Kontrolle

Text
Aus der Reihe: Andere Welten #1
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Frank Westermann

Kontrolle

Der Anfang einer utopischen (?) Geschichte

Band 1 der Serie »Andere Welten«

FUEGO

- Über dieses Buch -

ERDE I

Ich glaub, dies war das Schlimmste, was die menschliche Zivilisation bisher durchgemacht hatte. Und das Übelste an der Sache war, dass man diesem Chaos, diesem gigantischen Unterdrückungsapparat nicht entkommen konnte. Früher hatte es immer Auswege gegeben, Fluchtmöglichkeiten, die von Minderheiten, Unterdrückten und Außenseitern mehr oder weniger genutzt wurden. Auswege gab es nicht. Hier existierte nur diese einzige, riesige Stadt - drum herum erstreckte sich Steinwüste, Unfruchtbarkeit und Leblosigkeit. Und es gab meines Wissens keinen Flecken auf der Welt, der sich wesentlich von dem beschriebenen Bild unterschied. Und falls dies nur Propaganda war, konnte man es nicht überprüfen ...

ERDE II

»Keine Angst«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Ich will nur versuchen, unsere Situation zu erklären.«

»Was soll dann die Waffe? Ihr wißt genau, daß ich ungeschützt bin«

»Mann, wir wissen überhaupt nichts!« schrie jemand hinter mir.

»Wir kommen von einer anderen Wahrscheinlichkeitsebene. Darum wissen wir über nichts Bescheid«, sagte ich und hoffte, dass das gleichzeitig eine Erklärung war.

»Wahrscheinlichkeitsebene...?« Der Alte sah mich ungläubig an. »Na, das ist natürlich was anderes. Aber ihr müsst wissen, ich kenne mich in derTheorie nicht so aus.«

»Ich auch nicht«, sagte ich leise ...

Well man created the cardboard box to sleep in

And man converted the newspaper to a blanket

Well you have to admit that he's come a long way

Since swinging about in the trees

We're the smartest monkees

XTC - »The Smartest Monkees«

Vorwort zur E-Book-Ausgabe

Wer hätte das gedacht? 38 Jahre nach dem ersten Erscheinen von »Kontrolle« kommt nun eine E-Book-Ausgabe heraus. Als ich mit 25 Jahren anfing, dieses Buch zu schreiben, hätte ich nicht im Traum an so eine Entwicklung gedacht. Wie auch? Internet, Smartphones und E-Bücher waren damals Science Fiction, kaum vorstellbar tauchen sie auch in diesem Buch (und allen weiteren) nicht auf.

Es fühlt sich an, als wäre ein Teil meines Lebens aufs Neue erwacht - und das sind durchaus ambivalente Gefühle. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich zum letzten Mal in »Kontrolle« und den Folgebänden der Serie »Andere Welten« geblättert habe. Ab und zu stechen sie mir ins Auge, wenn mein Blick zufällig auf die letzten gedruckten Exemplare im Bücherregal fällt.

Als Friedel Muders von Fuego mich vor ca. einem Jahr anrief mit dem Vorschlag, die Serie nach und nach als E-Bücher »auf den Markt« zu bringen, habe ich spontan eingewilligt. Warum auch nicht? So »überleben« sie immerhin und sind weiterhin für interessierte Leserinnen und Leser erhältlich. Andererseits kamen mir auch Zweifel: Sind sie überhaupt inhaltlich noch aktuell? Haben sie Menschen in der heutigen Zeit noch etwas mitzuteilen oder ist das Ganze nur ein nostalgischer Trip in die Vergangenheit? Immerhin war ich mir schon lange sicher, dass ich die Bücher heute so auf keinen Fall mehr schreiben würde, und hatte mich oft sehr zurückhaltend geäußert, wenn die Sprache darauf kam. Sind sie also »nur« Dokumente der Zeitgeschichte, die heute darüber hinaus keine Bedeutung mehr haben?

Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Das mögen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden.

Eine weitere Hürde stelle sich mir in den Weg, als ich »Kontrolle« auf Friedels Wunsch hin noch mal Korrektur lesen sollte. Wie würde es mir ergehen, alles wieder Revue passieren zu lassen? Würde nicht der Drang über mich kommen, Formulierungen zu verändern, Neues einzufügen, ja, alles umzuschreiben? Würde mir manches nicht heute ausgesprochen peinlich sein bzw. geradezu unleserlich? Friedel warnte mich davor und bestand darauf, wirklich nur Rechtschreibfehler/Zeichensetzung zu korrigieren - die meiste Arbeit hatte er in dieser Hinsicht sowieso schon geleistet (Stichwort: Satzerfassung und neue Rechtschreibung).

Im Nachhinein kam es genauso, dass es nur die Alternative gab, alles neu zu schreiben oder nur die Fehler zu verbessern. Und dabei ist mir klar geworden, dass ich inhaltlich gar nicht so viel ändern würde, der Stil und viele Formulierungen dagegen ... (s.o. von wegen »peinlich« etc.)

Nun ist es also fertig und auch die nachfolgenden vier Bände der Serie werden nacheinander erscheinen. Bin ich trotz aller Unzulänglichkeiten stolz darauf? Ja. Und ich hoffe, indem die Bücher so einem ganz neuen Publikum zugänglich werden, dass die eine oder der andere auch heute noch an dieser Science Fiction-Abenteuergeschichte mit sozialpolitischem Hintergrund Gefallen findet und vielleicht sogar durch irgendeine Passage zum Nachdenken angeregt wird. Und was den politischen Hintergrund angeht, ist eventuell 1978 gar nicht so weit von 2016 entfernt und ebenfalls nicht vom Ausgangspunkt der Zukunft, die in »Kontrolle« beschrieben wird.

Können wir uns eine bessere Zukunft vorstellen? Ich hoffe es. Auch wenn sie sicherlich nicht so aussehen wird, wie sie hier und in den weiteren Büchern beschrieben ist.

Mein Dank geht an Friedel Muders, der dieses Projekt (fast) im Alleingang hat Wirklichkeit werden lassen sowie an alle ehemaligen und zukünftigen Leserinnen und Leser und natürlich auch an alle, die damals mitgeholfen haben, diesen 5-bändigen Zyklus in die Tat umzusetzen.

Frank Westermann, März 2016

To be or not to be – Shakespeare

To be is to do – Rouseeau

To do is to be – Sartre

Dobe dobe dobe do – Frank Sinatra

Klospruch, gesehen in Irland

Ähnlichkeiten festzustellen mit lebenden,

toten oder noch nicht lebenden Personen,

bleibt dem Leser überlassen.

We went in low and hit 'em hard

The leathernecks were our rear guard

Audie rode the armoured cars

Between us, between us

Streetwalkers - »Between Us«

I. Teil

And if you can't be with the one you love

Love the one you're with

Crosby, Stills, Nash & Young - »Love The One You're With«

1.

Als ich die polternden Schritte hörte, war mein erster Gedanke, dass ich mit der Alarmleine wohl Mist gebaut hatte. Dass ich trotzdem aufgewacht war, verdankte ich nur der Gleichgültigkeit der staatlichen Ordnungshüter. Ich entschuldigte die Panne vor mir selber damit, dass ich eben keine Erfahrung in solchen Vorsichtsmaßnahmen hatte.

Ich hatte aber auch keinen Grund, in Panik zu verfallen. Die Bullen hatten kein besonders großes Interesse daran, jemanden wie mich zu schnappen. Denn das bedeutete für sie nur Arbeit und Scherereien.

Ich raffte also meine paar Klamotten zusammen - auch die Bücher und das kleine Abspielgerät - ließ die Taschenlampe kurz aufleuchten und schwang mich aus dem Fenster. Außer Abfall lag jetzt nichts mehr in dem verlassenen Gebäude.

Ich rappelte mich hoch und rannte einige Schritte über den steinigen Hof, bis ich die Straße erreichte. Die Cops würden wohl noch einige Zeit damit verbringen, die Ruine zu durchsuchen, in der ich die letzten Tage und Nächte verbracht hatte. Ich sah den Gleiter in einiger Entfernung stehen. Der Fahrer hatte sich lässig im Sitz zurückgelehnt und paffte irgendein Halluzinogen. Ich hatte keine Angst, dass er mich entdecken könnte.

Andererseits war ich ziemlich sauer, dass sie mein Versteck aufgespürt hatten. Denn in der Stadt fand man wohl kaum noch so ein Quartier. Und dabei handelte es sich um eine reine Routinekontrolle! Wieso mussten sie da gerade auf diesen Sektor verfallen?

Scheiße! Und ich hatte so ein Glück gehabt. Sonst wurde man draußen oft von alten Pennern belästigt, oder irgendwelche Banden machten die Gegend unsicher. Hier war es wenigstens ruhig gewesen.

Es war stockduster. Die paar Straßenlampen funktionierten natürlich nicht. Entweder waren sie sowieso kaputt oder sie waren von allen möglichen Geschossen außer Betrieb gesetzt worden. Mond und Sterne schienen heute den gleichen Bedingungen zu unterliegen.

Ich packte mir den Beutel mit meinen Sachen über die Schulter und schlug die Richtung zur Stadt ein. Zumindest vermutete ich sie in dieser Richtung. Ich hatte Mühe, nicht über den herumliegenden Müll zu stolpern. Dass es auch noch andere Hindernisse gab, merkte ich schon nach fünf Minuten.

Ich fiel der Länge nach auf die Fresse. Die Straße hatte hier ein Loch. Ich verfluchte den letzten Krieg und mit ihm wieder mal die ganze verdammte Gesellschaft mit allem, was dazugehörte. Ich war mir nun auch gar nicht mehr sicher, dass ich den richtigen Weg zur Stadt eingeschlagen hatte. Die Außenbezirke kannte ich nur wenig, weil es gefährlich war, sich hier herumzutreiben.

Die letzten Tage hatte ich fast ausschließlich in der Häuserruine verbracht - mit lesen, Musik hören, zeichnen und überlegen. Zu essen hatte ich genug dabei. Die Dosen erwärmten sich von selbst. Ich konnte noch nicht abschätzen, ob mir die Zurückgezogenheit was gebracht hatte. Das würde sich wohl erst später zeigen.

 

Ich ging also noch vorsichtiger weiter. In die Stadt wollte ich schon, da ich absolut keine Lust hatte, mir die Nacht irgendwo draußen um die Ohren zu schlagen. Zum Glück war es einigermaßen warm und es regnete nicht, obwohl ich wusste, dass hier draußen die Wetterkontrolle oft ausfiel.

Ich wollte gerade meine Marschroute ändern, als ich in der Ferne die Lichter der Stadt entdeckte. Aber das beruhigte mich auch nicht besonders, im Gegenteil. Ich konnte die Stadt nicht ausstehen. Ich spürte den Lärm und die Hektik bis hierher. Aber ich hatte eben keine andere Wahl. Ich ging etwas schneller, damit ich nicht in letzter Minute noch auf irgendwelche unliebsamen Nachtwanderer traf.

Ich hatte die Brücke schon erreicht - ein Symbol der Trennung der Stadt von draußen - und die ersten Wagen zischten an mir vorbei, als ich von hinten einen Stoß bekam, der mich fast zum zweiten Mal in dieser Nacht zu Fall gebracht hätte.

»Haste Feuer?«, fragte mich ein Typ, als ich mich umgedreht hatte.

Ich verneinte. Ich hatte furchtbare Angst. Meine Beine schlotterten, und ich lehnte mich gegen das Brückengeländer. Dabei sah ich mich vorsichtig nach allen Seiten um, weil ich erwartete, dass er nicht allein gekommen war. Gleichzeitig schielte ich zum anderen Ende der Brücke, wo die ersten bewohnten Häuser standen, um eine Fluchtmöglichkeit auszuspähen.

»Hey, ich will dir nichts tun, Brother«, versuchte der andere mich zu beruhigen.

Er hatte ne komische Mütze auf und trug reichlich zerfledderte Klamotten. Sein Gesicht hielt er geschickt aus dem Licht der Brückenlampen, sodass ich kaum etwas erkennen konnte.

»Wo willst du hin?«, fragte er neugierig.

»In die Stadt«, antwortete ich einsilbig. Er schien mir nun doch harmloser zu sein, als ich zuerst angenommen hatte. Jedenfalls sah es nicht so aus, als wollte er mir eins über den Schädel ziehen.

»Okay. Ich komme ein Stück mit runter, obwohl ich die Gegend nicht gut ab kann.«

Ich fand, dass er einen merkwürdigen Slang sprach, den ich nicht richtig einordnen konnte. Seinen Vorschlag fand ich natürlich überhaupt nicht toll, und er wusste das auch, denn ich bemerkte, dass er grinste. Für einen kurzen Moment sah ich sein Gesicht, und es schien mir so verschwommen und undeutlich wie die ganze Gestalt. Ich brummte was vor mich hin und ging weiter, er neben mir her.

»Sei doch nicht so trottelig!«, fuhr er mich an. »Ich will ja nur mit jemand reden.«

»Ja, schon. Ich dachte nur erst, du wärst irgendein Typ mit dem Jolly in der Hinterhand.«

»Quatsch! Du kennst dich hier wohl nicht aus. Niemand geht hier allein auf Beute. Der andere könnte schließlich cleverer sein.«

Ich fasste allmählich etwas mehr Zutrauen, wobei auch mein Bedürfnis, endlich mal wieder mit jemandem zu sprechen, eine Rolle spielte. Ich erzählte ihm, dass ich nur drei Tage draußen gewesen war, und mir die Regeln hier tatsächlich ziemlich fremd waren.

»Da hast du ja ne ganze Portion Glück gehabt«, meinte er. »Wenn man draußen nicht Bescheid weiß, …«

Er hielt mich plötzlich fest. Wir waren am anderen Ende der Brücke angelangt.

»Ich geh nicht weiter«, sagte er aufgeregt. Ein andermal vielleicht. Ich hab heut kein Glückstag, siehst du …«.

Er fischte irgendetwas aus seiner Jackentasche und warf es in die Luft. Als er es wieder auffing, zitterte er.

»Negative Gefühle. Das wusste ich.«

Ich verstand zwar nichts, aber egal. Ich wusste nur, dass er umkehren wollte. Er nahm mich plötzlich in die Arme und drückte mich, dass mir fast die Luft wegblieb. Ich hatte das Gefühl, als würde ich in einen Strudel gerissen. Instinktiv wehrte ich mich, und er ließ mich ebenso schnell wieder los.

»Wir sehen uns!«, rief er.»Irgendwo, irgendwann …«

Und als ich noch erstaunt und starr wie ein Stück Beton dastand, verschwand er unter der Brücke.

Ich musste zugeben, dass mir die Begegnung ganz schön zugesetzt hatte. Um mich zu erholen, setzte ich mich auch für eine Weile unter die Brücke. Der Fluss war schon lange verpufft und hier gab's nur Gestank und Abfall.

Ich spürte, dass ich am liebsten mit dem Typ gegangen wäre und nun saß ich reichlich bedeppert hier herum. Es musste ungefähr Mitternacht sein. Meine Uhr war beim Sturz vorhin kaputt gegangen. Über mir hörte ich das Brummen der Wagen und Gleiter, die von der Kreuzung aus Hightown kamen. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren, geschweige denn das Erlebnis irgendwie verdauen. Ich rappelte mich also wieder auf, steckte ein Stück Plog zwischen die Zähne und marschierte weiter, dem bunten Lichterdschungel entgegen.

Love is a sleeper locked in a room

Waiting for someone to waken it

Holding a key for a heart that's immune

Frightened it's not really making it

Family - »Love is a Sleeper«

2.

Fast übergangslos landete ich in dem Gewirr von dröhnendem Lärm, schreienden Leuten und flimmernden Farben. Neben mir donnerte plötzlich der Lautsprecher einer Musikbox los, und die Leute um mich herum fingen an, wie wild auf der Straße herumzutanzen. Ich musste mich schon in den ersten Minuten bemühen, nicht total auszuflippen.

Ich hatte nämlich noch ein ganzes Stück zu laufen bis zu der Kneipe, die ich aufsuchen wollte. So richtig gemütliche, alte Kneipen gab es schon lange nicht mehr. Ich ging auch nur deswegen dorthin, weil sich da meist einige Leute aufhielten, die ich kannte. Ich hoffte, dort ein paar Freunde zu treffen und irgendwo einen Platz für die Nacht zu finden.

So schob und drängelte ich mich durch eine kreischende, wahnwitzige Menge, wurde einige Male von schwer bewaffneten Cops kontrolliert und konnte nur mit Mühe aufdringlichen Händlern und Frauen entgehen.

Ich hasste die Stadt!

Ich glaubte, dies war das Schlimmste, was die menschliche »Zivilisation« bisher durchgemacht hatte. Und das Übelste an der Sache war, dass man diesem Chaos, diesem gigantischen Unterdrückungsapparat nicht entkommen konnte. Früher hatte es immer Auswege gegeben, Fluchtmöglichkeiten, die von Minderheiten, Unterdrückten und Außenseitern mehr oder weniger genutzt wurden.

Ich hatte einige Bücher gelesen, verbotene natürlich, in denen Menschen in »demokratischere« Länder ausreisten, sich in die Natur zurückzogen oder im Untergrund in politischen Organisationen gegen Terrorregime kämpften.

Nichts von all dem war hier möglich. Nach dem letzten kurzen und schrecklichen Krieg waren nicht viele Menschen übrig geblieben - gemessen an der Bevölkerungsdichte, die vor dem großen Knall herrschte. Kaum hatten die Wissenschaftler und Politiker, die Bürokraten und Militaristen die ultimate Bombe entdeckt, gab es für sie nichts Eiligeres zu tun, als sie auch anzuwenden. Ein Bereinigungskrieg sollte wieder Platz für Investitionen machen. Der Vorteil: Die Bombe hinterließ keine Radioaktivität. Das Sterben war schmerzlos schnell, der Wirkungskreis enorm. Gegenden vom Ausmaß kleinerer Länder versanken in Sekundenschnelle in Schutt und Asche, Überlebende gab es kaum.

Der Krieg dauerte nur ein paar Tage. Dann wurde auch dem letzten hirnverbrannten, wahnsinnigen Faschisten klar, dass es keinen Zweck hatte, alle Menschen auszurotten. Denn über wen hätten sie dann das Netz der Ausbeutung auswerfen können?

Die Wirtschaft, die Technologie und der Verwaltungsapparat hatten durch den Krieg wenig Schaden genommen und erholten sich schnell, mit Ausnahme der »unbedeutenden« Staaten, die gleich völlig von der Landkarte ausradiert worden waren. Die neuen/alten Machthaber verstanden es, die alte Wirtschaftsordnung, das alte Gesellschaftssystem fast übergangslos fortzusetzen - noch perfekter und brutaler, als es vorher schon gewesen war. Sie hatten es dadurch leicht, weil sie während des Krieges alle Widerstandsgruppen systematisch zerschlagen hatten.

Das Leben jetzt konnte man entfernt mit der Welt, die Orwell in 1984 beschrieb, vergleichen, obwohl es gravierende Unterschiede gab. Die Überwachung und das gesamte Sicherheitssystem der Stadt jedenfalls funktionierten genauso, nur unauffälliger.

1984 stand natürlich auch auf der Liste der staatszersetzenden Bücher, und ich hatte Glück gehabt, dass ich wenigstens Bruchstücke hatte lesen können. Einem neutralen Beobachter wäre dort die Unterdrückung sofort aufgefallen, während die Stadt den Eindruck vermittelte, als lebten ihre Bewohner in Freiheit.

In der Tat wurde niemand gezwungen, einen erniedrigenden, dreckigen 10-Stunden-Tag in einer gigantischen Fabrik zu arbeiten. Doch dann gab's auch kein Geld, und damit auch nicht all die hübschen kleinen und großen Sachen, die man sich davon kaufen konnte. Und was anderes als kaufen und Geld ausgeben gab es nun mal nicht. Höchstens das Konsumieren des täglichen Tri-Di-Programms.

Das Leben stellte sich nicht so eintönig grau dar wie bei Orwell - es war viel bunter, schreiender. Und somit auch weniger leicht zu durchschauen. Von Kind auf wurden jedem eigene, kritische Gedanken oder Formen von Eigeninitiative ausgetrieben. Geschichtsfälschung und Medien spielten dabei eine große Rolle. So wurde praktisch das Leben vorprogrammiert, obwohl es aussah, als könnte jeder tun und lassen, was er wollte. Nur wenige hatten die Möglichkeit,diese Fassade zu durchschauen, sei es durch Zufall oder günstige Umstände.

Wer kam schon gegen eine sich überschlagende Vergnügungsindustrie, eine an allen Ecken ins Auge stechende Werbung und Mode, ein ewiges Durcheinander von Konkurrenz, Neid, Hass und Aggressionen an? Dies alles war von den Regs offiziell sanktioniert, Auswüchse und Widerstand wurden ohne Rücksicht restlos ausgetilgt.

Auswege gab es nicht. Hier, im ehemaligen Südengland, existierte nur diese einzige riesige Stadt - rundherum erstreckte sich Steinwüste,Unfruchtbarkeit und Leblosigkeit. Allein die Regs und ihre Vertrauten hielten Kontakt zu anderen Städten und Erdteilen. Und es gab meines Wissens keinen Flecken auf der Welt, der sich wesentlich von dem beschriebenen Bild unterschied. Und falls dies nur Propaganda war, konnte man es nicht überprüfen.

Bei all diesen immer wiederkehrenden Gedanken hatte ich fast im Traum die besagte Kneipe erreicht. Die Flügel der breiten Tür standen weit offen, und aus dem knallgrünen Gebäude drang ein Schwall von lauten Worten und beißendem Qualm.

Ich spähte erst mal vorsichtig hinein, um mich an das Dämmerlicht und die Rauchschwaden zu gewöhnen. Es stank nach Drogen, Schweiß und Zigaretten. Ich quetschte mich durch einen Wust von gestikulierenden, schreienden Menschen, Stühlen, Tischen und Glücksspielautomaten. Irgendjemand drückte seine Zigarette fast in mein Auge, ein anderer leerte sein Bier auf meiner Hose aus. Schimpfend und schwitzend entdeckte ich endlich im Hintergrund an einem kleinen Tisch einige bekannte Gesichter und schlängelte mich zu ihnen durch.

»Hey, Speedy!« rief jemand, und ich erkannte Yate, einen schon etwas älteren Saufbruder.

«Hallo!«, sagte ich müde und schob mich mühsam neben ihn auf die abgeschabte, rote Plastikbank.

Ich stellte den Beutel zwischen meine Füße - aus Vorsicht, falls jemand die Absicht hatte, ihn unauffällig mitzunehmen.

Die Mechano-Bedienung brachte mir ein großes, gepanschtes Bier, das mich erst mal einige Zeit in Anspruch nahm.

»Wo hast du dich rumgetrieben?«, fragte Cab.

Er beugte sich zu mir herüber, sodass ich sein tätowiertes Gesicht bald mit der Nase berührte.

»Ich war ne Zeit draußen.«

»Was?! Hast du ne Macke? Was hast du denn da gesucht?«

»Musik gehört, gelesen, nachgedacht …«

»Schön blöd!«, meckerte Yate. »Hast Glück gehabt, dass du mit heilen Knochen wieder hier gelandet bist.«

Das »Gespräch« fing an, mich total zu nerven. Aber welche Leute hatte ich hier sonst erwartet? Ich hielt also den Mund und versuchte mich etwas zu entspannen. Doch die ganze Hektik hier ließ auch das nicht zu. Yate und Cab beschäftigten sich wieder mit sich selbst, ihren Motorrädern, Glücksscheinen, Tri-Di-Filmen und Doog-Stangen.

Dann hielt mir jemand von hinten die Augen zu.

 

»Lucky?«, riet ich vorsichtig.

Er lachte leise, zog mich hoch und nahm mich in die Arme. Und plötzlich fiel das alles von mir ab, die Unsicherheit, die Angst, die Traurigkeit und die Müdigkeit. Ich konnte mich nur noch freuen, brachte sogar ein Lachen zustande. Ich hielt ihn krampfhaft fest und versank beinahe in seiner Umarmung. Dann drängte sich jemand anders an uns. Flie, die große, warme Flie!

»Schön, dass du wieder da bist«, sagte sie leise und küsste mich auf die Nase.

»Ich freu mich auch. Aber dass ihr hier seid …«

»Reiner Zufall«, grinste Lucky. »Wir wollten nur ein paar Knollen X abstauben. War aber nix.«

»Kommst du mit zu uns?«, fragte Flie spontan.

»Sofort.«

Ich spülte den Rest vom Bier hinunter und folgte den beiden.

Zurück ließ ich versoffene, langweilige, angepasste Typen wie Yate und Cab, aber auch Stucker, der still in einer Ecke saß, sodass ich ihn erst gar nicht bemerkt hatte und mich mit traurigen Augen musterte. Ich konnte es nicht ändern. Ein Gespräch mit ihm lag im Moment für mich nicht an.

An der Tür schloss sich uns noch eine Frau an, die auch nur mal reingeschaut hatte. Ich kannte sie nicht. Sie schien aber eine Freundin von Lucky und Flie zu sein.

Es war ziemlich spät geworden oder auch nicht - wie man's nimmt. Trotzdem war es dank der überwältigenden Beleuchtung auf den Straßen taghell. Wir versuchten, so gut es ging, dem Trubel auszuweichen und nahmen dafür auch einige Umwege in Kauf.

Flie und die andere Frau unterhielten sich lebhaft. während Lucky und ich schweigend nebeneinander hergingen.

Ich wunderte mich, dass er so ruhig war, denn gewöhnlich alberte er meist etwas herum oder versuchte ein Gespräch anzufangen. Schließlich fragte ich ihn, was los sei.

»Nicht einfach«, sagte er nachdenklich und kniff die Augen zusammen.»Ich fühle mich nur in letzter Zeit so komisch. Aber ich weiß nicht, woran das liegt. Ich bin unruhig und nervös und finde keinen Grund dafür.«

Er hörte wieder auf zu sprechen, und ich wusste auch nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich hatte in den vergangenen Wochen viel zu wenig Kontakt zu ihm gehabt, sodass ich auch keine Vermutungen anstellen konnte, warum er unruhig war. Und dann erzählte er auf einmal was ganz anderes.

»Neulich bei der Arbeit«, fing er an - er arbeitete jetzt schon fast ein Jahr in der größten Bibliothek der Stadt, der Job war vielleicht ne Ecke besser wie so mancher andere - »du weißt ja, was ich mache, und dass ich mich nie so für die Bücher, die da rumstehen, interessiert habe. Ich bin eben der Meinung, dass das ganze Gewäsch niemandem helfen kann. Heutzutage werden kaum noch Bücher geschrieben außer Krimis, Heldengeschichten, Pornos und Love Stories. Ich habe früher einiges von dem alten Zeug konsumiert, aber ich finde, es ist einfach für heute nicht mehr interessant oder nicht anwendbar.«

Er war wieder ne Weile ruhig und ich drängte ihn nicht, weiterzumachen. Ich fand alles nur ziemlich unzusammenhängend und verstand noch nicht, worauf er hinauswollte, oder ob er überhaupt auf etwas hinauswollte. Aber irgendwas musste ihn ganz schön aufgerüttelt haben. Er wirkte direkt etwas hilflos auf mich.

»Also, pass auf!« Plötzlich sprudelte er los. »Neulich kam ein Typ bei uns rein, so kurz vor Mittag. Er ging sofort auf mich zu, obwohl Louis viel näher bei ihm stand. Er fragte mich etwas unbeholfen nach einem ganz bestimmten Buch. Also ehrlich, ich hatte weder Titel noch Verfasser jemals vorher gehört. Ich ging also rüber zum Computer und fragte in der Zentralkartei nach, aber das war auch negativ. Ich sagte dem Typ also Bescheid und fragte mich im Stillen, woher er den Titel hatte oder ob das vielleicht ein Index-Buch war. Da griff der plötzlich ins Regal und holte ein Buch raus. Er zeigte es mir, und es war genau das Buch, das er haben wollte.«

«Was?«, machte ich ungläubig. »Das gibt es doch gar nicht.»

«Tja, das dachte ich auch. Aber er hielt es mir hin und machte mich an, dass ich es nicht rausgesucht hätte. Ich erklärte ihm, dass das Buch nicht in der Kartei war, und fragte ihn, wie er es gefunden hätte. Er grinste mich ein bisschen blöd an, und weißt du, was er dann machte? Er hielt mir das Buch hin und sagte, ich sollte es mir mal gut durchlesen. Dann haute er wieder ab.«

»Ist der bekloppt?« Ich konnte das nicht begreifen. »Erst gibt er sich so viel Mühe, an das Buch ranzukommen und dann gibt er es dir.«

»Was meinst du, was ich dachte. Ich stand echt da wie ein Hampelmann.«

»Merkwürdig. Muss ich schon sagen. Hast du das Buch denn eigentlich gelesen?«

Jetzt wurde er ganz unsicher. »Ja, ich bin gestern damit fertig geworden. Aber ich bin nicht ganz durchgestiegen. Ich will es noch mal lesen.«

»Muss ja interessant sein, wenn du schon was liest und dann gleich doppelt.«

»Weißt du, es ist einfach ne Beschreibung. Ne Beschreibung, wie es auf der Welt heute aussieht und was aus ihr mal wird.«

»Das gibt es ja gar nicht«, wiederholte ich mich. »Bestimmt ein verbotenes Index-Buch.«

»Okay. Ich kann es dir ja zeigen, wenn wir oben sind.«

Wir waren nämlich inzwischen bei dem alten, grauen Wohnblock angekommen, in dem Flie, Lucky und noch fünf andere Leute zusammen wohnten. In den zwei anderen Wohnungen lebten ebenfalls Wohngemeinschaften.

Flie stieß die Tür auf. Es war stockduster. Wir stolperten im Eingangsbereich über ein Chaos von Abfall und Müll.

»Da hat schon wieder jemand den Müll umgekippt«, schimpfte Flie. »Der wird auch schon seit Wochen nicht mehr abgeholt.«

Der Block war nicht an das automatische Versorgungs- und Verwertungsnetz der Stadt angeschlossen. Normalerweise wurde der Müll regelmäßig abgefahren.

Auch das Licht funktionierte nicht, und wir tasteten uns im Dunkel die steinerne Treppe rauf.

»Ich glaube, die wollen uns hier vergraulen«, knurrte Flie.

»Ach was, die wollen nur testen, was wir aushalten können«, widersprach Lucky. »Sie haben uns hier besser unter Kontrolle als auf der Straße. Aber was anderes - wir könnten mal versuchen, jemand mit Wagen aufzutreiben, der uns den Dreck wegfährt.«

»Kennst du etwa jemand, der sich nen Wagen leisten kann?«, fragte Flie ironisch.

Sie öffnete die Wohnungstür und wir betraten einen kleinen Flur. Links lagen Bad und automatische Küche, rechts ging es zu den Zimmern. Alles war eng und niedrig. Ab und zu tropfte das Wasser von den Wänden, und es quietschte und knarrte bei jedem Schritt. Es hatte auch keinen Zweck, hier noch großartig was zu renovieren. Hier war wirklich alles zu spät und die Leute hatten gerade genug Bucks, um die notwendigsten Reparaturen durchführen zu können.

Wir schlichen durch Bowlers Zimmer - er schlief schon - dahinter lag Flies. Sie zündete schnell ein paar Kerzen an, die dem Raum ein warmes, gemütliches Licht gaben. Hinten links lagen mehrere bezogene Matratzen mit einer bunten Decke auf dem Boden - Flies Bett -, davor lag ein weicher, brauner Teppich. Eine VID-Kompakt-Anlage, einige persönliche undefinierbare Gegenstände und eine wuchtige Holztruhe mit ihren Klamotten füllten das winzige Zimmer ganz aus.

Wir setzten uns auf den Teppich und Flie stellte leise Musik an. Sie setzte sich mir gegenüber. Ihr langes, schwarzes Haar fing das Licht einer Kerze ein. Ich kannte sie schon lange, länger als Lucky oder Stucker. Und ich war vor einigen Jahren ne ganze Zeit mit ihr zusammen gewesen. Noch bis vor Kurzem hatten wir manchmal Tage und Nächte gemeinsam verbracht, bis ich mich von allem zurückzog.

Lucky war vor ungefähr vier Monaten aufgetaucht und einer ihrer besten Freunde geworden - und einer von meinen, wenn nicht überhaupt der beste, einzige. Er war hier eingezogen, nachdem die vorige Bewohnerin ihr Leben durch einen Sprung von der grünen Mauer beendet hatte. Ich hatte sie nicht gekannt, aber die Nachricht von ihrem Tod rief in mir wieder all die Gedanken über Selbstmord hervor, die ich schon tausendmal im Schädel gehabt hatte. Es führte zu nix, außer dass ich einige Tage wie besoffen in den Straßen rumhing. Im übrigen war die grüne Mauer natürlich nicht grün. Sie war nur von irgendwelchen Leuten so genannt worden, um an Gras und Pflanzen zu erinnern. Ich hatte noch nie Gras gesehen und ich glaubte auch nicht, dass es noch welches gab.