Frank Thelen – Die Autobiografie

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Frank Thelen – Die Autobiografie
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Inhalt

1  Hallo, ich bin Frank

2  Kindheit und Jugend

3  Meine ersten Schritte als Unternehmer

4  Die Katastrophe

5  IP.Labs

6  E42

7  Nathalie

8  Wunderlist

9  doo und Scanbot

10  Die Höhle der Löwen

11  Food-Family

12  Freigeist Capital

13  Lilium Aviation

14  Disruption: Was ist das?

15  Der Baukasten der Zukunft

16  Künstliche Intelligenz

17  Distributed Ledger, Blockchain, Crypto & Co.

18  10xDNA Fonds

19  Skateboarding als Philosophie

20  Deutschland 4.0

21  Finde deine #StartupDNA

22  Danksagungen und Hinweise

23  Glossar

Chancen zu sehen und den Mut zu haben, sie konsequent zu nutzen, unterscheidet den Macher vom Verwalter— Frank Thelen


Hallo, ich bin Frank…

…und gerade sind acht Kameras auf mich gerichtet, damit auch wirklich jeder Gesichtsausdruck aus jeder Perspektive eingefangen wird – und ja, ich bin ein wenig nervös. Ich sitze in den berühmten MMC-Studios in Köln. Eine Hairstylistin fixiert meine Haare mit Haarspray. Eine Make-Up-Artistin pudert mir den Glanz aus dem Gesicht. Ein Kostümbildner zupft an meinem Hemd herum – nichts wird dem Zufall überlassen. Eine faszinierende, aber auch sehr fremde Welt für jemanden wie mich, der jeden Morgen ein schwarzes Polo-Shirt anzieht, nie Anzug trägt und maximal fünf Minuten im Bad braucht.

Im Studio und davor rennen alle möglichen Leute herum: Kameramänner, Producer, Lichtdesigner, Kabelträger, Security, Fahrer, Produktionsassistenten, Redakteure, Programm-Manager, Tontechniker und andere, von denen ich keine Ahnung habe, was ihr Job ist. Eben habe ich einen jungen Kollegen gefragt, was er macht.

»Ich bin Feuerwehrmann und zünde vor jedem Auftritt das Kaminfeuer an.«

»Du bist nur für das Feuer zuständig?«, frage ich nach.

»Ja«, antwortet er, »ich bin der Feuerbeauftragte«.

Mir fehlen die Worte – unfassbar! Ich kannte bisher nur Startups, schlank organisiert, wo jeder alles macht und vieles auch manchmal etwas chaotisch ist. Hier laufen viel mehr Leute durcheinander – aber das vermeintliche Chaos ist gar keines: Es ist eine gut geölte Maschinerie von Fernsehprofis. Ich bin aber kein Fernsehprofi. Um ehrlich zu sein, sitze ich zum ersten Mal überhaupt in einem Fernsehstudio. Damit ist für mich aber auch endgültig klar: Ich muss im falschen Film sein. Wobei mir eine Eigenheit der Fernsehwelt sehr entgegenkommt: Es duzen sich alle. Aber für die anderen Aspekte dieses aufgeregten Ameisenhaufens galt in diesem Moment: Da gehöre ich nicht zu – diese Fernsehwelt hier ist aufregend und toll, aber sie ist eine andere Welt, nicht meine. Ich habe Fluchtgedanken und bin mir nicht sicher, ob ich hier rein passe.

Dabei hatte ich das Glück, in meinem Leben schon sehr viele verschiedene Welten erlebt zu haben: Ich habe mehr als einmal die Schule geschwänzt und stattdessen hinterm Bahnhof abgehangen. Ich bin tief in die Skateboard-Szene eingetaucht und habe mir dort oft die Lippe blutig geschlagen. Ich bin vom Gymnasium geflogen. Ich habe eine Firma gegründet, sie fast bis an die Börse gebracht und sie dann doch an die Wand gefahren. Ich bin von der Presse bejubelt und von Kunden beschimpft worden. Ich hatte mit Mitte 20 Millionen Schulden und stand kurz vor der Privatinsolvenz. Ich habe eine neue Firma gegründet, sie für viel Geld nach Japan verkauft und sollte dort mit Wal-Sperma auf den Erfolg anstoßen. Immer wieder habe ich gegründet, hatte Erfolg, bin wieder böse hingefallen und erneut aufgestanden. Unsere Kanzlerin hat mir einen Innovationspreis überreicht, und ich durfte als Mitglied der Bundesversammlung den Bundespräsidenten wählen. Was ich gesehen habe, reicht für mindestens drei Leben. Und jetzt sitze ich hier und soll ein »Löwe« werden, in einer von Sony Pictures produzierten Prime-Time-Fernsehsendung.

Das alles geht mir durch den Kopf, während der Regisseur laut über die Beschallung runterzählt: »Bitte Ruhe, wir legen los in drei, zwei, eins…« Und in diesem Moment der Ruhe wird mir klar, warum ich hier doch richtig bin. All die Leute um mich herum sind vergessen. Denn in wenigen Sekunden wird durch den goldenen Käfig vor mir ein junger Unternehmer hereinkommen. Er wird sein Produkt, sein Startup und seine Pläne pitchen.. Und er wird alles geben, um meine Kollegen und mich von seinem Startup zu begeistern. Vielleicht werden alle sagen, »das gibt es schon« oder »die Idee ist zu verrückt«, aber weder das eine noch das andere sind Gründe zum Aufgeben. Wenn jemand ein herausragender Kopf ist, eine gute Idee und einen überzeugenden Plan zur Umsetzung hat, dann ist keine Idee »zu groß« oder »zu klein«. Vielleicht lässt sich dieser Gründer nicht abschrecken von bürokratischem Irrsinn, von resignativer Verzweiflung, von überregulierten Vorschriften. Weil er mehr vom Leben will als seine Zeit absitzen, bis er um 16:30 Uhr Feierabend machen kann. Er will etwas bewegen in der Welt, einen kleinen oder sogar großen Fußabdruck hinterlassen. Ich weiß, was in seinem Kopf vorgeht.

Überzeugt er mich, investiere ich mein Kapital, meine Zeit und Passion in ihn und seine Vision. So wie vorher in viele andere Gründer. Ich arbeite täglich mit ihnen zusammen und helfe ihnen, die Herausforderungen eines Startups zu meistern. Ich kenne die Träume, die Verzweiflung, die Umwege und Irrwege. Fast alle Fehler habe ich selbst gemacht und weiß heute, wie man sie vermeiden kann. All die dunklen Jahre, die tiefen Täler, durch die ich hindurch musste – sie waren nicht umsonst. Denn heute kann ich diese Erfahrung weitergeben. Mein ganzes Leben baue ich Startups auf – ob als Gründer oder Investor. Das ist meine DNA. Acht Kameras? Maske, Haar, Kostüm? Egal: Ich bin hier richtig. Goldrichtig sogar.

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen?


Wie bin ich hier gelandet?


Kindheit und Jugend
Eine Kindheit in der Bundeshauptstadt

Bonn, ab 1975

Ich bin in Bad Godesberg groß geworden, einem Stadtbezirk von Bonn. Bonn in den 1980er Jahren war natürlich im Hauptberuf Bundeshauptstadt: Da war Helmut Kohl als Bundeskanzler. Da waren ein paar Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss auf der Hofgartenwiese an der Uni. Graue Beamte, Journalisten und natürlich Abgeordnete, unter denen ab 1983 die Grünen für Farbe im Bundestag sorgten. Grüne, die auf einmal im Parlament saßen und über die sich viele aufregten, weil sie Turnschuhe trugen oder während der Sitzungen strickten. Aber davon bekam ich als Kind nicht viel mit.

Bonn war tatsächlich nie so aufregend. B.O.N.N.: »Bundeshauptstadt Ohne Nennenswertes Nachtleben«, so wurde gespottet. Punk war hier nie zu Hause, der wohnte damals schon in Berlin. Der britische MI6-Agent und spätere Bestsellerautor John Le Carré schrieb in seinem Roman Eine kleine Stadt in Deutschland über Bonn: »Entweder es regnet oder die Bahnschranken sind runter.« Tatsächlich passierte meist beides gleichzeitig. Auch der Spruch »Bonn ist halb so groß wie der Zentralfriedhof von Chicago, aber doppelt so tot« ist von LeCarré, und auch da war leider was dran. Bad Godesberg wiederum ist die noch gediegenere Version von Bonn – Verruchtheit und revolutionärer Aufruhr waren dort erst recht nicht zu finden. In Bad Godesberg wohnten Politiker und Beamte: Abgeordnete, Staatssekretäre, Ministerialdirigenten und viele mehr, deren Funktion ich nie verstehen werde. Und das Einzige, was mir zeigte, dass Bonn Bundeshauptstadt war, waren die Autos der Diplomaten mit den merkwürdigen Kennzeichen. Sie durften überall in der Stadt parken wie Kraut und Rüben, da sie durch ihren diplomatischen Status sogar immun gegen Parktickets waren. Und dann war da natürlich überall Polizei, was ich später als Skater ziemlich lästig fand.

 

Unsere Wohnung hatte ein Fenster mit direktem Blick auf die Rigal’sche Wiese, ein großes grünes Stück Rasen, auf dem mindestens einmal in der Woche ein Hubschrauber mit einem wichtigen Minister oder Diplomaten landete. Die Vibrationen konnte ich noch in meinem Kinderzimmer spüren. Damals faszinierte mich das überhaupt nicht, es war Alltag, laut und eher nervig. Aber wenn ich heute daran denke, wie mich der Gedanke beschäftigt, praktisch und unkompliziert von A nach B zu kommen – wer weiß, vielleicht hat das Echo der Hubschrauberrotoren meiner Kindheit auch eine kleine Rolle bei unserem Lilium-Investment gespielt. Doch dazu später mehr.


1980, mit fünf Jahren

Mein Vater war noch auf einem Bauernhof in Muffendorf aufgewachsen. Das war ganz bei uns in der Nähe – und als Kinder spielten wir dort viel. Mein Opa Wilhelm besaß Hühner, und im Stall nach Eiern zu suchen war eines der großen Abenteuer meiner Kindheit. Mein Großvater hatte auch unzählige Kirschbäume. Zur Erntezeit sind wir immer in die Bäume geklettert, haben körbeweise Kirschen gepflückt und uns regelmäßig so überfressen – anders kann man es wirklich nicht nennen –, dass ich bis heute keine Kirschen mehr sehen kann. Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen: Wir lebten in einer kleinen Etagenwohnung, mein Vater hat im Vertrieb für professionelle Funkgeräte gearbeitet, später im Mobilfunkbereich, und in den Jahren vor seiner Rente hat er schließlich unabhängige Kfz-Werkstätten mit Zubehörteilen beliefert. Meine Mutter ist gelernte Kosmetikerin, hat sich später aber um Kinder und Haushalt gekümmert. Meine Eltern sind das Paradebeispiel für die deutsche Mittelschicht: hart arbeitend, ehrlich und zuverlässig. Rheinländer wie aus dem Bilderbuch.

Ich habe eine ältere Schwester, die einen sehr geradlinigen Lebenslauf mit Einser-Abi und Festanstellung in einem Großkonzern hat. Aber schon in unserer Jugend wurde klar: Wir beide leben auf verschiedenen Planeten. Ihr Lebensentwurf steht meinem diametral gegenüber und manchmal frage ich mich, wie es möglich ist, dass man die gleichen Eltern hat, gemeinsam aufgewachsen ist – und sich doch so verschieden entwickeln kann. Das ist gar nicht schlimm: Als Kinder haben wir uns natürlich ständig gekabbelt, so wie Geschwister das eben tun, aber heute haben wir ein entspanntes Verhältnis.

Mein Vater war immer für mich da, hat mir Frühstück gemacht, mich zum Fußball gefahren, wurde sogar Trainer meiner Fußballmannschaft. Einmal in der Woche spielte er selbst noch mit seinen Kumpels Fußball. Manchmal schaute ich dabei zu. Und obwohl ich eigentlich noch viel zu klein war, hat er mich gegen den Protest seiner Freunde mitspielen lassen. Er hat mich auch, trotz unschöner Blicke seiner Kollegen, zur Computermesse Cebit mitgenommen. Natürlich ist so ein kleiner Junge ein Klotz am Bein, wenn man möglichst viele Geschäftstermine schaffen will. Aber ich hoffe, dass mein Vater heute sieht: Der Stress war nicht umsonst. Dafür an dieser Stelle: Danke!


Urlaub mit meinen Eltern

Meine Mutter wurde sehr früh mit meiner Schwester schwanger. Das war ihr Weg in die Selbstständigkeit und weg von zu Hause, da mein Opa offenbar ein schwieriger Vater war. Ihre Karriere als Kosmetikerin musste sie leider für uns aufgeben und war dann plötzlich an zwei Kinder und einen Haushalt gebunden. Sie hat immer versucht, meine Schwester und mich ideal zu versorgen und meinen Vater zu unterstützen. Wenn ich Probleme in der Schule hatte, konnte ich mich blind auf ihre Hilfe verlassen. Da sie selber sehr streng erzogen worden war, ließ sie mir im Gegenzug fast alle Freiheiten. Ich habe dadurch viel gelernt und bin früh selbstständig geworden. Einzige Ausnahme: Aufräumen. Denn meine Mutter hat, warum auch immer, jeden Tag mein Zimmer und meine Wäsche wie in einem Fünfsternehotel versorgt. Hierdurch habe ich bis heute die leichte Tendenz, Chaos zu hinterlassen. Aber ich arbeite daran.

Schule und ich – eine schwierige Kombination

Bonn, ab Mitte der 1980er Jahre

Bis zu meinem 14. Lebensjahr hat mich die Schule herzlich wenig interessiert – ich habe außerhalb der Schule auch nur ein einziges Buch gelesen: Hörbe mit dem großen Hut, Otfried Preußlers Geschichte über ein Hutzelmännchen. Aber weil meine Schwester so gut in der Schule war, durfte auch ich aufs Gymnasium, und zwar auf das private »Pädagogium Godesberg Otto-Kühne-Schule« im Godesberger Villenviertel. Bonner kennen es kurz als »Päda«. Das Schulgebäude ist ein beeindruckender Backsteinbau aus der Zeit um 1900, nah am Rhein gelegen, der mich damals sehr beeindruckt hat. Das Päda ist eine der wenigen Privatschulen in Deutschland, die nicht in der Trägerschaft von Kirchen oder Orden sind, und hat eine Reihe prominenter ehemaliger Schüler aufzuweisen, wie den Rennfahrer Wolfgang Graf Berghe von Trips, die Schauspielerinnen Jennifer Nitsch, Sophie von Kessel, Silke Bodenbender, die Schriftstellerin Juli Zeh oder den ehemaligen Politiker Christopher Lauer – aber auch manche mit schlimmem Ruhm, wie den Nazi-Minister und Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß. Machen wir’s kurz: Ich wurde am Päda nicht glücklich. Man quälte mich mit Frontalunterricht und trockenem Lehrstoff. Das mag für andere Schüler lehrreich und produktiv sein – für mich war es das nicht. Mit Grauen denke ich noch heute an das rote Lateinbuch, mit dessen Hilfe ich Substantive deklinieren und Verben konjugieren lernen sollte: Sum, es, est, sumus, estis, sunt… zwecklos.

Bis heute sehe ich nicht ein, was an einem stumpfen Lernen ohne Verstehen, am reinen Pauken ohne die Frage nach dem »Wozu« produktiv sein soll. Meine damaligen Lehrer handelten sicher ehrenwert und in bester Absicht, sie hatten selber so gelernt. Aber sie waren nicht in der Lage, mir einen Funken Inspiration zu geben. Wenn ich heute spüre, wie viel Energie es mir gibt, Neues zu lernen, weil ich weiß, was ich damit erschaffen kann, macht es mich traurig zu sehen, dass wir unser Schulsystem nicht ändern. Statt begeistert zu sein, was es alles zu entdecken gab, war ich nach kürzester Zeit desillusioniert, verzweifelt und traurig. In meinem Inneren spürte ich, dass der Weltgeist einen anderen Lebenslauf für mich vorgesehen hatte. Ich verlor alle Energie, verkümmerte zusehends, wurde zum Außenseiter und Verlierer. Ich erinnere mich noch gut an eine Klassenfahrt nach Spiekeroog. In so einer Klasse ist ja recht schnell klar, wer der Checker ist und wer nicht. In der Jugendherberge auf der Insel Spiekeroog gab es für die Jungs drei Zimmer – und ich landete im letzten, zusammen mit den anderen Losern: mit Manuel, der seine Brille immer mit Tesafilm am Bügel geflickt hatte, und dem dicken Olli. Das war eine schmerzhafte Niederlage, mit der ich einige Zeit schwer zu kämpfen hatte.

Irgendwann folgten die Fünfen. Ich war Schlusslicht der Klasse, und in der Siebten hatte meine Mutter ein Einsehen. Sie begriff, dass ihr Sohn unglücklich war, und nahm mich von der Schule. Ich musste, sollte, konnte, durfte das Gymnasium verlassen. Nun besuchte ich die Realschule in einem der wenigen sozialen Brennpunkte Bonns. Die war etwas näher am echten Leben dran, in den Pausen durfte ich Skateboard fahren, ich fühlte mich wohler und nicht mehr abgeschlagen. Glücklicherweise konnte ich mich schnell mit der »East Mehlem Posse« anfreunden. Es war aber gleichzeitig auch eine harte Schule, im wahrsten Sinne des Wortes: Hier durften nur Sportlehrer die Aufsicht übernehmen, da es in den Pausen regelmäßig zu Prügeleien kam. Es wurde zuweilen mit Drogen und sogar Waffen gedealt, ein Teil der Schüler sprach kein Deutsch. Aber was richtig gut war: Das rote Lateinbuch war für mich Geschichte. Mit den Drogen, Waffen und Prügeleien hatte ich zum Glück sehr wenig zu tun. Ich kam menschlich gut klar, aber um ehrlich zu sein: Ich habe auch hier nicht besonders viel gelernt. Mein Englisch musste ich mir Jahre später the hard way selber aneignen: Ich stellte meinen Computer auf Englisch ein, sah nur noch englische Filme, hörte englische Hörbücher und zwang mich dazu, meine persönlichen Notizen und Texte in englischer Sprache zu schreiben. Es war hart, ich wollte oft aufgeben, aber ich habe es durchgezogen. Bis heute habe ich leider wenig Allgemeinbildung, mir fehlen oftmals mathematische Grundlagen, und auch in der Physik musste ich mir das Nötigste selber aneignen. Darauf bin ich nicht stolz, im Gegenteil. Ich glaube sogar, dass ich mich durch meine Jugend auch in der Zukunft immer ein bisschen als Verlierer oder Underdog fühlen werde. Und daher stammt meine Motivation, immer etwas härter zu arbeiten als andere. Ich habe immer noch das Gefühl, einen Rückstand aufholen zu müssen.

Mein erstes Erfolgserlebnis wurde aus einem riesigen Schock heraus geboren. Mein Opa hatte unserer Familie einen Computer geschenkt. PCs gab es damals bei Vobis oder Escom, und sie kosteten zwischen 4.000 und 5.000 DM, eine richtige Menge Geld. Mein Opa hatte ein Modell mit einem Intel-386SX-Prozessor, vier Megabyte (MB) RAM und einer 52 MB Festplatte für uns gekauft. In seinem schicken Audi brachte er den riesigen Tower und den unfassbar schweren Röhrenmonitor zu uns. Mein Vater und ich trugen beides in unsere Wohnung. Mein Vater wollte die High-End-Maschine installieren, bekam es aber nicht hin, denn das war damals noch eine hohe Wissenschaft. Er rief einen Kollegen an, der uns den Rechner für kleines Geld in Gang brachte. Nun erschien nach dem minutenlangen Start (kennst du noch das Geräusch der Festplatten-Zugriffe?) ein Menü, mit dem wir über die Funktionstasten F1 bis F12 verschiedene Anwendungen starten konnten. Irgendwie fand ich diesen Computer cool. Im Lieferumfang war ein dickes Handbuch über MS-DOS 5.0. Ich startete auf Seite 1 und las tatsächlich das gesamte Buch durch. Ich glaube, das war nach Hörbe mit dem großen Hut das zweite Buch, das ich freiwillig gelesen habe. Nach der Lektüre wollte ich aber auch endlich loslegen und tippte die Befehle in die Kommandozeile ein. Wie gesagt, damals gab es noch kein buntes Windows mit Mausbedienung. Ich weiß noch genau, der erste Befehl war: dir. Das steht für »Directory« und zeigt einem den Inhalt der Festplatte an. Dann erstellte ich mit md Verzeichnisse und wechselte mit cd hin und her. Wow, ich hatte das wirklich unter Kontrolle.

Es war drei Uhr nachts geworden, meine Eltern schliefen längst. Noch ein Kapitel: Formatierung Ihrer Festplatte. Ich war so im Rausch und auch sicher übermüdet, dass ich einfach format c: eingab, weil ich sehen wollte, wie so eine formatierte Festplatte wohl aussehen würde. Der Vorgang dauerte 15 Minuten, dann erschien die Meldung: Bitte Betriebssystem installieren. Jetzt war es vier Uhr morgens, ich fühlte den Adrenalinstoß, startete den PC neu, aber es blieb dabei: Bitte Betriebssystem installieren. O NEIN, hatte ich gerade dieses unfassbar teure Gerät zerstört, das Geschenk meines Opas an unsere Familie? Um fünf Uhr ging ich ohne Erfolg frustriert ins Bett, mein Kopf schmerzte zu stark.

Mein Vater hatte mir ja zuvor erlaubt, mich an den Computer zu setzen, insofern gab es auch kein langes Drumherumreden, wer für den Schaden verantwortlich war. Ich. Und so gestand ich ihm am Morgen meine Tat sofort – und da ich ihn nicht noch mehr enttäuschen wollte, bat ich ihn: »Gib mir zwei Wochen, ich bringe das wieder in Ordnung!« Also las ich das 420 Seiten umfassende Buch zu MS-DOS noch mal durch, traf mich mit einem Bekannten, der einen PC hatte, und lernte tatsächlich, wie dieses Betriebssystem funktioniert. Und ich hielt mein Versprechen – nach zwei Wochen lief der Familien-PC wieder, sogar besser als vorher. Damals konnte man zwar noch nicht ins Internet, und alles hat sehr lange gedauert. Aber das Gerät machte, was ich ihm sagte. Dieser Erfolg war ein durchschlagender Impuls für mein Leben: Ich hatte richtig Bockmist gebaut, war verzweifelt, hatte Angst, aber nach einiger Zeit hatte ich – wie versprochen – das Problem gelöst. Jetzt gab es sogar Achtung von meiner Familie, und ich konnte anderen bei ihren Problemen helfen. Ich war kein Loser mehr, sondern galt plötzlich als »der PC-Experte«. Und endlich hatte ich mal etwas Cooleres als meine »Freunde«, der dicke Olli und Manuel mit der geflickten Brille.

Nachdem ich MS-DOS verstanden hatte, kaufte ich mir Bücher über Assembler und C. Ich lernte programmieren. Meine erste selbst gestellte Herausforderung: Ich wollte Computerspiele mit Kopierschutz cracken, um sie kostenfrei zu spielen. Das fand ich so spannend und interessant, dass ich dann keines der Spiele überhaupt jemals wirklich ernsthaft gespielt habe. Hatte ich eines gecrackt, nahm ich mir das nächste mit einem komplizierteren Schutz vor. Der Weg war das Ziel.

 

Ich begann, meine Dienstleistungsspezialität »PC-Installation« an Freunde und Verwandte zu verkaufen. Von dem ersten verdienten Geld kaufte ich mir ein 14,4-K-Modem, das mich mit Mailboxen verband, von denen ich Software herunterladen konnte. Später folgte ein 36,6-Zyxel-Modem – 36 kbit, das empfindet man heute als »offline«, also »kein Netz«! – und der Zugang über AOL ins World Wide Web. Erinnerst du dich noch an die AOL-CDs? Eine Zeit lang trugen rund 50 Prozent aller weltweit hergestellten CDs das AOL-Logo, und jeder kannte natürlich den legendären Boris-Becker-Spot »Bin ich da schon drin, oder was?!?«.

Im letzten Jahr der Realschule gab es dann sogar Informatikunterricht mit allerdings schon für damalige Verhältnisse uralten Computern, die noch 5,25-Zoll-Diskettenlaufwerke hatten. Das fand ich immerhin spannender als den Frontalunterricht in Deutsch oder Geschichte. Es war neu, hatte auch einen praktischen Wert für mich, man konnte etwas anfassen und an der Hardware herumbasteln.

Eben weil ich das so interessant fand, hat mich eine Aussage meines Informatiklehrers damals besonders getroffen: Er nahm meinen Vater bei meiner Abschlussfeier zur Seite und sagte: »Herr Thelen, was auch immer Ihr Sohn in seinem Leben macht: Er sollte der Informatik fernbleiben!« Das hört sich rückblickend witzig an, aber es hat mich damals tief verletzt. Und wenn das seine verdammte Meinung war, hätte er es bitte schön mir sagen sollen und nicht meinen Eltern. Glücklicherweise haben meine Eltern nichts auf solche Aussagen gegeben und immer an ihren Sohn geglaubt, auch wenn Zweifel an mir manchmal durchaus berechtigt waren.

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