihrer selbst und ihrer Umwelt, bedingt durch die wissenschaftlich/rationale/logische Realität, in die sie hineingeboren worden waren, und die dazu diente, den Herrschern dieser Welt das Herrschen zu ermöglichen. Diese einseitigen Raster und Strukturen hatten die Menschen im Laufe der Jahrhunderte so verkrüppelt, dass sie nicht mehr in der Lage waren, etwas anderes wahrzunehmen.

Speedy hatte – meist ohne sein bewusstes Dazutun – einige Male Ausbrüche aus diesen Fesseln gemacht, aber er konnte seine Erfahrungen weder einordnen noch sich erklären. Sonnenfeuer sah sich außerstande, ihm dabei zu helfen, da es ihr schon Schwierigkeiten bereitete, sich länger als unbedingt notwendig, auf seine Verständigungsebene zu begeben. Und trotzdem blieb ein Rest an ihm, der ihn für die Zauberin interessant machte. Eine Art verwandtschaftliches Gefühl, von dem sie nicht sagen konnte, woher es rührte.

Sie zweifelte nicht daran, dass Lucky und Speedy aufrichtige Freunde waren – das Gegenteil hätte sie sofort gespürt – aber sie unterschieden sich einfach zu sehr von ihr. Eine Zeitlang hatte Kortanor ihr über diese erschütternde Erkenntnis hinweghelfen können. Auch er hatte zwar keinen Einblick in die magische Welt, aber er war aufgrund seiner vielfältigen, kosmopolitischen Erfahrungen doch aufgeschlossener ihr gegenüber und sie konnte ihm einiges von dem, was sie beschäftigte, begreiflich machen. Andererseits brach bei ihm oft ein typisches patriarchalisches Denken und Handeln durch, das sie ziemlich ärgerte. Sie hatte ihm daher von Anfang an keine Hoffnung gemacht, dass ihre Beziehung von längerer Dauer sein könnte. Irgendwann würden sich ihre Wege unvermeidlich trennen. Kortanor hatte nicht zu erkennen gegeben, ob ihn dieser Gedanke störte.

Die meiste Zeit auf ihrem Flug hatte sie Sehnsucht nach ihrer Welt gehabt, nach ihren Gefährten und Freundinnen und den Abenteuern und der Vielschichtigkeit ihres Zusammenlebens. Oder sie hatte ungeduldig auf die Ankunft auf der Erde gewartet, um endlich mit Traumschwester zusammentreffen zu können.

Als dann Sucherin an Bord gekommen war, hatte sich das schlagartig geändert.

Ihr war sofort klar gewesen, dass das Aussehen dieser Frau nicht ihr wahres Selbst darstellte. Ihre und Speedys Erzählungen ergaben dann ein fantastisches Bild der Vermengung zweier Realitätsebenen, das sie augenblicklich faszinierte.

Leider nahm Sucherin eine sehr intensive Beziehung zu Speedy auf, die es ihr unmöglich machte, sich länger über diese Rätsel mit ihr zu unterhalten. Sonnenfeuer war daraufhin ziemlich ärgerlich und frustriert, weil sie auch hier ihrem Ziel nicht näher kam. Sie wartete ungeduldig auf den Zeitpunkt, an dem sich die Zweisamkeit von Sucherin und Speedy lockern würde, weil sie in Sucherin eine Möglichkeit sah, einen Realitätswechsel zu Traumschwester vorzunehmen.

Doch die Beziehung zwischen den beiden änderte sich erst, als sie die Erde erreichten, und dann wurden sie getrennt.

Wie sie nicht anders erwartet hatte, war die Erde ein scheußlicher Planet. Sie konnte sich noch glücklich schätzen, nicht in einer dieser Machtballungen Neu-Ing oder Südliche Inseln verschlagen worden zu sein. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie es dort aushalten konnte, ehe sie dem Wahnsinn verfiel.

Sich vorzustellen, wie all diese Menschen tagein tagaus stupiden Tätigkeiten und Ritualen nachgingen, um etwas konsumierbares Glück zu erhaschen oder einfach überleben zu können, weil ein paar von ihnen auf Kosten der anderen lebten ... Sie konnte vieles davon nicht wirklich begreifen und Speedys oder Luckys Erzählungen hatten immer wie unwirkliche Schauergeschichten geklungen. Da trennten sie wirklich Welten.

Immerhin ging es ihr an diesem Ort etwas besser. Die Natur übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus und durch die leisen Schwingungen der Pflanzenwelt hindurch vernahm sie sogar manchmal das Wispern der kosmischen Ganzheit. Vielleicht konnte sie ihre Kräfte hier soweit regenerieren, dass sich ihr Zustand stabilisierte. Denn sie ahnte schon, dass sie irgendwann auch von hier fort musste, näher zu diesen Menschen, die mit ihren Herrschaftssystemen das magische Feld des Planeten fast völlig zerstört hatten. Sie würde sich den Bedingungen wenigstens so anpassen müssen, dass sie überleben konnte und handlungsfähig blieb.

Sie seufzte und fing an, Zöpfe in ihr Haar zu flechten. Wenn der Kampf gegen diese Soldaten ausgestanden war, musste sie den nächsten Schritt tun, immer in der Hoffnung, Traumschwester dadurch näher zu kommen.

Hear the ticking of your heartbeat beating

Hear the breaking of their promises

Hear the smashing of your expectations

Hear the shattering of half-rhymes

I am a timebomb

A ticking ticking ticking timebomb

Chumbawamba - »Timebomb«

11.
NACHRICHTEN

Neu-Ing, Industriesektion Nord, Abschnitt 4:

In der unterirdischen Anlage des Chemiekomplexes der Firma Chemosont explodierte gestern Nacht um 3 Uhr eine Bombe. Der Sachschaden beläuft sich auf ca. 2 Millionen Verrechnungseinheiten, Menschen kamen nicht zu Schaden. Die Verantwortung für den Bombenanschlag übernahm in einer Erklärung an mehrere Zeitungen des Landes eine Gruppe »Freiheit und Abenteuer«. In der Erklärung wird behauptet, dass die Firma Chemosont maßgeblich an der Herstellung von Konzentraten beteiligt ist, die, bestimmten Lebensmitteln zugesetzt, die Wirkung von Beruhigungsdrogen haben sollen. Der Leitende Direktor des Konzerns sowie der zuständige Reg Sir Dryeck erklärten diese Vorwürfe für völlig haltlos und abwegig und verurteilten den Anschlag als ein terroristisches Unternehmen gegen die Interessen des Volkes. (Bericht Studio 34)

Neu-Ing, Zentrale der Blauen Gewerkschaft:

Die Führer der Blauen Gewerkschaft betonten in Ansprachen an verschiedenen Orten Neu-Ings ihre Bereitschaft zu umfassenden Warnstreiks in allen Betrieben, falls die Gesetzesvorlagen zur Pressezensur und zum Ausnahmezustand vom Parlament verabschiedet würden. Sie erklärten sich aber andererseits bereit, zur »Verhinderung von Chaos und Anarchie« eng mit der Regierung zusammenzuarbeiten.

 

Neu-Ing, eig. Ber.:

In einem Tri-Di-Interview beklagte der Arbeitgeberpräsident Czechman erneut die rapide ansteigende Zahl der sogenannten »Krankfeierer« in einer Zeit, in der es eher nötig wäre, verstärkt Mehrarbeit zu leisten, um die Konjunktur wieder anzukurbeln. Er kündigte verschärfte Maßnahmen der Unternehmensführungen an, wenn sich dieser Zustand nicht ändern sollte.

Neu-Ing, Sektor Südwest:

Nach einer nicht genehmigten Demonstration gegen Preisinflation und Arbeitshetze kam es zwischen den ca. 10000 Demonstranten und eingesetzten Cop-Ordnungskräften zu heftigen Auseinandersetzungen. Nachdem ein Teil der Demonstranten zu Plünderungen in den umliegenden Supermärkten schritt, setzten die Cops Lähmgas und Plastikgeschosse ein. Die Demonstranten hatten zuvor versucht, die Cops mit Steinwürfen und Barrikaden zurückzuhalten. Mindestens 2 Cops und 5 Demonstranten kamen bei den Kämpfen ums Leben, ca. 33 Personen wurden verletzt. Bei Redaktionsschluss dauerten die Auseinandersetzungen an.

Südliche Inseln, Pernuco:

Auf der Insel Pernuco sowie einigen kleineren Nachbarinseln herrscht nach Ausrufen des Ausnahmezustands weiterhin eine unübersichtliche Situation. Nachdem am Morgen erneut Guerilla-Einheiten in die größeren Städte einrückten und den Aufstand eines Teils der Bevölkerung gegen Militär- und Polizeistützpunkte unterstützten, sandte die regierende Militärjunta ein Kontingent Aufruhr-Bekämpfungs-Truppen nach Pernuco. Die einheimischen Truppen sollen sich inzwischen weitgehend zurückgezogen haben, einige Verbände sollen offen zu den Guerilleros übergelaufen sein. In der Militärspitze wird angeblich über eine Bombardierung Pernucos diskutiert.

Mars, Ilonville:

Die Arbeiter der Minengesellschaft Tri-Konsort weigerten sich gestern geschlossen, zur Arbeit zu gehen. Sie forderten bessere Arbeits- und Unterbringungsbedingungen sowie die Absetzung zweier Funktionäre von Tri-Konsort. Es handelt sich bei den Arbeitern von Tri-Konsort zu 90% um Langzeit- Sträflinge. Wie alle anderen Arbeiter auf dem Mars besitzen sie weder gewerkschaftliche noch sonstige Mitspracherechte. Ihnen wurden daher hohe Strafen angedroht, falls sie ihre Arbeit am heutigen Tag nicht wiederaufnehmen. Trotz dieser Drohung der Arbeitgeber scheinen die Bergarbeiter jedoch entschlossen, den Streik fortzusetzen. »Wir haben doch nichts zu verlieren«, äußerte sich einer von ihnen.

12.
WER BIN ICH?

Stöhnend schlug der Mann die Augen auf. Sein Kopf dröhnte, als hätte jemand mit einem Hammer darauf geschlagen.

Es war Nacht, aber überall funkelten bunte Lichtbänder und Straßenbeleuchtungen. Der Lärm aus Musik, schreienden Stimmen und dichtem Verkehr war nahezu unerträglich. Er musste sich mitten in der City befinden.

Seltsamerweise spürte er keinen direkten Schmerz, nur einen ungeheuren Druck im Kopf und eine zunehmende Mattigkeit in den Gliedern.

Aber wie komme ich hierher? fragte er sich und schloss für einen kurzen Moment wieder die Augen.

Seine Erinnerung war getrübt, aber es war ihm so, als wäre er vor kurzem noch ganz woanders gewesen. In einem Raum, einem weißen, kahlen Raum mit ...

Doch da kam er wieder nicht weiter und mit Schrecken wurde ihm plötzlich bewusst, dass er selbst seinen Namen vergessen oder verloren(?) hatte.

Es war, als hätte er nie einen besessen.

Leute hasteten an ihm vorbei. Er hörte Gelächter, das Lallen von Betrunkenen und einige Beschimpfungen, die zweifellos ihm galten, weil ein paar Menschen über seine ausgestreckten Beine stolperten. Er merkte jetzt, dass er am Rand des Fußweges saß, mit dem Rücken an eine Hauswand gelehnt.

Er musste aufstehen, sagte er sich. Es würde nicht lange dauern, bis jemand die Cops alarmierte. Völlig entkräftet zog er sich langsam an der Fassade hoch. Der Druck in seinem Kopf begann etwas nachzulassen, aber insgesamt verbesserte sich sein Zustand nicht wesentlich.

Ihm fiel ein, dass er irgendwo wohnte, ein Zuhause hatte. War das der kahle Raum? Nein, das war wieder eine andere Erinnerung, aber sie schien sich mehr in ihm eingebrannt zu haben.

Wieder stöhnte er laut: Wenn er doch nur seine Gedanken ordnen könnte! Was war mit ihm passiert? Hatte man ihn überfallen oder ihm das Gedächtnis gelöscht?

»Soll ich einen Medo-Robot rufen?« fragte eine Stimme.

Er fuhr zusammen. Neben ihm stand eine ältere Frau und musterte ihn mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid.

»Nein, nein ... danke, es geht schon wieder«, stotterte er.

Ruhe, er brauchte erst mal Ruhe! Vielleicht fiel ihm dann wieder ein, was er mitten in der Nacht hier verloren hatte. Er musste herausfinden, was er wusste und was nicht. Zum Beispiel war ihm völlig klar, dass er sich in Neu-Ing aufhielt. Die Gegend war ihm bekannt, jedenfalls tagsüber.

Wo konnte er hin? Am besten in den neuen Park, entschied er.

In einem Café oder Restaurant würde er auch keine Ruhe haben. Instinktiv betastete er seinen Kopf, konnte aber keine Wunde fühlen. Das beruhigte ihn ungemein, denn was er am meisten verabscheute war eine ärztliche Untersuchung und Behandlung. Er wusste nicht, warum er sich so davor fürchtete, aber die Tatsache blieb. Davon abgesehen würde er sie wohl auch nicht bezahlen können.

Vielleicht ist es nur eine Gehirnerschütterung, dachte er. Ich bin einfach irgendwo drüber gestolpert und auf den Kopf gefallen. Doch diese Hypothese beruhigte ihn nicht. Er ahnte, dass sie falsch war.

Als er die Taschen seiner weiten Hose durchwühlte, stellte er entsetzt fest, dass er weder Geld noch Schecks hatte. Überhaupt war nichts in den Taschen: Keine Identitäts-Karte, kein Schlüssel, kein Notiz-Recorder.

Das sah wirklich nach einem Überfall aus, denn ohne diese Sachen hätte er nie das Haus verlassen. Oder hatte er es in geistiger Umnachtung getan?

Zu Fuß war es zum neuen Park zu weit, selbst wenn er die Transport- Bänder benutzte, die es zumindest in der City gab.

Langsam ging er weiter in Richtung Außenbezirke. Er durfte nur einfach nicht auffallen.

Und wieder überfielen ihn die Erinnerungsfetzen an diesen sterilen Raum. Jetzt waren auch Gesichter dabei, die auf ihn herabschauten. Sie hatten Masken vor Mund und Nase und trugen grüne Kittel. Ein Krankenhaus, eine psychiatrische Anstalt?

War er operiert worden?

Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, denn die Erinnerung war mit Schmerzen verbunden, mit inneren Schmerzen. Er ahnte gleichzeitig, dass er einem Geheimnis auf der Spur war. Einem Geheimnis, das sich ganz allein auf seine Identität bezog.

Dann war alles wieder vorbei, verschwamm in einem diffusen Nebel. Er konnte sich nicht länger konzentrieren. Und wenn er einfach zur nächsten Cop-Station ging? Dort mussten sie ihm weiterhelfen! Aber irgendetwas hielt ihn davor zurück, diesen Schritt zu tun. Ein Mann ohne Gedächtnis und ohne Papiere, das würde ihm niemand abnehmen.

Aber es stimmte. Seine Vergangenheit war zum größten Teil ein riesiges Loch. Er wusste nicht, wie er hieß, wo er wohnte, was er arbeitete, welche Freunde er hatte ...

Vielleicht musste er nur eine Nacht schlafen und sein Erinnerungsvermögen kehrte zurück. Vielleicht war er krank gewesen oder man hatte ihn gefangen gesetzt oder ein Straßenräuber hatte ihn ganz einfach niedergeschlagen und den Inhalt seiner Taschen an sich genommen oder oder oder ... tausend Möglichkeiten.

Doch diese Spekulationen waren müßig. Sie brachten ihn kein Stück weiter.

Inzwischen hatte der Lärm etwas abgenommen. Zwar befand er sich immer noch im Zentrum und das Nachtleben spielte sich auch hier ab, aber dem reinen Vergnügungsviertel war er entkommen.

Er versuchte äußerlich so ruhig wie möglich zu erscheinen, obwohl er innerlich total aufgewühlt war. Er konnte schon keinen richtigen Gedanken mehr fassen, aber die Grübelei auch nicht aufgeben. Wenn das so weiterging, würde er über kurz oder lang zusammenbrechen, dessen war er sich sicher.

Er zwang sich dazu zu überlegen, was ihm noch einfiel, irgendwelche Anhaltspunkte, Namen oder Adressen. Wieder tauchte der Raum auf, diesmal mit blitzenden Gerätschaften und Instrumenten. Und auch wieder Gesichter, aber kein Name verband sich mit ihnen. Doch halt! Da war doch etwas! Eine Adresse, die mit dieser Situation in Verbindung stand.

Er blieb stehen. Jetzt war es ganz deutlich, als hätte es ihm die ganze Zeit einfallen müssen. Wie konnte er diese Information vergessen haben: Severin Street 66 und dazu ein Name: Mickey.

Das war doch hier ganz in der Nähe. War er immer schon unbewusst auf diese Adresse zugegangen? Aber wer war Mickey? Ein Freund oder ein Feind? Er war sich auf einmal ganz sicher, dass er Feinde hatte. War er von ihnen so zugerichtet worden?

Aber es fiel ihm nicht mehr ein. Trotzdem glaubte er, dass ihn dieser Mickey aufklären konnte, denn der Name kam ihm sehr vertraut vor.

Er musste sich jetzt entscheiden. Sein Gefühl sagte ihm, dass er von diesem Mickey nichts zu befürchten hatte. Und außerdem: welche Wahl blieb ihm? Er konnte nicht ewig durch Neu-Ing irren in der vagen Hoffnung, dass ihn ein Bekannter ansprach oder sein Gedächtnis irgendwann wiederkehrte.

Nein, er musste es wagen.

Entschlossen beschleunigte er seine Schritte. Wer dieser Mickey auch war, er musste ihm Auskunft über seine Vergangenheit geben!

Als er endlich vor dem Haus mit der Adresse Severin Street 66 stand, fühlte er sich auf unerklärliche Weise erleichtert. Natürlich hatte er hier nichts zu befürchten. Er hatte sogar das Gefühl von zuhause, als der Lift ihn ins 5. Stockwerk beförderte. Warum hatte er sich so dumm verhalten? Es würde sich hier alles aufklären.

Ein junger Mann öffnete auf sein Klingeln. Das war Mickey. Er schien besorgt aber auch etwas ärgerlich zu sein.

»Da bist du ja endlich«, empfing er ihn. »Deine Sachen sind schon heute Morgen gekommen. Wo hast du nur die ganze Zeit gesteckt, es ist ja schon nach Mitternacht?«

When I was young, it seemed that life was so wonderful,

A miracle, it was beautiful, magical.

And all the birds in the trees, they’d be singing so happily,

Joyfully, playfully watching me.

But then they sent me away to teach me how to be sensible,

Logical, responsible, practical.

And they showed me a world where I could be so dependable,

Clinical, intellectual, cynical.

Supertramp - »Logical Song«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?