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Frühlings Erwachen

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Vierte Szene

Korrektionsanstalt. – Ein Korridor. – Diethelm, Reinhold, Ruprecht, Helmuth, Gaston und Melchior.

Diethelm

Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!

Reinhold

Was soll′s damit?

Diethelm

Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch drum herum. Wer es trifft, der hat′s.

Ruprecht

Machst du nicht mit, Melchior?

Melchior

Nein, ich danke.

Helmuth

Der Joseph!

Gaston

Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation hier.

Melchior

(für sich)

Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles hält mich im Auge. Ich muß mitmachen – oder die Kreatur geht zum Teufel. – — Die Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. – — Brech ich den Hals, ist es gut! Komme ich davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen. – Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier Kenntnisse. – Ich werde ihm die Kapitel von Juda′s Schnur Thamar, von Moab, von Loth und seiner Sippe, von der Königin Vasti und der Abisag von Sunem zum besten geben. – Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der Abteilung.

Ruprecht

Ich hab′s!

Helmuth

Ich komme noch!

Gaston

Übermorgen vielleicht!

Helmuth

Gleich! – Jetzt! – O Gott, o Gott …

Alle

Summa – summa cum laude!!

Ruprecht

(das Stück nehmend)

Danke schön!

Helmuth

Her, du Hund!

Ruprecht

Du Schweinetier?

Helmuth

Galgenvogel!!

Ruprecht

(schlägt ihn ins Gesicht)

– Da! (rennt davon)

Helmuth

(ihm nachrennend)

Den schlag ich tot!

Die Übrigen

(rennen hinterdrein)

Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!

Melchior

(allein, gegen das Fenster gewandt)

– Da geht der Blitzableiter hinunter. – Man muß ein Taschentuch drumwickeln. – Wenn ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in den Füßen. – — – Ich gehe zur Redaktion. Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere! – sammle Tagesneuigkeiten – schreibe – lokal – — ethisch – — psychophysisch … man verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche, Café Temperence. – Das Haus ist sechzig Fuß hoch und der Verputz bröckelt ab … Sie haßt mich – sie haßt mich, weil ich sie der Freiheit beraubt. Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung. – Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre allmählich … Über acht Tage ist Neumond. Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend muß ich unter allen Umständen wissen, wer den Schlüssel hat. – Sonntag Abend in der Andacht kataleptischer Anfall – will′s Gott, wird sonst niemand krank! – Alles liegt so klar, als wär′ es geschehen, vor mir. Über das Fenstergesims gelang ich mit Leichtigkeit – ein Schwung – ein Griff – aber man muß ein Taschentuch drumwickeln. – — Da kommt der Großinquisitor. (Ab nach links.)

(Dr. Prokrustes mit einem Schlossermeister von rechts.)

Dr. Prokrustes

… Die Fenster liegen zwar im dritten Stock und unten sind Brennesseln gepflanzt. Aber was kümmert sich die Entartung um Brennesseln. – Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke hinaus und wir hatten die ganze Schererei mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen …

Der Schlossermeister

Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?

Dr. Prokrustes

Aus Schmiedeeisen – und da man sie nicht einlassen kann, vernietet.

Fünfte Szene

Ein Schlafgemach. – Frau Bergmann, Ina Müller und Medizinalrat Dr. v. Brausepulver. – Wendla im Bett.

Dr. von Brausepulver

Wie alt sind Sie denn eigentlich?

Wendla

Vierzehn ein halb.

Dr. von Brausepulver

Ich verordne die Blaud′schen Pillen seit fünfzehn Jahren und habe in einer großen Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet. Ich ziehe sie dem Lebertran und den Stahlweinen vor. Beginnen sie mit drei bis vier Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es eben vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben hatte ich verordnet, jeden dritten Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag um drei Pillen. Nach kaum drei Wochen schon konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama zur Nachkur nach Pyrmont begeben. – Von ermüdenden Spaziergängen und Extramahlzeiten dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir, liebes Kind, sich um so fleißiger Bewegung machen zu wollen und ungeniert Nahrung zu fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt. Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen – und der Kopfschmerz, das Frösteln, der Schwindel – und unsere schrecklichen Verdauungsstörungen. Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben genoß schon acht Tage nach begonnener Kur ein ganzes Brathühnchen mit jungen Pellkartoffeln zum Frühstück.

Frau Bergmann

Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Herr Medizinalrat?

Dr. von Brausepulver

Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann. Mein Wagen wartet. Lassen Sie sich′s nicht so zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere liebe kleine Patientin wieder frisch und munter wie eine Gazelle. Seien Sie getrost. – Guten Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind. Guten Tag, meine Damen. Guten Tag. (Frau Bergmann geleitet ihn vor die Tür.)

Ina

(am Fenster)

– Nun färbt sich eure Platane schon wieder bunt. – Siehst du′s vom Bett aus? – Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert, wie man sie so kommen und gehen sieht. – Ich muß nun auch bald gehen. Müller erwartet mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur Schneiderin. Mucki bekommt seine ersten Höschen, und Karl soll einen neuen Trikotanzug auf den Winter haben.

Wendla

Manchmal wird mir so selig – alles Freude und Sonnenglanz. Hätt′ ich geahnt, daß es einem so wohl um′s Herz werden kann! Ich möchte hinaus, im Abendschein über die Wiesen gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß entlang und mich an′s Ufer setzen und träumen … Und dann kommt das Zahnweh, und ich meine, daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich′s, und dann flattert das Untier herein – — – So oft ich aufwache, seh′ ich Mutter weinen. O, das tut mir so weh – ich kann′s dir nicht sagen, Ina!

Ina

– Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher legen?

Frau Bergmann

(kommt zurück)

Er meint, das Erbrechen werde sich auch geben; und du sollst dann nur ruhig wieder aufstehn … Ich glaube auch, es ist besser, wenn du bald wieder aufstehst, Wendla.

Ina

Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst du vielleicht schon wieder im Haus herum. – Leb′ wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur Schneiderin. Behüt′ dich Gott, liebe Wendla. (Küßt sie) Recht, recht baldige Besserung!

Wendla

Leb′ wohl, Ina. – Bring′ mir Himmelsschlüssel mit, wenn du wiederkommst. Adieu. Grüße deine Jungens von mir.

(Ina ab.)

Wendla

Was hat er noch gesagt, Mutter, als er draußen war?

Frau Bergmann

Er hat nichts gesagt. – Er sagte, Fräulein von Witzleben habe auch zu Ohnmachten geneigt. Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.

Wendla

Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht habe?

Frau Bergmann

Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse essen, wenn der Appetit zurückgekehrt sei.

Wendla

O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht die Bleichsucht....

Frau Bergmann

Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig, Wendla, sei ruhig; du hast die Bleichsucht.

Wendla

Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl′ es. Ich habe nicht die Bleichsucht. Ich habe die Wassersucht …

Frau Bergmann

Du hast die Bleichsucht. Er hat ja gesagt, daß du die Bleichsucht hast. Beruhige dich, Mädchen. Es wird besser werden.

Wendla

Es wird nicht besser werden. Ich habe die Wassersucht. Ich muß sterben, Mutter. – O Mutter, ich muß sterben!

Frau Bergmann

Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt nicht sterben..... Barmherziger Himmel, du mußt nicht sterben!

Wendla

Aber warum weinst du dann so jammervoll?

Frau Bergmann

Du mußt nicht sterben – Kind! Du hast nicht die Wassersucht. Du hast ein Kind, Mädchen! Du hast ein Kind! – O, warum hast du mir das getan!

Wendla

– ich habe dir nichts getan —

Frau Bergmann

O leugne nicht noch, Wendla! – Ich weiß alles. Sieh′, ich hätt′ es nicht vermocht, dir ein Wort zu sagen. – Wendla, meine Wendla …!

Wendla

Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich bin ja doch nicht verheiratet …!

 
Frau Bergmann

Großer, gewaltiger Gott —, das ist′s ja, daß du nicht verheiratet bist! Das ist ja das Fürchterliche! – Wendla, Wendla, Wendla, was hast du getan!!

Wendla

Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir lagen im Heu.... Ich habe keinen Menschen auf dieser Welt geliebt als nur dich, Mutter.

Frau Bergmann

Mein Herzblatt —

Wendla

O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!

Frau Bergmann

Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht noch schwerer machen! Fasse dich! Verzweifle mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen Mädchen das sagen! Sieh′, ich wäre eher darauf gefaßt gewesen, daß die Sonne erlischt. Ich habe an dir nicht anders getan, als meine liebe gute Mutter an mir getan hat. – O laß uns auf den lieben Gott vertrauen, Wendla; laß uns auf Barmherzigkeit hoffen und das unsrige tun! Sieh′, noch ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn nur wir jetzt nicht kleinmütig werden, dann wird uns auch der liebe Gott nicht verlassen. – Sei mutig, Wendla, sei mutig! – — So sitzt man einmal am Fenster und legt die Hände in den Schoß, weil sich doch noch alles zum Guten gewandt, und da bricht′s dann herein, daß einem gleich das Herz bersten möchte.... Wa – was zitterst du?

Wendla

Es hat jemand geklopft.

Frau Bergmann

Ich habe nichts gehört, liebes Herz. – (Geht an die Türe und öffnet.)

Wendla

Ach, ich hörte es ganz deutlich. – — Wer ist draußen?

Frau Bergmann

– Niemand – — Schmidts Mutter aus der Gartenstraße. – — – Sie kommen eben recht, Mutter Schmidtin.

Sechste Szene

Winzer und Winzerinnen im Weinberg. – Im Westen sinkt die Sonne hinter die Berggipfel. Helles Glockengeläute vom Tal herauf. – Hänschen Rilow und Ernst Röbel im höchstgelegenen Rebstück sich unter den überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend.

Ernst

– Ich habe mich überarbeitet.

Hänschen

Laß uns nicht traurig sein! – Schade um die Minuten.

Ernst

Man sieht sie hängen und kann nicht mehr – und morgen sind sie gekeltert.

Hänschen

Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir′s der Hunger ist.

Ernst

Ach, ich kann nicht mehr.

Hänschen

Diese leuchtende Muskateller noch!

Ernst

Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf.

Hänschen

Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns von Mund zu Mund. Keiner braucht sich zu rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen den Kamm zum Stock zurückschnellen.

Ernst

Kaum entschließt man sich, und siehe, so dämmert auch schon die dahingeschwundene Kraft wieder auf.

Hänschen

Dazu das flammende Firmament – und die Abendglocken. – Ich verspreche mir wenig mehr von der Zukunft.

Ernst

– Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen Pfarrer – ein gemütvolles Hausmütterchen, eine reichhaltige Bibliothek und Ämter und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat man um nachzudenken, und am siebenten tut man den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn man nach Hause kommt, dampft der Kaffee, der Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein. – Kannst du dir etwas Schöneres denken?

Hänschen

Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern, halbgeöffnete Lippen und türkische Draperien. – Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh, unsere Alten zeigen uns lange Gesichter, um ihre Dummheiten zu bemänteln. Untereinander nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne das. – Wenn ich Millionär bin, werde ich dem lieben Gott ein Denkmal setzen. – Denke dir die Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt. Der eine wirft sie um und heult, der andere rührt alles durcheinander und schwitzt. Warum nicht abschöpfen? – Oder glaubst du nicht, daß es sich lernen ließe.

Ernst

– Schöpfen wir ab!

Hänschen

Was bleibt, fressen die Hühner. – Ich habe meinen Kopf nun schon aus so mancher Schlinge gezogen....

Ernst

Schöpfen wir ab, Hänschen! – Warum lachst du?

Hänschen

Fängst du schon wieder an?

Ernst

Einer muß ja doch anfangen.

Hänschen

Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend wie heute zurückdenken, erscheint er uns vielleicht unsagbar schön!

Ernst

Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!

Hänschen

Warum also nicht!

Ernst

Ist man zufällig allein – dann weint man vielleicht gar.

Hänschen

Laß uns nicht traurig sein! – (Er küßt ihn auf den Mund.)

Ernst

(küßt ihn)

Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken, dich nur eben zu sprechen und wieder umzukehren.

Hänschen

Ich erwartete dich. – Die Tugend kleidet nicht schlecht, aber es gehören imposante Figuren hinein.

Ernst

Uns schlottert sie noch um die Glieder. – Ich wäre nicht ruhig geworden, wenn ich dich nicht getroffen hätte. – Ich liebe dich, Hänschen, wie ich nie eine Seele geliebt habe.

Hänschen

Laß uns nicht traurig sein! – Wenn wir in dreißig Jahren zurückdenken, spotten wir ja vielleicht! – Und jetzt ist alles so schön. Die Berge glühen; die Trauben hängen uns in den Mund und der Abendwind streicht an den Felsen hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen....

Siebente Szene

Helle Novembernacht. An Busch und Bäumen raschelt das dürre Laub. Zerrissene Wolken jagen unter dem Mond hin. – Melchior klettert über die Kirchhofmauer.

Melchior

(auf der Innenseite herabspringend)

Hierher folgt mir die Meute nicht. – Derweil sie Bordelle absuchen, kann ich aufatmen und mir sagen, wie weit ich bin....

Der Rock in Fetzen, die Taschen leer – vor dem Harmlosesten bin ich nicht sicher. – Tagsüber muß ich im Walde weiter zu kommen suchen …

Ein Kreuz habe ich niedergestampft. – Die Blümchen wären heut′ noch erfroren! – Ringsum ist die Erde kahl....

Im Totenreich! —

Aus der Dachluke zu klettern war so schwer nicht wie dieser Weg! – Darauf nur war ich nicht gefaßt gewesen....

Ich hänge über dem Abgrund – alles versunken, verschwunden – O wär′ ich dort geblieben!

Warum sie um meinetwillen! – Warum nicht der Verschuldete! – Unfaßbare Vorsicht! – Ich hätte Steine geklopft und gehungert …!

Was hält mich noch aufrecht? – Verbrechen folgt auf Verbrechen. Ich bin dem Morast überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um abzuschließen …

Ich war nicht schlecht! – Ich war nicht schlecht! – Ich war nicht schlecht …

– So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher über Gräber gewandelt. – Pah – ich brächte ja den Mut nicht auf! – O, wenn mich Wahnsinn umfinge – in dieser Nacht noch!

Ich muß drüben unter den Letzten suchen! – Der Wind pfeift auf jedem Stein aus einer anderen Tonart – eine beklemmende Symphonie! – Die morschen Kränze reißen entzwei und baumeln an ihren langen Fäden stückweise um die Marmorkreuze – ein Wald von Vogelscheuchen! – Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher als die andere – haushohe, vor denen die Teufel Reißaus nehmen. – Die goldenen Lettern blinken so kalt.... Die Trauerweide ächzt auf und fährt mit Riesenfingern über die Inschrift....

– Ein betendes Engelskind – Eine Tafel —

Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. – Wie das hastet und heult! – Wie ein Heereszug jagt es im Osten empor. – Kein Stern am Himmel —

Immergrün um das Gärtlein? – Immergrün? – — Mädchen …

Hier ruht in Gott

Wendla Bergmann,

geboren am 5. Mai 1878,

gestorben an der Bleichsucht den

27. Oktober 1892.

Selig sind, die reinen Herzens sind …


Und ich bin ihr Mörder. – Ich bin ihr Mörder! – Mir bleibt die Verzweiflung. – Ich darf hier nicht weinen. – Fort von hier! – Fort —

Moritz Stiefel

(seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her)

Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit wiederholt sich so bald nicht. Du ahnst nicht, was mit Ort und Stunde zusammenhängt....

Melchior

Wo kommst du her?!

Moritz

Von drüben – von der Mauer her. Du hast mein Kreuz umgeworfen. Ich liege an der Mauer. – Gib mir die Hand, Melchior....

Melchior

Du bist nicht Moritz Stiefel!

Moritz

Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du wirst mir Dank wissen. So leicht wird′s dir nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches Zusammentreffen. – Ich bin extra heraufgekommen....

Melchior

Schläfst du denn nicht?

Moritz

Nicht was ihr Schlafen nennt. – Wir sitzen auf Kirchtürmen, auf hohen Dachgiebeln – wo immer wir wollen....

Melchior

Ruhelos?

Moritz

Vergnügungshalber. – Wir streifen um Maibäume, um einsame Waldkapellen. Über Volksversammlungen schweben wir hin, über Unglücksstätten, Gärten, Festplätze. – In den Wohnhäusern kauern wir im Kamin und hinter den Bettvorhängen. – Gib mir die Hand. – Wir verkehren nicht untereinander, aber wir sehen und hören alles, was in der Welt vor sich geht. Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die Menschen tun und erstreben, und lachen darüber.

Melchior

Was hilft das?

Moritz

Was braucht es zu helfen? – Wir sind für nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem Irdischen – jeder für sich allein. Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu langweilig ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen könnte. Über Jammer oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben. Wir sind mit uns zufrieden und das ist alles! – Die Lebenden verachten wir unsagbar, kaum daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit ihrem Getue, weil sie als Lebende tatsächlich nicht zu bemitleiden sind. Wir lächeln bei ihren Tragödien – jeder für sich – und stellen unsere Betrachtungen an. – Gib mir die Hand! Wenn du mir die Hand gibst, fällst du um vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand gibst....

Melchior

Ekelt dich das nicht an?

Moritz

Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! – An meinem Begräbnis war ich unter den Leidtragenden. Ich habe mich recht gut unterhalten. Das ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult wie keiner, und schlich zur Mauer, um mir vor Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt, unter dem der Quark sich verdauen läßt.... Auch über mich will man gelacht haben, eh′ ich mich aufschwang!

Melchior

– Mich lüstet′s nicht, über mich zu lachen.

Moritz

… Die Lebenden sind als solche wahrhaftig nicht zu bemitleiden! – Ich gestehe, ich hätte es auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir unfaßbar, wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue ich den Trug so klar, daß auch nicht ein Wölkchen bleibt. – Wie magst du nur zaudern, Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch über dir. – Dein Leben ist Unterlassungssünde....

Melchior

– Könnt ihr vergessen?

Moritz

Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir können die Jugend bedauern, wie sie ihre Bangigkeit für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm vor stoischer Überlegenheit das Herz brechen will. Wir sehen den Kaiser vor Gassenhauern und den Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben. Wir ignorieren die Maske des Komödianten und sehen den Dichter im Dunkeln die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in seiner Bettelhaftigkeit, im Mühseligen und Beladenen den Kapitalisten. Wir beobachten Verliebte und sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder in die Welt setzen, um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu haben! – und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun. Wir können die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten, die Fünfgroschendirne über der Lektüre Schillers belauschen.... Gott und den Teufel sehen wir sich voreinander blamieren und hegen in uns das durch nichts zu erschütternde Bewußtsein, daß beide betrunken sind.... Eine Ruhe, eine Zufriedenheit. Melchior —! Du brauchst mir nur den kleinen Finger zu reichen. – Schneeweiß kannst du werden, eh′ sich dir der Augenblick wieder so günstig zeigt!

 
Melchior

– Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht es aus Selbstverachtung. – Ich sehe mich geächtet. Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe. Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für würdig zu halten – und erblicke nichts, nichts, das sich mir auf meinem Niedergang noch entgegenstellen sollte. – Ich bin mir die verabscheuungswürdigste Kreatur des Weltalls....

Moritz

Was zauderst du …?

(Ein vermummter Herr tritt auf)

Der vermummte Herr (zu Melchior)

Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht befähigt, zu urteilen. – (Zu Moritz) Gehen Sie.

Melchior

Wer sind Sie?

Der vermummte Herr

Das wird sich weisen. – (Zu Moritz) Verschwinden Sie! – Was haben Sie hier zu tun! – Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?

Moritz

Ich habe mich erschossen.

Der vermummte Herr

Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören. Dann sind Sie ja vorbei! Belästigen Sie uns hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich – sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui Teufel noch mal! Das zerbröckelt schon.

Moritz

Schicken Sie mich bitte nicht fort....

Melchior

Wer sind Sie, mein Herr??

Moritz

Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie. Lassen Sie mich hier noch ein Weilchen teilnehmen; ich will Ihnen in nichts entgegensein. – — Es ist unten so schaurig.

Der vermummte Herr

Warum prahlen Sie denn dann mit Erhabenheit?! – Sie wissen doch, daß das Humbug ist – saure Trauben! Warum lügen Sie geflissentlich, Sie – Hirngespinst! – — Wenn Ihnen eine so schätzenswerte Wohltat damit geschieht, so bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich vor Windbeuteleien, lieber Freund – und lassen Sie mir bitte Ihre Leichenhand aus dem Spiel!

Melchior

Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!

Der vermummte Herr

Nein. – Ich mache dir den Vorschlag, dich mir anzuvertrauen. Ich würde fürs erste für dein Fortkommen sorgen.

Melchior

Sie sind – mein Vater?!

Der vermummte Herr

Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der Stimme erkennen?

Melchior

Nein.

Der vermummte Herr

– Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kräftigen Armen deiner Mutter. – Ich erschließe dir die Welt. Deine momentane Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen Abendessen im Leib spottest du ihrer.

Melchior (für sich)

Es kann nur einer der Teufel sein! – (laut) Nach dem, was ich verschuldet, kann mir ein warmes Abendessen meine Ruhe nicht wiedergeben!

Der vermummte Herr

Es kommt auf das Abendessen an! – So viel kann ich dir sagen, daß die Kleine vorzüglich geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin erlegen. – — Ich führe dich unter Menschen. Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in der fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet.

Melchior

Wer sind Sie? Wer sind Sie? – Ich kann mich einem Menschen nicht anvertrauen, den ich nicht kenne.

Der vermummte Herr

Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen.

Melchior

Glauben Sie?

Der vermummte Herr

Tatsache! – Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.

Melchior

Ich kann jeden Moment meinem Freunde hier die Hand reichen.