Seewölfe - Piraten der Weltmeere 293

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 293
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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-690-0

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Jetzt, in der Mitte des Monats November 1592, schien sich die Sonne ganz von der zerklüfteten Küstenlandschaft der Bretagne und der kabbeligen Wasserfläche des Atlantiks zurückgezogen zu haben. Am Himmel segelten bleigraue Wolkenfetzen entlang, die sich irgendwo hinter der östlichen Kimm verloren. Es war kühl, und der kalte Wind strich leise singend durch die Wanten und Pardunen der wracken Galeone, die vor der Nordküste der bretonischen Felseninsel Mordelles hilflos in der Dünung schaukelte.

Über das Hauptdeck der „Louise“, einstmals das Flaggschiff einer ganzen Piratenflotte, drang ein langgezogenes Stöhnen.

Yves Grammont wälzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Seite. Die rechte Hand hatte er gegen die Rippen gepreßt, sein weißes Hemd war blutverschmiert.

Aber nicht nur die schmerzhaften Fleischwunden, die über den ganzen Oberkörper verteilt waren, ließen ihn aufstöhnen, sondern auch die unbändige Wut, die sich wie ein Geschwür durch seinen Körper fraß. Er, Yves Grammont, einer der berüchtigsten Piratenkapitäne Frankreichs, hatte die größte Niederlage seines Lebens hinnehmen müssen. Jedesmal, wenn er daran dachte, wie dieser Philip Hasard Killigrew, den man den Seewolf nannte, ihn gedemütigt hatte, schloß er erneut in ohnmächtigem Zorn und blindwütigem Haß die Augen.

Mühsam versuchte Grammont auf die Beine zu kommen. Sein Blick fiel dabei auf Saint-Jacques, der sich nur wenige Schritte von ihm entfernt auf den Planken wälzte. Auch er, der ehemalige Kapitän der „Coquille“, stöhnte unter seinen Blessuren.

„Was, zum Teufel, ist mit dir los?“ fragte Grammont keuchend. Es gelang ihm, sich schwankend auf den Beinen zu halten. Sein Gesicht war kalkweiß, das Auge, das nicht von der schwarzen Binde verdeckt wurde, wirkte blutunterlaufen.

Saint-Jacques, der nicht besser aussah, drehte ihm den Kopf zu.

„Meine Schulter – und die Hüfte!“ stieß er hervor. „Verdammt, tu endlich was! Oder willst du, daß wir beide hier verrecken?“

Über Grammonts Lippen drang ein wütender Fluch.

„Schau mich an!“ zischte er. „Glaubst du vielleicht, daß ich noch wie ein Fohlen springen kann?“

Der flackernde Blick des Piratenführers tastete sich über die Decks der „Louise“ – oder vielmehr über das, was davon übriggeblieben war. Es gab tatsächlich noch einige Männer an Bord, die das Gefecht mit der „Hornet“ überlebt hatten. Außer fünf Kerlen aus seiner Bande, die teilweise apathisch auf den Planken hockten und, aus zahlreichen Wunden blutend, vor sich hin starrten, entdeckte er noch vier Engländer aus der Horde Easton Terrys, die ebenfalls auf seiner Seite gekämpft hatten. Auch sie sahen aus wie lebende Leichen.

Grammont wandte sich wieder dem verletzten Saint-Jacques zu.

„Warte einen Augenblick“, stieß er hervor, „ich werde mich um Verbandszeug kümmern. Irgendwo muß sich der verdammte Kasten mit den Quacksalbereien ja noch befinden.“

„Beeil dich“, winselte Saint-Jaques, der plötzlich um sein verlottertes Leben zu bangen schien, „beeil dich, oder ich krepiere!“ Wieder drang ein Stöhnen über seine schmalen Lippen.

Yves Grammont stolperte mehr, als daß er ging, auf das Schott des Achterdecks zu. Der große, athletische Mann, dem Kopftuch und Augenbinde ein verwegenes Aussehen verliehen, wirkte jetzt wie ein Greis, dessen Körper von der Gicht gekrümmt war. Unablässig fluchend bewegte er sich vorwärts. Die scharfen Windstöße, die über die Decks pfiffen, bemerkte er nicht. Ihm war heiß – vor Schmerz, Zorn und Haß.

Ja, er hatte sich tatsächlich zu früh die Hände gerieben, weil er den Seewolf gewaltig unterschätzt hatte. Der größte Teil seiner Flotte war von den beiden englischen Galeonen und diesem unheimlichen Schwarzen Segler mit den Nordmännern an Bord versenkt worden. Wenn man einmal von den Verlusten der vergangenen Tage und Nächte absah, hatten auch jetzt, beim letzten Gefecht, wieder mehrere Schiffe daran glauben müssen.

Die „Coquille“ und eine Karavelle des Viererverbandes aus Saint-Nazaire waren versenkt worden. Eine weitere Galeone war durch die fürchterlichen Höllenflaschen der englischen Bastarde zerfetzt worden, und das letzte noch intakte Schiff hatte sich in Anbetracht der gewaltigen Schlagkraft der Engländer hinaus auf See verzogen.

Die „Louise“, auf der er selbst blutend zurückgeblieben war, erinnerte nur noch in Fragmenten an ihr einstmals so stolzes Aussehen.

Auch an Menschen hatte Yves Grammont gewaltige Einbußen erlitten. Pierre Servan und Jean Bauduc waren tot. Desgleichen Ferret, Jules Arzot und zahlreiche andere Männer aus seiner Bande. Zudem hatten noch einige der englischen Meuterer, die unter Terrys Führung für ihn gekämpft hatten, ins Gras beißen müssen. Darunter auch Halibut, der Kerl mit der platten Nase und dem stumpfsinnigen Gesichtsausdruck. Easton Terry lebte zwar noch, aber er war von den Seewölfen gefangengenommen worden.

Yves Grammont fand die Holzkiste, in der das Verbandszeug aufbewahrt wurde. Stöhnend und mit zusammengebissenen Zähnen versorgte er seine Wunden. Dann schleppte er, müde und gebeugt, die Kiste an Deck, um auch Saint-Jacques und die anderen Männer zu verbinden.

Der Kapitän der gesunkenen „Coquille“ lag immer noch wimmernd auf den Planken.

„Ich – ich sterbe! Mon dieu – ich verblute!“ jammerte er. Hilfesuchend streckte er Grammont eine Hand entgegen.

Doch der Bandenführer war aus härterem Holz geschnitzt.

„Hör auf mit dem Gejammer!“ fauchte er Saint-Jacques an. „Bist du ein Mann oder ein verheultes Weibsstück, he? So schnell, wie du meinst, stirbt man nicht! Jetzt hoch mit dir, sonst kann ich dich nicht verbinden!“ Obwohl selbst noch auf wackligen Beinen stehend, packte er den Verletzten, richtete dessen Oberkörper auf und legte ihm die nötigen Verbände an.

Dann nahm er sich die übrigen Kerle der Reihe nach vor, deren Verletzungen jedoch weniger schwer waren. Meist hatten sie Beulen oder Schrammen davongetragen.

„Macht, daß ihr so rasch wie möglich wieder auf die Beine kommt!“ brüllte Grammont sie an. „Wir können uns nicht auf die faule Haut legen und auf den Winter warten. Wenn es diesem Killigrew einfällt, kehrt er zurück und schießt uns endgültig in Fetzen!“

Diese düster gefärbten Zukunftsaussichten schienen zu wirken. Einer nach dem anderen raffte sich auf.

Grammont arbeitete sich abermals über die Trümmer weg und drang bis zum Achterkastell vor. Da hörte er plötzlich einige klatschende Geräusche. Reflexartig fuhr er herum und verzog dabei das Gesicht zu einer Grimasse, weil die jähe, unkontrollierte Bewegung ihm erneute Schmerzen bereitete.

Da aber sah er, was geschehen war.

Die vier Engländer, die mit Terry an Bord gewesen waren, schienen sich verholen zu wollen. Jedenfalls waren sie über Bord gesprungen und schwammen mit weit ausholenden Bewegungen auf die Insel zu – wahrscheinlich, um sich dort zu verkriechen.

Grammont spuckte verächtlich auf die Planken.

„Feiges Pack!“ brüllte er. „Paßt auf, daß euch die vollen Hosen nicht nach unten ziehen!“

Im ersten Moment verspürte er das Verlangen, sich ein Tromblon zu holen und den feigen Burschen einige Ladungen gehacktes Eisen und Blei nachzuschicken, dann aber verzichtete er darauf. Sollten sie doch abhauen! Mit diesen Mistkerlen war sowieso nichts mehr anzufangen.

Er trat an die zerfetzte Schmuckbalustrade des Achterkastells und warf einen Blick auf die fünf Männer aus seiner Bande.

„Und ihr?“ brüllte er. „Wollt ihr auch die Ärsche zukneifen und verschwinden?“

Die verludert aussehenden Kerle, die alle irgendwelche Verletzungen abgekriegt hatten, blickten sich einen Atemzug lang irritiert an.

Dann brüllte einer von ihnen zurück: „Sind wir vielleicht Engländer, he?“

Über das Gesicht Grammonts huschte seit langer Zeit das erste Grinsen.

„Gut so!“ rief er zurück. „Wir geben noch lange nicht auf! Und wir werden eine Gelegenheit finden, uns an den englischen Bastarden zu rächen!“ Schweren Schrittes stapfte er ins Achterkastell und suchte dort seine Kapitänskammer auf.

Aber dort wartete eine neue Überraschung auf ihn, und zwar eine verdammt böse Überraschung.

In der Kammer sah es aus, als hätten die Vandalen gehaust. Selbst eine Kanonenkugel hätte kein größeres Durcheinander anrichten können. Es hatte hier ganz offensichtlich ein Kampf stattgefunden. Aber warum gerade in der Kapitänskammer? Alles lag kreuz und quer übereinander. Schapps und Spinde waren aufgerissen worden, ihr Inhalt lag verstreut auf den Bodenplanken. Selbst die Koje hatte man auseinandergenommen.

 

Erst als der Blick Grammonts auf das Brettergeviert seiner Koje fiel, begriff er, was hier tatsächlich geschehen war.

„Das Gold!“ murmelte er vor sich hin. „Bei allen Teufeln und Heiligen – das Gold ist weg!“ Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag und ließ ihn für einen Augenblick sämtliche Schmerzen vergessen.

Hastig arbeitete sich Grammont an die Koje heran, schleuderte die aufgestemmten Bretter zur Seite und griff in die Nische, in der er eine Schatulle voller Goldmünzen versteckt hatte.

Er hatte sich nicht getäuscht. Das Versteck war leer, die Schatulle war weg.

Es handelte sich zwar nicht um unermeßliche Reichtümer, aber dennoch hatte er dort einen recht erheblichen Anteil von den Geldern versteckt, die er bis jetzt von den Spionen des spanischen Hofes für seine Störaktionen gegen englische Schiffe erhalten hatte.

Yves Grammont richtete sich mit irrem Blick auf. Aus seiner Kehle löste sich ein Schrei, der die wracke Galeone bis in die letzten Verbände erzittern ließ. Und die Flüche, die sich diesem Schrei anschlossen, ließen mit Sicherheit nicht nur alle Heiligen, sondern auch sämtliche Dämonen der Hölle erblassen.

Der Piratenführer wankte wie ein Betrunkener aus der Kapitänskammer. Den Verlust von Schiffen und Menschen – den ertrug er gerade noch. Aber das Verschwinden einer großen Schatulle, angefüllt mit Münzen aus purem Gold, das konnte auch einen Mann wie Yves Grammont aus den Stiefeln heben.

„Der Himmel hat sich gegen mich verschworen“, stammelte er. „Alle lichten und dunklen Mächte müssen sich gegen mich zusammengerottet haben!“

Er hatte gar nicht so unrecht mit diesen finsteren Vermutungen, denn das Schicksal hielt an diesem schwarzen Tag noch weitere Überraschungen für ihn bereit.

Die nächste begegnete ihm bereits, als er das Achterkastell verlassen wollte. Das leise, aber anhaltende Zischen, Gurgeln und Plätschern entging ihm nicht. Und er registrierte auch, daß diese Geräusche aus dem Inneren der gemächlich dahintreibenden „Louise“ drangen, genauer gesagt: aus den unteren Schiffsräumen.

„Was ist los mit dir? Warum hast du so laut gebrüllt?“ fragte Saint-Jacques, der sich in der Zwischenzeit ebenfalls wieder aufgerafft hatte und Grammont mühsam zum Achterkastell gefolgt war.

Aber der Bandenführer bedachte ihn statt einer Antwort mit einem Blick, der Wut, Haß und Entsetzen zum Ausdruck brachte. Wortlos deutete er mit dem Zeigefinger nach unten.

Da hörte auch Saint-Jacques das Plätschern und Gurgeln. Seine tiefliegenden Augen weiteten sich vor Schreck, dann stützte er sich auf die Reste der Schmuckbalustrade, während Grammont unter Deck verschwand, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Als der Piratenkapitän zurückkehrte, strahlte sein Gesicht eine geradezu unheimliche Ruhe aus. Und Saint-Jacques wußte augenblicklich, daß es die Ruhe vor dem großen Sturm war. Er wagte jetzt nicht, eine Frage zu stellen, sondern blickte dem Kapitän der „Louise“ lediglich stumm entgegen.

„Die Stunden der ‚Louise‘ sind gezählt“, sagte Grammont mit fast tonloser Stimme. „Das Wasser in den unteren Räumen steigt unaufhaltsam. Selbst wenn wir hundert Mann an Bord hätten, könnten wir die Lecks nicht mehr rechtzeitig abdichten.“

„Aber – warum Lecks?“ stammelte Saint-Jacques, dem jetzt kalte Schauer über den Rücken jagten. „Wir haben doch keinen Treffer unterhalb der Wasserlinie abgekriegt!“

Grammont nickte.

„Das nicht. Aber bevor die Hunde das Schiff verließen, haben sie es angebohrt! Und glaube mir, sie haben ganze Arbeit geleistet!“

Für einen Augenblick schien es, als habe sich Yves Grammont resigniert in sein Schicksal gefügt. Aber Saint-Jacques kannte ihn, er wußte instinktiv, was noch folgen würde.

Und es folgte.

Urplötzlich, wie der Ausbruch eines gewaltigen Sturmes, brüllte Grammont auf, fuhr herum und trommelte mit den Fäusten gegen die Wände des Achterkastells. Er schrie, spuckte, tobte und raste wie ein Irrsinniger. Dabei stieß er mit dem Kopf gegen das Holz, als müsse er ganze Mauern einrennen. Vor seinen Mund trat Schaum, und sein unheimliches Gebrüll erinnerte an eine Ochsenherde, die man zur Schlachtbank führt.

Saint-Jacques, der schon manchen Tobsuchtsanfall Grammonts miterlebt hatte, wich entsetzt zurück, denn jetzt – jetzt packte ihn tatsächlich die nackte Angst.

2.

Der Dreierverband, der mit achterlichem Wind auf das bretonische Hafenstädtchen Concarneau zusegelte, sah rein äußerlich recht harmlos aus.

Die beiden englischen Dreimastgaleonen „Hornet“ und „Fidelity“ wirkten wie Handelsschiffe. Aber genau das waren sie nicht. Entsprechend dem Geheimauftrag der englischen Königin, der seinen geheimen Charakter durch den Verrat Easton Terrys längst verloren hatte, waren die Segler hervorragend armiert. Beide waren mit je zwanzig Culverinen und sechs Drehbassen bestückt, wenn man von den Schleudervorrichtungen absah, mit denen man hochgefährliche Flaschenbomben auf die Reise schicken konnte.

Die „Hornet“ segelte unter dem Kommando Philip Hasard Killigrews, des Seewolfs, und die „Fidelity“ stand unter der Befehlsgewalt von Jerry Reeves, der den verräterischen Easton Terry als Kapitän abgelöst hatte.

Das dritte Schiff, eine merkwürdige Mischung aus Galeone und fernöstlicher Dschunke, mit schwarzem Rumpf und ebenso schwarzen Segeln, trug den poetischen Namen „Eiliger Drache über den Wassern“, wurde aber meist nur der Schwarze Segler genannt. Er stand unter dem Kommando Thorfin Njals, des Wikingers, der dem Seewolf und seinen Männern sehr eng verbunden war.

Die „Hornet“, bei deren Kapitän die Leitung des ganzen Unternehmens lag, fuhr als Flaggschiff, die „Fidelity“ und der Schwarze Segler, der erst vor kurzem zufällig mit den Seewölfen zusammengetroffen war, folgten ihr in Dwarslinie.

Die Ereignisse der letzten Stunden waren auf den drei Schiffen Gegenstand vieler Gespräche und Debatten. Alle waren froh darüber, daß es ihnen gelungen war, Yves Grammont, dem Handlanger der spanischen Spione, eine weitere vernichtende Niederlage zugefügt zu haben. Aber sich so richtig darüber freuen – nein, das konnte im Augenblick niemand.

Das, was insbesondere den Seewölfen an Bord der „Hornet“ an die Nieren ging, war das ungewisse Schicksal Paddy Rogers. Die Unklarheit über das, was mit dem bulligen Mann mit den roten Haaren und der gemütlichen Knollennase geschehen würde, schwebte wie ein dunkler Schatten am Horizont.

Und alle Gespräche und Diskussionen dienten letztlich nur dazu, die Nervosität und die bange Erwartung dessen, was vielleicht eintreten könnte, zu überdecken. Die Gedanken aller kreisten immer wieder um das, was zur Zeit in einer stillen Kammer des Achterdecks geschah.

Dort würde sich das weitere Schicksal Paddys – zwar nicht grundlegend, aber doch zu einem großen Teil – entscheiden.

Paddy Rogers lag schwer atmend auf einem langgestreckten Tisch. Die Musketenkugel, die Lucio do Velho, der Anführer der spanischen Spione, ohne Vorwarnung auf ihn abgefeuert hatte, war ihm in die Brust gedrungen. Paddy war zwar am Leben geblieben, aber bis zur Stunde wußte niemand, welche inneren Verletzungen das Geschoß herbeigeführt hatte. Im Augenblick sah es schlimm um ihn aus.

In der Achterdeckskammer brannten mehrere Talglampen, denn ausreichende Sicht war eine Grundvoraussetzung für das Gelingen einer Operation. Niemand durfte den Raum betreten außer denjenigen, die dem Kutscher zur Hand gehen sollten. Der Seewolf, als Kapitän der „Hornet“, hatte natürlich ebenfalls Zutritt.

Abgesehen von dem Verletzten, war der Kutscher jetzt die Hauptperson, denn er war nicht nur ein ausgezeichneter Koch, sondern auch ein hervorragender Feldscher. Da niemand seinen richtigen Namen kannte, wurde er nur „der Kutscher“ genannt, weil er als solcher vor Jahren in den Diensten von Sir Anthony Freemont, einem Arzt in Plymouth, gestanden hatte. Dort hatte er sich auch seine guten Kenntnisse der Heilkunst angeeignet, denen es heute mancher verdankte, daß er noch unter den Lebenden weilte.

Mac Pellew, der von Philip Hasard Killigrew aus dem Schuldturm von Plymouth freigekauft worden war, in dem er wegen eines Kreditwucherers schuldlos gesessen hatte, würde dem Kutscher bei der Operation assistieren.

Auch er, ein Mann mit ewig griesgrämigem und sauertöpfischem Gesicht, verstand eine ganze Menge von solchen Dingen. Nicht umsonst war er schon vor vielen Jahren auf der „Marygold“ unter Sir Francis Drake als Koch und Feldscher gefahren. Aus dieser Zeit war er auch dem Seewolf bekannt. Außerdem war er ein absolut zuverlässiger Mann, mit dem in jeder Situation etwas anzufangen war.

Seit seiner „Befreiung“ aus dem Schuldturm gehörte der alte Mac, wie er oft genannt wurde, zur Seewölfe-Crew. Und er fühlte sich verdammt wohl in dieser rauhen, aber anständigen und fairen Mannschaft.

Doch außer Mac Pellew hatte der Kutscher noch Philip und Hasard junior, die zwölfjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs, zum Achterdeck beordert, natürlich im Einvernehmen mit ihrem Vater. Schließlich sollten die beiden fixen Burschen, die der Profos meist in rauher Herzlichkeit als „Rübenschweinchen“ bezeichnete, auch etwas lernen. Der Anblick, der mit einer Operation zwangsläufig verbunden war, wirkte zwar nicht unbedingt erquickend, doch die beiden Jungen hatten sich bis jetzt immer als recht beherzt erwiesen. Und erlebt hatten sie in ihrem jungen Leben auch bereits eine ganze Menge.

Damit war das Team der Knochenflicker eigentlich komplett, wenn man von dem einzigen „Zaungast“ absah, den der Kutscher im Logis duldete. Es handelte sich um Jack Finnegan, den besten Freund Paddys. Er war damals gemeinsam mit Paddy Rogers aus dem Mittelmeer gefischt worden, und beide gehörten seitdem zur Crew.

Von Jack, einem harten und intelligenten Burschen, war in dieser Situation zwar keine Hilfe zu erwarten, aber der Kutscher hatte ihm dennoch erlaubt, weiter hinten im Raum auf einer Holzbank Platz zu nehmen, weil er nicht mehr mit ansehen konnte, wie sich Jack immerzu nervös und schwitzend die Hände rieb.

Der Kutscher versuchte seinen Patienten zu beruhigen.

„Es gibt Schlimmeres, Paddy“, sagte er. „Ein Kerl wie du wird das bißchen Gepikse verkraften. Außerdem bleiben dir sämtliche Arme und Beine dran, und das ist auch was wert, nicht wahr?“

Paddy Rogers, der manchmal kurz aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, schien tatsächlich leicht zu nikken. Dann drang ein schwaches Stöhnen aus seinem Mund.

Der Kutscher nickte Mac Pellew zu.

„Gib ihm einen anständigen Schluck, Mac. Vielleicht macht ihm die Sache dann sogar Spaß.“

So aufgekratzt, wie sich der Kutscher gab, war er in Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil, er hegte noch immer ernste Bedenken, und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie die Sache für Paddy ausgehen würde. Die Musketenkugel steckte im Herz-Lungen-Bereich, und das war eine verdammt heikle Gegend innerhalb des menschlichen Körpers.

Mac Pellew nutzte den wachen Moment Paddys aus und setzte ihm die Rumflasche an die Lippen. Er trank, wenn auch nur mühsam und in winzigen Schlucken.

Der Kutscher schnallte inzwischen dem Verletzten Arme und Beine mit einem speziell dazu angefertigten Ledergurt fest. Dann wandte er sich an die Zwillinge.

„Wie sieht’s bei euch aus?“ fragte er. „Ist genug heißes Wasser da? Und habt ihr auch an die sauberen Leinentücher gedacht?“

„Aye, Sir, es ist alles da!“ erklärte Philip junior.

„Auch das Messingbecken mit den glühenden Holzkohlen“, ergänzte Hasard.

Der Kutscher nickte zufrieden und betrachtete den Inhalt seiner Instrumentenkiste, die er auf einer der Holzbänke abgestellt hatte.

„Soll ich noch eine Flasche öffnen?“ fragte Mac.

Der Kutscher schüttelte den Kopf.

„Das reicht, Mac. Zuviel Rum ist der Sache auch nicht gerade förderlich. Außerdem ist Paddy kein zartes, junges Kätzchen, sondern ein ausgewachsener Kleiderschrank. Er wird es verkraften!“

Immer wenn der Kutscher seine „Marterwerkzeuge“ auspackte, verfolgten die Zwillinge den Vorgang mit gemischten Gefühlen, auch wenn es nicht das erste Mal war, daß sie ihm bei einem solch unliebsamen Geschäft zur Hand gingen.

Die kleinere Kiste mit den Flaschen und Töpfen, die so manche geheimnisvolle Arznei enthielten, war noch das harmloseste.

Viel aufregender sahen die anderen Instrumente aus, die der Feldscher nebeneinander auf das saubere Leinentuch ordnete, das er über eine Bank geworfen hatte. Alles war da vertreten – Messer, Zangen, Lanzetten, Krummskalpelle in verschiedenen Größen, außerdem Bohrer, Scheren, Nadeln und Pinzetten. Auch das beilartige Kauterium, ein Brenneisen zum Ausbrennen und Ausätzen von Wunden, sowie die berüchtigte Amputationssäge fehlten nicht. Letztere würde der Kutscher, dem Himmel sei Dank, bei Paddy nicht verwenden müssen, denn seine Knochen und Glieder waren heil geblieben.

 

Paddy Rogers kriegte die Vorbereitungen nicht mehr mit, denn eine weitere Bewußtlosigkeit sowie der Rum, den Mac ihm verabreicht hatte, taten ihre Wirkung.

Hasard junior warf seinem Bruder einen prüfenden Blick zu.

„Du wirst grün im Gesicht“, sagte er mit leiser Stimme.

„Ich?“

„Ja, du!“

„Bei dir nistet wohl ’ne Möwe unter der Schädeldecke!“

Aber Jung Hasard beharrte auf seiner Feststellung. „Und doch bist du grün im Gesicht!“

Philip junior ballte bereits eine Hand.

„Wenn du blaßgesichtiger Stint das noch ein einziges Mal behauptest, dann …!“

Der Kutscher fuhr dazwischen.

„Donnerwetter!“ schimpfte er. „Wenn ihr beiden grünen Heringe nicht sofort eure Futterluken abschottet, werde ich eure Hinterteile mal mit dem Brandeisen tätowieren!“

„Jawohl“, bestätigte Mac, der von der Einschußstelle auf Paddys Brust bereits die Verbände entfernt hatte, „damit lassen sich eure Achtersteven wunderschön numerieren. Und zu frieren braucht dabei auch keiner!“

Jack Finnegan, der nach wie vor auf der Holzbank hockte, sagte kein Wort, obwohl er – genaugenommen – der einzige im Logis war, der tatsächlich leicht grün im Gesicht wirkte.

Der Kutscher begann damit, die Wunde zu säubern. Von jetzt an gab er fast nur noch knappe Anweisungen, denn einerseits galt es, Paddy so rasch wie möglich von der Kugel zu befreien, andererseits wollte er den Mann mit der Knollennase auch nicht länger als nötig piesacken.

„Wasser!“ befahl er kurz.

Philip junior hielt ihm eine dampfende Schüssel entgegen.

„Tücher!“

Hasard junior erwies sich als flink und folgsam.

Über Paddy Rogers’ halbgeöffnete Lippen drang ein Stöhnen, als der Kutscher vorsichtig die Wunde säuberte und freilegte. Mac hielt inzwischen die benötigten Instrumente übers Feuer.

Dann begann die eigentliche Operation.

Die Zwillinge, die ihr „Gefecht“ bis jetzt noch heimlich und verstohlen mit einem Grimassenabtausch fortgesetzt hatten, wirkten plötzlich ruhig und konzentriert. Und das war auch wichtig, denn der Kutscher brauchte ständig etwas anderes.

Paddys Stöhnen wurde lauter und anhaltender. Sein Gesicht war kalkweiß und schweißüberströmt. Trotzdem konnte es ihm der Kutscher nicht ersparen, eine lange Pinzette in die Wunde einzuführen.

Während Mac Pellew ihm die Instrumente zureichte, sorgte Hasard dienstbeflissen für Wasser und Tücher. Philip hatte sich ans Kopfende begeben und tupfte Paddy mit einem sauberen Stück Leinen den Schweiß aus dem Gesicht.

Wie lange die ganze Prozedur andauerte, hätte niemand zu sagen gewußt. Das Gefühl für Zeit hatten die beiden Männer und die Zwillinge rasch verloren, denn Paddy Rogers, der abwechselnd stöhnte und mit den Zähnen knirschte, erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Irgendwann war das Glasen der Schiffsglocke zu hären, dann herrschte wieder Stille im Achterdeck der „Hornet“. Nur die kurzen Anweisungen des Kutschers wechselten mit den Schmerzenslauten Paddys.

Jack Finnegan rutschte schweigsam auf der Bank hin und her, als säße er auf glühenden Kohlen. Auch auf seinem Gesicht glänzte der Schweiß. Aber er störte niemanden bei seiner Arbeit.

Schließlich brüllte Paddy laut auf wie ein verwundetes Tier. Aber da war das Schlimmste bereits überstanden. Der Kutscher hielt plötzlich ein blutiges Stückchen Blei in der Pinzette und begutachtete es kurz im Schein einer Talglampe.

„Jetzt haben wir’s“, sagte er mit ruhiger Stimme, legte das Utensil zur Seite und begann abermals damit, die Wunde zu säubern. Schließlich wurde eine schwarz aussehende Tinktur aus einer der geheimnisvollen Flaschen aufgetragen und danach ein fachgerechter Verband angelegt.

Die Operation war beendet, das Geschoß entfernt worden. Was aber war mit Paddy? Diese Frage stand unausgesprochen im Raum.

Schließlich unterbrach der Kutscher sein Schweigen.

„Sag deinem Vater, daß wir fertig sind!“ befahl er Philip.

Während der Bengel losrannte, um den Seewolf zu benachrichtigen, winkte der Kutscher Mac Pellew und Jack Finnegan herbei.

„Los, packt mal mit an! Wir können Paddy nicht einfach auf dem Tisch liegen lassen. Am besten ist er jetzt in der Koje aufgehoben.“

Mit vereinten Kräften gelang es, den besinnungslosen Mann in die Koje zu verfrachten.

Jack Finnegan konnte die Frage, die im Raum schwebte, nicht länger unterdrücken.

„Verdammt, Kutscher, mach endlich das Maul auf!“ stieß er hervor. „Was ist mit Paddy? Wird er – ich meine, wird er alles gut überstehen? Du mußt wissen, mich verbindet eine ganze Menge mit ihm! Also, heraus mit der Sprache, ich will wissen, was los ist!“

Bevor der Kutscher antworten konnte, wurde das Schott geöffnet, und der Seewolf erschien. Auch auf seinem Gesicht lag eine stumme Frage. Die eisblauen Augen des über sechs Fuß großen Mannes blickten den Feldscher erwartungsvoll an.

Der Kutscher zuckte mit den Achseln.

„Nun“, begann er, „ich bin ein einfacher Mann, der nicht hinter die Kimm schauen kann. Deshalb kann ich auch noch nicht sagen, wie sich die Sache weiterentwickeln wird. Was die Kugel betrifft, hat Paddy Glück im Unglück gehabt. Herz und Lunge sind nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, und das ist im Augenblick das Wichtigste …“

„Na also!“ unterbrach ihn der hagere Jack Finnegan. „Das Ding ist raus, und morgen wird Paddy wieder mächtig auf die Pauke hauen!“

„Ganz so einfach ist das leider nicht“, fuhr der Kutscher fort und versetzte damit Jacks Optimismus einen Dämpfer. „Ein Steckschuß im Herz-Lungen-Bereich ist was anderes als ein Kaktusstachel im Achtersteven.“

„Aber verdammt, die Kugel ist doch raus!“ brüllte Jack.

„Das schon“, sagte der Kutscher, „aber es ist eine gefährliche Wunde da, die erst verheilen muß, bevor der gute Paddy Grammonts Schnapphähnen frische Beulen verpassen kann. Ob er wirklich alles gut überstehen wird, zeigt sich erst innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden, denn wir müssen damit rechnen, daß sich – wie fast immer in solchen Fällen – hohes Fieber einstellen wird. Wenn dieser kritische Punkt überstanden ist, ja, dann hat es Paddy endgültig geschafft.“

Jack Finnegan mußte bei dieser Auskunft ein äußerst unglückliches Gesicht gezogen haben, denn Hasard junior packte ihn am Handgelenk und schüttelte es kameradschaftlich.

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