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Aus der Reihe: Andere Welten #4
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»Ihr seid ein wahres Wunder,« dankte ich den Helfern.

»Nicht der Rede wert,« meinte einer der beiden. »Mit dem Renen sieht es schlimmer aus. Wir müssten es länger in Ruhe behandeln. Am besten in einer Umgebung, die ihm zusagt. Sonst kommt es nie wieder in Ordnung.«

Sucherin hatte sich inzwischen aufgerichtet. Sie zitterte aber immer noch am ganzen Körper.

»Da habe ich mir wohl etwas viel zugemutet«, stöhnte sie. »Immerhin haben wir es geschafft.«

Ich nahm sie in die Arme. »Aber wie hast du das geschafft?«

Sie drückte sich an mich. »Aber du kennst das doch. Es war sozusagen ein überdimensionaler Nullschritt.«

Ich hatte mir zwar so etwas gedacht, konnte es aber zunächst nicht glauben. Allein die Entfernung: aus einer Erdumlaufbahn direkt nach Neu-Ing! Kein Wunder, dass sie zusammengeklappt war. Noch dazu unter Mitnahme zweier »Leute«. Das erklärte natürlich auch mein Unbehagen während des unbegreiflichen Vorgangs.

»Und weißt du auch, wo wir sind?«

»Ich hatte mein altes Versteck angepeilt. Es muss ganz in der Nähe sein. Für einen exakten Treffer war die Entfernung wohl zu groß.«

»Warum sind Lucky, Sonnenfeuer und Kortanor nicht hier?«

»Sie befanden sich außerhalb meiner Reichweite und so viele Personen kann ich auch nicht auf einmal transportieren. Tut mir leid.«

»Das ist doch nicht deine Schuld«, gab ich automatisch zurück. Ein Wunder, dass wir es überhaupt geschafft haben.«

Trotzdem machte ich mir natürlich Sorgen um die drei. Sie hatten ja kaum eine Chance gegen die Übermacht der Soldaten. Schaudernd dachte ich an Luckys Furcht vor einem neuen Bergotos.

Sucherin schien meine Gedanken zu erraten. »Ich werde sehen, was sich machen lässt. Vielleicht kann ich später ihre Auren anmessen. Im Moment bin ich jedoch zu schwach, um weitere Maßnahmen treffen zu können. Am besten, wir suchen mein Versteck auf und ruhen uns eine Weile aus. Es wird zwar eng werden, aber etwas besseres werden wir so schnell nicht finden.«

Da hatte sie zweifellos recht, ich fürchtete sowieso jede Minute eine Entdeckung und konnte es auch noch immer nicht recht fassen, dass wir den Soldaten entwischt waren. Mit meiner Hilfe stand Sucherin auf. Noch immer hatte sich ihr Äußeres nicht ganz gefestigt. Zum wiederholten Mal fragte ich mich, wie wohl ihr richtiger Körper aussah, oder ob sie vielleicht überhaupt keinen besaß.

Wir hatten Glück gehabt, dass wir bei Nacht angekommen waren. Außerdem war es mir wesentlich lieber, in Neu-Ing zu sein als auf den Südlichen Inseln. Obwohl ich dort über ein Jahr verbracht hatte, kannte ich mich hier doch wesentlich besser aus. Auf den Inseln wäre es mir schon aufgrund meiner Hautfarbe schwer gefallen, irgendwo unterzutauchen. Und diese Erkennungsmöglichkeit mit den Marken hatte mir auch nie gefallen. Aber wer wusste, was hier auf mich wartete?

Wir fanden Sucherins »Stützpunkt« relativ schnell, da sie ihn irgendwie aufspüren konnte. Er lag ganz in der Nähe, nur ein paar Schritte entfernt. Wir brauchten uns auch mit dem Renen nicht abzuschleppen, denn die Helfer erzeugten eine Art Antigravitationsfeld, auf dem sie das Wesen vorsichtig dirigierten.

Das Problem bestand darin, in das Versteck hineinzukommen. Es lag nämlich einige Meter unter dem Erdboden, und kein Mensch konnte von außen einfach so eindringen. Es war nur per Nullschritt zu erreichen. Und dazu war Sucherin – selbst über eine so kurze Distanz – noch nicht wieder fähig.

Wir mussten also in ständiger Angst vor einer Entdeckung bis zum Morgengrauen warten. Ich war vor Erschöpfung halb eingenickt, obwohl ich mir vorgenommen hatte, wach zu bleiben.

Mein Helfer weckte mich ganz behutsam und allmählich kam er mir vor wie ein etwas unwirklicher Beschützer. Wir machten uns bereit, damit wir verschwunden waren, bevor die ersten, die auf dem Weg zur Arbeit waren, uns sehen konnten.

Sucherin hatte sich einigermaßen erholt und meinte, die erneute Anstrengung verkraften zu können. So gelang das Vorhaben auf Anhieb, diesmal ohne Schwindel- und Übelkeitsgefühl.

Etwas benommen tauchten wir in Sucherins Versteck wieder auf.

Never wanted to be like everybody else

But now there are so many like me sitting on the shelf

They sold us a dream but in reality

It was just another factory

The Kinks - »Working at the Factory«

3.
DER ERSTE STEIN

Barr Corper, der Direktor der United Steel Company-Filiale, klappte den letzten Aktendeckel zu und desaktivierte den Mini-Comp. Nicht dass er in den letzten Stunden noch viel zu tun gehabt hätte, aber er wusste nicht, womit er sich sonst beschäftigen sollte.

Dieser Titel ist ein Hohn, dachte er zum tausendsten Mal. Direktor – aber was für einer! Die Zweigstelle der USC befand sich schließlich nicht irgendwo, sondern auf dem Mars! Abgeschoben hatten sie ihn, nichts weiter! Aber was hätte er machen sollen? Auf der Erde wäre ihm nach den letzten Misserfolgen nur der Rücktritt geblieben. Hier hatte er einen höheren Posten, mehr Geld – und tausende Kilometer Einöde, in die sich niemand hinauswagte.

Das nach langen Forschungen zur Bearbeitung freigegebene Gebiet lag unter Schutzkuppeln und auf Jahre hinaus war eine Vergrößerung nicht vorgesehen. Wen kümmerten also die Staubwüsten und Sandstürme?

Corper störte es. Das Gefühl des Eingeschlossenseins wich in den langen Jahren nicht von ihm, und immer noch hatte er Angst vor einer Katastrophe, die ihn ungeschützt dem Mars aussetzen würde.

Woran sollte er auch sonst denken? Hier gab es keine Villen oder Paläste, keine Vollautomation oder exklusiven Etablissements, nur Dreck und künstliche Atemluft, eine Ansammlung grauer Fertighäuser, die sich Steel-City nannte und natürlich Erze und Mineralien. Deshalb existierte dieses ganze Projekt ja. Drei Jahre bereits. Und die Erde benötigte die Rohstoffe mehr denn je.

Oder sollte er an die Arbeiter in den Bergwerken denken, die sich kaputt schufteten, um wenigstens ihr Leben zu erhalten? Alles Verbrecher, Terroristen und Glücksritter, die nur durch eine gut ausgerüstete Militär-Einheit in Schach zu halten waren. Corpers Blick schweifte über seinen stählernen Schreibtisch, die wenigen 3-D-Fotos (paradiesische Traumlandschaften) an den Wänden, bis er am Fenster hängenblieb. Von hier aus dem 2. Stock des Verwaltungsgebäudes sah er direkt zum Vergnügungsviertel hinüber. Ein Dutzend Barracken, in denen die Minenarbeiter ihren Lohn verspielen und versaufen konnten (jedenfalls der Teil von ihnen, der überhaupt Lohn bekam). Natürlich gab es auch Drogen aller Art, Fernsehwände und natürlich Frauen. Außer Prostituierten lebten hier gar keine Frauen und auch diese wurden mit jedem Nachschubtransporter ausgewechselt. Wer hielt es schon länger als ein paar Monate hier aus?

Nun, er war von Anfang an dabei gewesen. Und er musste zugestehen, dass er doch recht stolz darauf war, was er hier erreicht hatte. Er hatte das Letzte aus dem Gesindel und den Maschinen rausgeholt. Natürlich war es dabei zu Unglücksfällen gekommen, aber um solche Leute war es nicht schade. Und die Produktion war kontinuierlich angestiegen und damit nicht zuletzt auch seine Prämie. Das hatte er immerhin geschafft und nichts anderes war seine Aufgabe.

Die Uhr zeigte 22 Uhr Erdzeit, das Ende der 2. Schicht. Die Transportkarren würden in Kürze ein Heer müder, schwitzender Bergarbeiter hierher verfrachten. Ein paar von ihnen würden sich noch einige Zeit in den Kneipen rumtreiben, aber die meisten würden gleich in ihre Betten sinken.

Corper ging unschlüssig auf und ab. Er wollte diesen Männern nicht begegnen, hatte aber hier nichts mehr zu erledigen.

Er musste zumindest den Zeitpunkt abwarten, bis der größte Schub von der Straße war. Dann würde er nach Hause in seine Privaträume gehen. Dieser Tag würde genauso deprimierend enden wie alle vorherigen.

Als er sich endlich entschloss, das Licht auszuschalten, flog etwas klirrend durch die Scheibe. Verblüfft hielt Corper schützend die Hände vor sein Gesicht. In dem Büro wurde es sofort merklich kühler, obwohl das Loch in der Scheibe nicht sehr groß war.

Als nichts weiter geschah, hob Corper vorsichtig den Gegenstand auf, der neben ihm auf dem Boden lag. Es war ein kleiner aber fester Stein, wie er in den Minen oft zu finden war. Um den Stein war ein Blatt Papier gewickelt, auf das jemand in krakeliger Schrift geschrieben hatte:

SCHLUSS MIT DER ELENDEN ARBEIT!

Look at all the losers and the mad eyed gazers

Look at all the loonies and the sad eyed failures

They’ve given up living ’cos they just don’t care

So take a good look around

The misfits are everywhere

The Kinks - »Misfits«

4.
AUSFLUG

Das Mädchen war nicht mit einer bestimmten Aufgabe oder Absicht in diese Gegend gekommen. Sie ließ sich einfach von ihrem Gefühl treiben, so wie sie es immer machte, wenn sich überhaupt Erfolg einstellen sollte.

Sie achtete dabei nicht mal allzu sehr auf ihre Umgebung. Zum Glück war es später Morgen und um diese Zeit waren nicht viele Leute unterwegs. Selbst hier in der Nähe des Stadtzentrums traf sie nur auf Frauen, die meist einkaufen waren und sich dabei die Lebensmittel noch persönlich in den Supermärkten holen mussten, weil ihre Wohnungen nicht den Standard hatten, dass sie an das Computer-Versorgungsnetz angeschlossen waren. Sonst sah sie nur ältere Leute, die nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Sie hatten ihr Leben lang gearbeitet und der plötzliche Mangel an vorgeschriebener Arbeit hatte sie orientierungslos und ohne Sinn für ihr weiteres Leben zurückgelassen. Viele von ihnen ließen sich freiwillig einschläfern, weil sie der Überzeugung waren, weder sich noch der Gesellschaft zu nutzen.

 

Fußgänger waren tagsüber sowieso selten unterwegs. Die Freizeit- und Konsumindustrie stellte alles für den Hausgebrauch zur Verfügung, so dass niemand gezwungen war, einen Fuß auf die Straße zu setzen. Jedenfalls nicht in diesem Teil von Neu-Ing.

Das Mädchen schüttelte ärgerlich den Kopf. Sie sollte sich von solchen Gedanken nicht ablenken lassen. Denn sie musste sich trotzdem vorsehen. Der Kern von Neu-Ing war für Bettler, Säufer, Drop-Outs, fliegende Händler und anderes Gesindel absolut gesperrt. Zwar gehörte sie nicht unbedingt in eine dieser Kategorien, aber sie hatte keine Lust, sich von einem Cop ausfragen zu lassen, warum sie nicht in der Schule war.

Sie vermied also so gut es ging die Mini-Spionkameras und andere Suchgeräte und drang auch nicht direkt ins Zentrum ein.

Auf der anderen Seite freute sie sich, dass ihr Instinkt sie hierher geführt hatte. Die Luft war hier, fernab von den Industriezentren, einigermaßen gut zu atmen und es gab hier einige alte Bauwerke aus der Zeit vor dem großen Krieg, die sie immer wieder gern betrachtete. Auch der Reinigungsdienst funktionierte hier noch, so dass sie nicht dauernd durch knöcheltiefen Abfall waten musste.

So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihre Gedanken heute einfach nicht zusammenhalten. Schulen erinnerten sie daran, dass sie noch vor knapp zwei Jahren in einem dieser bunt bemalten, aber nichtsdestotrotz sterilen Jahrgangszimmer gesessen hatte zusammen mit ungefähr 70 anderen Jungen und Mädchen. Halb umschlossen von einer durchsichtigen Plastiktrennwand hatte sie wie alle unter ihrem Kopfhörer vor dem Demopult gehockt und auf die seelenlose Stimme des Lehrcomputers gelauscht. Zum Glück hatte sie ziemlich weit hinten gesessen, und wenn sie genug hatte von dem sinnlosen Geplärre, hatte sie die Kopfhörer einfach ein Stück verschoben und mit anderen, die ähnlich verfuhren, heimlich Zettel ausgetauscht. Das war ihre einzige direkte Kommunikationsmöglichkeit untereinander. Andere Kommunikationsmittel waren hier nicht erlaubt. Mit halbem Ohr hörte sie dann noch, wenn eine Frage an sie gerichtet wurde und antwortete jedes Mal mit dem stereotypen: »Weiß ich nicht.« Natürlich waren sie und einige andere dadurch immer weiter heruntergestuft worden, aber der Idioten-Computer hatte nie gemerkt, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Schließlich wollte man sie zu einer Psychologin schicken, einem Menschen diesmal. Sie hatte sich mit Händen und Füßen gesträubt, und da ihren Eltern sowieso alles egal war, konnte sie sich damit auch so lange durchsetzen, bis zum wiederholten Mal die seltsamen Phänomene auftauchten: sie hörte ab und zu Stimmen oder sah Bilder oder Szenenabläufe unbekannter Ereignisse. Manchmal waren es auch nur plötzliche Eindrücke oder Ideen, die sie überfielen. Soweit sie es beurteilen konnte, steckte kein Schema oder Muster dahinter. Manchmal passierte wochenlang nichts und dann hatte sie diese Visionen tagelang hintereinander. Zuerst hatte sie sich davor gefürchtet, bis sie einige Male Zusammenhänge zu ihrem Leben herstellen konnte, die ihr weiterhalfen.

Als sie dummerweise dem Schuldirektor bei einer Unterredung wegen ihrer schlechten Noten davon erzählte, wollte dieser sie aufgeregt gleich zu einem Spezialisten schicken. Sie hatte nicht angenommen, dass man ihr glaubte, und hatte die Sache nur als Ausrede benutzen wollen, aber jetzt bekam sie wirklich Angst, denn in einer der Visionen hatte sie sich selbst in einer Art riesigen Operationssaal gesehen mit maskierten Ärzten um sie herum.

Daraufhin lief sie einfach davon. Sie nahm an, dass man sie schnell aufgespürt hätte, als sie so hilflos und verängstigt durch die Außenbezirke wanderte. Aber wahrscheinlich hatten ihre Eltern die Suche nach ihr nicht sehr konsequent vorangetrieben, Hauptsache sie konnten sich ihr Gehirn zukleistern. Und auch der Direktor hatte wohl keine Meldung gemacht und sie schnell wieder vergessen.

Wie sie dann zu den Sensos gekommen war, war eine andere Geschichte, aber dieser Gedanke führte sie wieder in die Gegenwart und zu ihrem Versuchsspaziergang hier.

Sie und einige andere hatten nämlich den Verdacht, dass die Regs irgendeine große Schweinerei vorhatten. Und die vagen Spuren, die sie mühsam gesammelt hatten, führten irgendwo in diese Gegend. Sie war zwar erst neun Jahre alt, aber für sie und die anderen Sensos galten andere Maßstäbe und sie wusste genau, worauf es ankam. Die Erwachsenen machten es ihr ja auch immer wieder überdeutlich klar. Das ging ihr auch ziemlich auf den Geist, denn sie wusste, dass dahinter nur die Unsicherheit der Erwachsenen steckte, dass sie Kinder mit in ihre Sache hineinzogen. Dabei ging es sie alle an.

Ab und zu kroch jetzt ein Gefühl von intensiver Spannung in ihr hoch, aber es verschwand jedes Mal so schnell, wie es gekommen war. Das Shining, wie sie es genannt hatten, ließ sich nicht kontrollieren – jedenfalls nur in Ausnahmefällen.

Sie sah sich genauer um, um festzustellen, wo sie sich genau befand. Der Straßenname Park Avenue sagte ihr nichts, sie wusste nicht mal, was ein Park war. Auf beiden Seiten der Straße erstreckten sich riesige Wolkenkratzer aus glasfiberartigem Material. Die meisten von ihnen waren in sich abgeschlossene Wohn- und Lebenseinheiten mit angeschlossenen Freizeiteinrichtungen, Warenlagern, Tri-Di-Kinos, Kneipen, Discos, Schwimmbädern und Versorgungspools. Ihre Bewohner arbeiteten meist dort auch in irgendwelchen Verwaltungsbüros oder der Computerüberwachung. Es ging das Gerücht um, dass einige dieser Leute ihre Wohneinheit noch nie verlassen hatten – und auch noch stolz darauf waren.

Weiterhin gab es hier am Ende der Straße einige Forschungsinstitute der Universität und die alte Bibliothek. Diese hätte sie noch gern aufgesucht, aber ihr wurde plötzlich doch übel in dieser protzigen Gegend, die nicht für sie bestimmt war und in der sie sich nicht auskannte.

Sie wartete noch einige Minuten, ob sich die Spannung wieder aufbauen würde, und als das nicht der Fall war, machte sie sich auf den Rückweg. Die Bibliothek hatte ihr den Weg gewiesen.

Neben ihr schwirrten einige Gleiter und Schwebewagen vorbei. Die ersten Menschen, die am wenigsten arbeiten mussten, waren schon auf dem Heimweg. Später würde es selbst hier zu einem Verkehrschaos kommen. Dort, wo sie wohnte, gab es das praktisch dauernd, ob es sich um die stinkende immer gerammelt volle U-Bahn oder die anderen öffentlichen Verkehrsmittel handelte, welche die Menschen in die unterirdischen Fabriken und von dort wieder nach Hause brachte. Der Lärm war den ganzen Tag unerträglich.

Eine Stunde Fußweg hatte sie noch vor sich, doch sie war nichts anderes gewohnt. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer verschlissenen Jacke und ein kleines Lächeln umspielte ihr schmutziges Gesicht, als sie daran dachte, dass sie nun doch nicht um das tägliche Training mit ihren Freundinnen und Freunden herumkommen würde.

Dope me up on women and credit cards

Promise x-ray vision and fancy cars

The table’s set for the bourgeoisie

Better get in line with your dinner tray

‘cause when it’s all ran out and it’s just you left

With the nut job swigging his crystal meth

And there’s a constant ring of machinery

Is there a place for me in history?

Kasabian - »Shelter from the Storm«

5.
NEU-ING

Mir war sofort klar, dass wir auch hier nicht lange bleiben konnten. Jedenfalls nicht alle. Es war einfach zu klein und eng. Sucherins Versteck war eben nur für eine Person eingerichtet. Und sie wirkte auch selbst etwas hilflos, wie wir uns hier so drängelten.

Sie räumte einige Gegenstände beiseite und verschob hier und da etwas an der spärlichen Einrichtung, damit wir wenigstens das Rene einigermaßen gut unterbringen konnten.

Die ganze Höhle schien von innen heraus immer etwas zu flimmern, als könnte ich die Sachen nicht richtig mit meinen Augen erfassen. Alles verschwamm immer wieder vor meinem Auge.

Sucherin bemerkte meine Irritation und legte mir den Arm um die Schultern: »Du brauchst dich deswegen nicht zu ängstigen. Dieser Effekt, den du wahrnimmst, entsteht aus der besonderen Kombination meiner Psyche mit der technischen Materie dieses Raumes.«

Ich nahm sie in meine Arme und drückte sie an mich.

»Du glaubst doch nicht, dass ich das verstehe.«

»Dummkopf,« flüsterte sie zurück und küsste mich.

Einer der Helfer räusperte sich – es klang jedenfalls wie das Äquivalent eines Räuspern.

»Nicht, dass ich Liebende stören will, aber es werden dringend einige Sachen benötigt, die für das Rene lebensnotwendig sind.«

»Klar«, sagte ich, »wir selbst benötigen ja auch einiges.«

»Vor allem Informationen, wie es draußen aussieht«, bestätigte Sucherin. »Lebensmittel habe ich noch etwas in konzentrierter Form hier. Das dürfte fürs erste kein Problem sein. Aber was braucht das Rene?«

»Vor allem Kälte«, erklärte der andere Helfer. »Das Klima hier wird es auf die Dauer schädigen und schließlich töten. Und Kälte könnte den Heilungsprozess sehr beschleunigen.«

»Hm«, machte Sucherin, »vielleicht können wir etwas zusammenbasteln, das zumindest einen Teil des Verstecks in einen kälteren Zustand versetzt.«

»Dann wird es ja noch enger für uns«, gab ich zu bedenken.

»Ja, wir müssen uns schnell nach was anderem umsehen. Hier können wir nicht einmal zu dritt liegen.«

»Wie gut, dass wenigstens wir keinen Platz wegnehmen«, gab ein Helfer seinen Senf dazu.

»Ich hab schon verstanden«, sagte ich resigniert. »Ich muss nach draußen und einen Unterschlupf suchen. Aber erst mal will ich etwas essen und trinken, sonst tragen mich meine Füße keine 10 Schritte.«

Sucherin kramte ein Stück farbloser Kaumasse hervor. Igitt, dachte ich, aber unsere Raumfahrer-Nahrung hatte ja in schlechten Zeiten auch so ausgesehen.

»Außerdem hab ich hier noch eine Menge Geld«, verriet Sucherin. »Du kannst ja mal sehen, ob es noch etwas wert ist.«

Als Beobachter musste sie damals gut ausgerüstet gewesen sein, ging es mir durch den Kopf. Auch die Luftzufuhr schien ständig frisch zu sein. Die Geldscheine allerdings waren mindestens 10 Jahre alt und schon damals hatten die meisten Leute per Kreditkarte bezahlt. Vielleicht gab es gar kein Bargeld mehr.

Gemeinsam überlegten Sucherin und die Helfer, was sie noch für ihre Kühlkammer brauchten, und insgeheim nahm ich mir vor, auch noch richtige Lebensmittel einzukaufen, wenn alles klappte. Ich hatte jedenfalls nicht vor, ewig von Konzentraten und Wasser zu leben.

Dann machte ich mich daran, mein Äußeres so gut es ging zu verändern. Sie mochten zwar veraltete Fahndungsfotos haben, aber eventuell hatten sie uns auf der Raumstation heimlich fotografiert. Bart und lange Haare mussten also ab. Es war etwas mühselig ohne Rasierer und kurze Stoppeln blieben zurück. Hauptsache, sie hatten hier nicht das Markensystem von den Südlichen Inseln eingeführt, dann hatte ich keine Chance.

Nachdem Sucherin und ich dann mit Essen fertig waren, entschied ich mich, sofort aufzubrechen. Es hatte keinen Sinn, es noch weiter hinauszuschieben. Einerseits hatte ich verteufelte Angst, weil ich nicht einschätzen konnte, was auf mich zukam, andererseits drängte es mich, dieses neue Neu—Ing kennenzulernen. Ich hoffte, dass ich mich noch zurecht fand. So sehr konnte es sich ja nicht verändert haben. Und wer weiß, vielleicht traf ich sogar alte Bekannte.

 

»Eines ist mir noch unklar: Wie komme ich hier rein und raus?« fragte ich Sucherin. »Ein Schlüssel tut’s ja wohl nicht.«

»Das ist nicht so schwierig. Ich kann Personen auf kurze Entfernung mit einiger Mühe per Nullschritt versetzen. Ich werde auch rechtzeitig merken, wenn du dich dem Versteck näherst, und kann dich dann reinholen.«

»Bei dir muss ich wohl immer auf Überraschungen gefasst sein«, sagte ich kurz. Meine Stimme klang etwas zittrig in Erwartung dessen, was mir in Neu-Ing alles bevorstehen mochte.

Sucherin umarmte mich heftig. »Also, mach’s gut. Und bleib nicht zu lange weg.«

Ich versprach es ihr. Dann konzentrierte sie sich, und von einer Sekunde zur anderen stand ich im Freien.

Sie hatte gut gezielt, denn ich befand mich hinter ein paar Büschen, die die Sicht von der Straße versperrten. Es schien aber auch jetzt nicht viel dort los zu sein, und so konnte ich ungehindert hervorschlüpfen.

Mir wurde schnell klar, dass ich mich in einem der äußeren Bezirke von Neu-Ing aufhielt. Ich kannte diese Ecke nicht, es war aber ein hingeklotztes Neubauviertel. Nicht weit von hier musste schon die öde Steinwüste des unbewohnten Gebietes beginnen.

Jetzt im Tageslicht – die Sonne kam allerdings nicht hervor – sah ich, dass Sucherins Versteck unter einem völlig kargen Stück Land lag. Vielleicht diente dieser Hinterhof als Kinderspielplatz, doch die Kinder hielten sich dann doch wohl noch eher in Treppenhäusern auf. Hier stand nur in einer Ecke eine Art Geräteschuppen, aber nichts zum Spielen.

Ich ging ein Stück weiter die Straße entlang, noch sehr unsicher. Überall die gleichen Hochhäuser, einige bunt angemalt, aber die Farbe blätterte schon wieder ab, als weigerte sie sich, das graue Innere zu überdecken.

Der Lärm von der Straße war einigermaßen auszuhalten. Ich bemerkte einen großen Anteil schrottreif aussehender Autos und verbeulter Robot-Busse. Fußgänger stapften gleichgültig mit niedergeschlagenen Augen aneinander vorbei, von der Hochstraße kam ein dumpfes Grollen und in der Ferne sirrten einige Schweber herum.

Ich seufzte: es war alles wie gewohnt.

Ziellos trabte ich weiter und die Silhouette der gigantischen Stadt prägte sich mir wieder ein. Wie ein wachsender Moloch, der jedes Leben verschlang.

Und dann, als ich aus der Siedlung raus war, der Blick auf einen riesigen Industriekomplex: hoch aufragende Fabrikschornsteine, aus denen gelblicher Rauch strömte, langgezogene graue, fensterlose Hallen, Bürogebäude, Stacheldrahtzäune mit Robot-Wächtern und das Stampfen und Dröhnen der Maschinenanlagen.

Sogar der Boden unter meinen Füßen erzitterte, und je mehr ich darauf achtete, desto sicherer wurde ich, dass der Krach nicht nur aus der Entfernung kam, sondern auch aus der Tiefe. Der weitaus größte Teil der Fabrikation fand also unterirdisch statt.

Ich schauderte. Ein wahrhaft höllischer Fortschritt. Wahrscheinlich bekamen die Arbeiter dort niemals Tageslicht zu sehen.

Ich machte einen großen Bogen um den Komplex und angesichts der Wachen wunderte ich mich erst jetzt, dass ich auf meinem bisherigen Weg keinen einzigen Cop zu Gesicht bekommen hatte. Stattdessen waren mir mehrere Pulks Jugendlicher aufgefallen, die unverhohlen die verschiedensten Waffen zur Schau trugen.

Ich hatte mich ängstlich von ihnen ferngehalten, sie hatten aber nirgends einen Zwischenfall provoziert.

Plötzlich kam mir der Gedanke, wie es wohl nachts hier aussehen würde. Ob solche Banden dann die Gegend kontrollierten?

Aber ich wusste ja nichts über ihre Motive und Ziele. Vielleicht nahmen sie nur bestimmte Geschäfte und Leute aufs Korn oder waren sogar völlig harmlos.

Ich sollte mich davor hüten, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen, dachte ich, und der Mangel an aktuellen Informationen machte mir wieder zu schaffen.

Während ich immer weiterging, wurde mir klar, dass dies eigentlich das dringendste Problem war. Ich musste erfahren, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit hier ereignet hatte, um wieder handlungsfähig zu werden. Dazu war es notwendig, alte Bekannte aufzutreiben und sie auszufragen. Ein paar abgehörte Funksprüche, als wir uns der Erde näherten, reichten da nicht aus.

Mit einem neuen Ziel vor Augen war ich jetzt wesentlich sicherer. Ich war nun auch überzeugt, dass ich weiter nicht auffiel, und Fahndungsplakate oder -holos hatte ich noch nirgends gesehen.

Meldungen über uns Terroristen konnten bisher nur über Tri-Di gelaufen sein. Und wer prägte sich schon angesichts einer Fernsehsendung genau fremde Gesichter ein?

Da ich mich hier überhaupt nicht auskannte, musste ich zunächst weiter ins Zentrum kommen. Ich hielt nach einer U-Bahn-Station Ausschau und testete dort angekommen am Fahrkarten-Automat gleich die Münzen, die ich von Sucherin bekommen hatte. Eine Anzahl fiel einfach durch, aber ein paar hatten noch ihren Wert und so kam ich zu einem Fahrschein (Schwarzfahren wäre doch sehr riskant gewesen, zumal ich nicht wusste, welche Kontrollen es gab).

Ich stellte dann fest, dass die Station nicht nur als Bahnhof benutzt wurde, sondern es eine Reihe gewaltiger Anti-Grav-Fahrstühle gab, die anscheinend die Arbeiter und Arbeiterinnen in die unterirdischen Fabriken brachte. Eine Gruppe von ihnen, die wohl Feierabend hatte, strömte mir entgegen: blasse Gesichter und abgemagerte Gestalten, alle in eine blaue Montur gekleidet. Sie sprachen kaum miteinander und strebten rasch dem Ausgang zu. Das waren bestimmt keine Leute, die nur auf Knöpfe drückten und Computerprogramme überwachten. Die übelste Arbeit wurde wie immer von den ärmsten Leuten ausgeführt. Da waren sogar Maschinen und Roboter zu teuer.

Ich schüttelte mich und trat auf den Bahnsteig. Leise zischte kurz darauf die Röhrenbahn heran. Natürlich wurde sie vollautomatisch gesteuert. Die Atmosphäre drinnen war so, wie ich sie in Erinnerung hatte: die Leute saßen stumm auf den zerschlissenen Plastikbänken, teilweise kleinformatige Zeitungen lesend, einige hörten Nachrichten- oder Musikspulen an. Hier sah ich auch zum ersten Mal einen großen Anteil Schwarzer, die wohl ebenfalls von irgendeiner Drecksarbeit kamen. Auswanderer von den Südlichen Inseln, die hier für einen Hungerlohn schuften mussten. In ihrer Heimat wären sie wahrscheinlich in den Slums umgekommen.

Eine Gruppe Jugendlicher fiel durch ihre Kleidung und ihr Aussehen auf. Sie waren alle stark geschminkt und trugen eine Art Glitzerklamotten. So etwas änderte sich eben alle paar Monate.

Die Modeindustrie musste ja auch ihren Umsatz machen.

Die Stille wurde andauernd durch Werbesprüche unterbrochen, die über Lautsprecher in den Wagen blökten. Dazu leuchteten Reklametafeln auf, von denen aber ein großer Teil zerstört worden war. In einer Ecke hing sogar ein Tri-Di-Apparat – ebenfalls – zerdeppert.

Allmählich kamen mir die Haltepunkte bekannt vor und ich überlegte, wo ich aussteigen sollte. Plötzlich schoss mir die Frage durch den Kopf, ob meine Eltern wohl noch lebten. Aber was nützte ein Treffen mit ihnen? Wir hatten uns schon lange nichts mehr zu sagen gehabt, immer nur gegenseitige Anmache ... Wahrscheinlich hatten sie die ganze Zeit angenommen, dass ich längst tot war. Die Hetzjagd auf mich als Terroristen würde ihnen einen ganz schönen Schock versetzen. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass mein Vater sofort die Cops benachrichtigen würde, wenn er wüsste, wo ich mich aufhielt. Die würden sowieso früher oder später ins Haus kommen, um rauszukriegen, ob ich mich dort gemeldet hatte.

Nein, das hatte also keinen Sinn. Die erste, die mir sonst einfiel, war Flie. Ich beschloss, zu ihrer alten Wohnung zu gehen, wo sie mit Lucky und anderen gewohnt hatte. Wahrscheinlich würde ich sie dort nicht antreffen, denn sie hatte ja zuletzt als Dolmetscherin gearbeitet und da hatte sie wohl in eine andere Umgebung umziehen müssen. Aber vielleicht konnte ich über die Nachmieter etwas erfahren. Obwohl, nach neun Jahren ...

Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich eigentlich zwei Flies kannte: die erste, die jetzt in der anderen Realität war, und die zweite, die ich auf den Südlichen Inseln wiedergetroffen hatte. Ich hatte lange Gespräche mit Sucherin über dieses Phänomen geführt, und sie war ziemlich entsetzt über diese Verwirrung der Existenzebenen, wie sie es nannte. Sie gab sich selbst einen Teil der Schuld daran, weil sie meinte, damals als Beobachter uns einen unvollständigen Ebenenwechsler gegeben zu haben. Das Modell der damaligen Regs hatte einiges durcheinandergebracht.