Hockey Hell of Fame

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Hockey Hell of Fame
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Inhaltsverzeichnis

Hockey Hell of Fame

Vorwort

Brian Spencer

Joe Murphy

Bill Goldthorpe

John Ferguson

Mark Pavelich

Gilles Gratton

Derek Sanderson

Bernie Saunders

Joe Hall

Vladimir Konstantinov

Robert Dietrich

Pinguin Pete

Literatur

Bildnachweis / Über Frank Bröker

Hockey Hell of Fame

Zwölf bewegende Eishockeybiografien


1. Auflage 2020 © Verlag Andreas Reiffer | edition kopfkiosk | Bd. 04

ISBN 978-3-945715-01-7, identisch mit der Printausgabe

Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine, www.verlag-reiffer.de

Bill Barilko disappeared that summer

He was on a fishing trip

The last goal he ever scored

Won the Leafs the cup

They didn’t win another till nineteen sixty two

The year he was discovered

I stole this from a hockey card

I keeped tucked up under

»Fifty-Mission Cap«

The Tragically Hip

Vorwort

Frank Bröker / Hockeyfan

Jede Sportart hat ihren ultimativen Traum. Im Eishockey erzählt er von der National Hockey League (NHL), vom atemberaubenden Streben nach dem Stanley Cup, von Helden, Heilsbringern und Identifikationsfiguren schlechthin. Nach außen hin wird das Spiel mit der Scheibe als blütenreines Produkt, als letzter echter, unverfälschter Mannschaftssport verkauft. Von den Schattenseiten und Nebenwirkungen erfährt man wenig.

»Hockey Hell of Fame« steckt voller Geschichten und Anekdoten über aufgebrauchtes Glück und darüber, wie obskur, tragisch, aber auch befreiend manche Karriere abseits der sportlichen Ewigkeit endete. Bei meiner Recherchearbeit traf ich auf illustre, mit teils herben Schicksalsschlägen verknüpfte Spieler. Deren oftmals fatalistische Sehnsuchtsziele berührten mich genauso wie das kurze Dasein eines tierischen Maskottchens. Sinnbildlich dafür, wie rasch die Showtime zu Ende sein kann und man als ausgestopfte Figur hinter Glas landet.

Die Auswahl zwischen Erfolg und Wahnsinn könnte unterschiedlicher nicht sein und ist zugleich an Freud und Leid geknüpft. Zum Beispiel in Gedenken an Robert Dietrich, der durch einen Flugzeugabsturz aus dem Leben gerissen wurde.

Jede Sportart hat ihre Traumdeutung. Wer sich (ohne selbst aktiv zu sein) in puncto Eishockey damit beschäftigt, wird folgendes herausfinden: Erstens – Träume vom rasanten Spielgeschehen deuten auf einen (messerscharfen) Überlebenskampf hin, der auf rutschiger Unterlage (mit allerlei Schwierigkeiten) um jeden Preis zu gewinnen ist. Zu prüfen ist dabei unbedingt, ob verschlüsselte Botschaften verstorbener Vorfahren eine Rolle spielen. Zweitens – Wer sich eines solchen Alltagskampfes nicht bewusst ist, wird auf schlummerndes Talent hingewiesen und mit Bravour angestachelt, Großes leisten zu können. Ein hübsches, weil recht stimmiges Deutungsmuster, wie ich finde.

Brian Spencer

Left & Right Wing

Zeig ihnen die Hölle!

Als die Zwillinge Brian und Byron Spencer am 3. September 1949 das fahle Deckenlicht eines Farmhauses in der Nähe von Fort St. James, einem ehemaligen Handelsposten in der nordkanadischen Pampa, erblickten, holte Vater Roy einen guten Tropfen aus dem Vorrat. Noch ehe die Flasche leer war, erklärte er vor versammelter Mannschaft: »Meine Jungs werden Hockeyprofis. Einer von ihnen wird der nächste Teeder Kennedy.« Die Hebamme zuckte mit den Schultern, Mutter Mildred seufzte, und Brian und Byron schrien sich die Kehlen aus dem Leib. In einem Monat würde die NHL-Saison beginnen und ein langer, schneereicher Winter bevorstehen.

Roy Spencer hielt seit jeher auf die Toronto Maple Leafs, denen in der vergangenen Cup-Finalserie gegen die Detroit Red Wings der Sweep gelungen war. Mit aller Glorie hatten sie zum wiederholten Mal die gefürchtete Production Line um Gordie Howe, Sid Abel und Ted Lindsay geknackt. Es war die Zeit der Original Six, bestehend aus den Boston Bruins, Montreal Canadiens, New York Rangers, Chicago Black Hawks, den Red Wings und den Leafs. Lange bevor sich die Hockey-Landkarte veränderte.

Brian und Byron Spencer lernten laufen und skaten zugleich. Vater Roy legte Jahr um Jahr Spritzbahnen an. Winters brachte er den Söhnen darauf alles bei, was er über Hockey wusste. Er scheuchte sie übers Eis, war ihr Coach, der sie ins Kreuzverhör nahm, wenn der eine den anderen nicht standesgemäß gegen die gezimmerten Banden checkte. Zu gerne wäre Roy selbst Profi geworden, doch das Leben hatte ihm das Los eines Farmers gegeben, der die Landmaschinen als Mechaniker selbst zu reparieren wusste. Die Familie hielt er mit knapper Not über Wasser und trotzdem die Geschäfte nie gut liefen, kratzte er alle Barschaften zusammen, um wenigstens einen der Söhne auf eine Hockeyschule zu schicken.

Seine Wahl fiel auf Brian, den talentiertesten, ehrgeizigsten. Und Brian fiel aus allen Wolken, als die Botschaft angekommen war. Er schwor unter Tränen, unter Schlägen, es in die Big League zu schaffen. Einmal auch, als er vom Vater aus dem Arrest abgeholt wurde. Gemeinsam mit dem Bruder hatte er aus Jux und Tollerei einen Kaugummiautomaten von der Wand gerissen und das Münzgeld eingesteckt. Brian war zum ersten Mal kriminell geworden.

Schlafen, essen, Hockey. Mit harter Arbeitsmoral, mit ebensolchen Trinkgewohnheiten lebte Roy das stürmische Leben auf und neben dem Eis vor. »Zeig ihnen die Hölle!« Ein Mantra, das Brian bei jedem Match in den Ohren lag. Roy tigerte derweil nervös abseits der Banden auf und ab, schimpfte auf die Schiedsrichter, die Gegner, den Coach. Um die Anspannung zu lindern, griff er in die Manteltasche, in der die Flachmänner gebunkert waren. Auch mit Brian ging er hart ins Gericht, faltete ihn zusammen, wenn die Position nicht stimmte, wenn eine Torchance versemmelt wurde. Will heißen: Roy war einer jener hitzköpfigen Väter, die man getrost ein ganzes Spiel lang in die Penalty-Box verfrachten könnte.

Und Brian? Arbeitete bis zum Umfallen, stemmte Eisen, trainierte, um auf den Zetteln der Scouts zu landen. Stets mit dem festen Glauben daran, ES schaffen zu wollen. Denn Brian wollte weg, für immer weg. Vom Vater, den er hasste und zugleich liebte. »Eines Tages«, sagte er sich, »komme ich zurück nach Fort St. James und dann wird er sehr stolz auf mich sein, auf den Sohn aus der Big League.«


Mit 17 Jahren kam Brian dieser Idee näher. Das Ticket nach Osten, nach Calgary, wo er in der Saison 1967/68 für die Centennials in der Western Canada Hockey League (WCHL) zunächst gesetzt und dann an die Regina Pats weitergereicht wurde, wirkte befreiend. Im zweiten WCHL-Jahr stand er im Roster der Estevan Bruins und der Swift Current Broncos. Sein Nickname stammt aus dieser Zeit. Von Saskatchewan bis Alberta rief man ihn, diesen rauen, abgehackt skatenden Windhund in der Mittelgewichts-Kampfklasse »Spinner.« Ein Verrückter, ein Energiebündel, der sich ohne zu zögern in jeden Clinch warf und die Muskeln in alles hineindrehte, was ihm im Weg stand.

Die Juniorkarriere endete 1969 im besten Draft-Alter, als das achte Weltwunder geschah. Die Maple Leafs zogen Brian in der 5. Runde. Die Leafs! DAS Team seines Vaters, der vor Stolz glühte und erst nach einer ausgiebigen Zechtour wieder zur Besinnung kam. Das Ticket in die Big League war im richtigen Trikot zum Greifen nah. Roy war sich dessen sicher und träumte nächtelang davon. Bald würde Brian die Lehrzeit im Farmteam der Tulsa Oilers überstanden haben und mit dem Ahornblatt aufs Eis marschieren. Alles würde seinen guten Lauf nehmen.

Auch Brian träumte. Nur anders. Von einer Filmkarriere in der Rolle des Bösewichts. Was wusste er schon von den Dingen, die bald passieren würden? Die aus einer tragischen Geschichte heraus jenes veritable Hollywood-Drama schnitten, in dem ein gelockter Kerl namens »Spinner« eine tragende Rolle einnehmen sollte?

 

In Tulsa fand sich Brian zunächst in den hinteren Spielerreihen wieder. Er biss sich wacker nach vorne durch, kämpfte an der Bande und punktete verlässlich. Die Leafs horchten auf. Was sie sahen, war ein nahezu kompakter Zwei-Wege-Stürmer, eine Flügelfräse, dessen Talent darin bestand, die gegnerische Topreihe zu zermalmen. Noch dazu neben dem Eis ein absoluter Musterknabe. Sie öffneten ihm die Tür, Brian war dazu auserkoren, der nächste Rookie zu werden. Die künftige #21 im blauweißen Jersey gab die Botschaft an Vater Roy weiter.

Zum Heimspiel gegen Chicago, am 12. Dezember 1970, sollte das NHL-Debüt unumstößliche Wahrheit werden. Mehr noch. Brian würde im Maple Leafs Gardens Interviews geben. Famose Aussichten für Roy, nur Geld für einen Trip nach Toronto besaß er nicht. Doch egal, CBC hatte angekündigt, das Spiel in der Hockey Night zu bringen. Roy musste also dafür sorgen, das TV-Signal im Haus empfangen zu können. Er erstand eine Antenne, scharrte Freunde und Familie um sich. Alle sollten Brian spielen sehen. Sie aßen und tranken.

Das Anbully rückte näher, die Anspannung stieg. Dann geschah das Unvermeidliche. Kurzfristig beschloss CBC ein anderes Match ins Programm zu nehmen. Roy sah dem Sprecher in die Augen, schüttelte den Kopf. Wie von der Tarantel gestochen, rannte er aus dem Farmhaus, stürzte in den Schnee, doch die Kälte vermochte es nicht, ihn zu beruhigen. Niemand konnte das. Roy musste etwas tun. Nur was? Auf jeden Fall zur TV-Station nach Prince George rasen, um die Sache ohne viel Federlesens zu klären.

Die Freunde applaudierten, peitschten ihn an. Dass Roy eine Schrotflinte mitnahm, wussten sie nicht. Dass er damit ins Gebäude des Senders einrücken und die Techniker auffordern würde, zum Spiel Toronto gegen Chicago zu schalten, hätten sie ihm nicht zugetraut. Doch genauso spielte es sich an diesem Samstagabend ab. Zeitgleich ging in der Polizeizentrale der Alarm los. Mit Blaurotlicht düste ein Wagen Richtung Sender. Die Mounties trafen Roy bereits außerhalb des Gebäudes an. In verirrten Gedanken saß er längst wieder zu Hause vorm Fernseher, Brian anfeuernd: »Zeig ihnen die Hölle!« Doch ausgerechnet jetzt war dieser Polizeiwagen neben ihm zum Stehen gekommen. Rotröcke stiegen aus, versperrten den Weg. Augenblicklich sollte er die Waffe fallenlassen und sich auf den Boden legen. Sie würden ihn überwältigen, in eine Zelle stecken, das konnte Roy nicht zulassen. Er riss die Flinte hoch, gab zwei Schüsse ab, traf einen der Officers. Das Feuer wurde erwidert. Kugeln durchbohrten ihn. Tödlich getroffen brach Roy zusammen. Der beste Tag seines kargen Lebens hatte sich in den schlimmsten verwandelt. Alles war zum Teufel.

Die Leafs schlugen Chicago und Brian erfuhr vom Tod seines Vaters, von den Umständen, wie es dazu gekommen war. Zunächst war er erschüttert, dann berappelte er sich in einer obskur stoischen Art. Von niemandem ließ er sich davon abhalten, weiter Hockey zu spielen.

Das Team flog nach Buffalo und siegte. Brian trug maßgeblich dazu bei und spielte freier auf denn je. Danach ging es auf direktem Wege zur Beerdigung.

Die Saison lief gut. Er sollte nur ein einziges Spiel verpassen. Das frühe Aus in den Playoffs war ein Wehrmutstropfen. Vater Roy hätte getobt.

Sommers zurück auf der Farm ließ Brian alles schleifen. Trauer und Wut brachen durch und bestimmten schnapslastige Tage.

Wie ein Geist und mental völlig von der Rolle schlug er zu Saisonbeginn im Trainingsquartier auf. Zunächst blieb er gesetzt, wohlweislich aus Mitleid, doch zustande brachte er wenig. Die letzten Fußnoten der Leafs-Karriere endeten mit der Ausmusterung nach Tulsa, verbunden mit einem Trade zu den 1972 in der NHL platzierten New York Islanders.

Brian erhaschte lichte Momente, fing sich. Tochter Nicole Irene war im Oktober zur Welt gekommen, er heiratete und scorte wieder im Konzert der Großen. Eine Cinderella-Oper wurde es nicht. Eher der Handgeldjob an einem Laientheater. Überhastet war das Expansionsteam aus Long Island nur deshalb zusammengeklaubt worden, damit die Konkurrenzliga World Hockey Association (WHA) im Big Apple keinen Fuß in die Tür bekommen sollte. Fast jedes Spiel ging mit Pauken und Trompeten verloren, Brian verzweifelte, man ließ ihn ziehen.

Unterschlupf fand er bei den Buffalo Sabres, die erstmals 1975 ein Stanley Cup-Finale erreichten. Die Fans liebten seine unberechenbaren Offensivqualitäten. Durch eine einzige Aktion entschied er im Alleingang manche Crunchtime frei nach Che Guevara: »Du hast keine Chance, nutze sie«. Den Cup holten am Ende die Knochenbrecher der »Broad Street Bullies« aus Philadelphia.

Brians Zenit war erreicht. Er kämpfte weiter, Verletzungen warfen ihn zurück. Es heißt: je verbissener man dem Erfolg hinterherrennt, desto mehr entfernt er sich. Und so gaben ihn die Sabres 1977 zu einem letzten, missglückten Engagement nach Pittsburgh ab, wo der Big League-Glamour drei Jahre später in den Minors verblasste, endete.

Was tun im besten Hockeyalter von 29 Jahren? Finanziell ausgesorgt hatte Brian lange nicht, die zweite Ehe war eben erst gescheitert. Er zog nach Florida, arbeitete als Mechaniker, Bars und Kneipen hatten es ihm jedoch mehr angetan. Brian wurde zu Roys Ebenbild. Nur, dass es damals in Fort Saint James weder Kokain noch Crack gab. In Florida schon. Zugedröhnt zog ihn der Arm des Gesetzes einige Male aus dem Verkehr.

Brian lebte im Schatten, tat sich mit einer Prostituierten zusammen, hatte eine Mord- und Entführungsklage mit besten Aussichten auf die Todesstrafe am Hals. »Freispruch aus Mangel an Beweisen,« lautete das Urteil. Drogengeschäfte folgten, das Leben auf der Überholspur geriet außer Kontrolle. Filmtitel: »Zeig ihnen die Hölle!« Letzte Szene: Am 3. Juni 1988 wird Brian in Florida auf einem Parkplatz von Dealern erschossen. Abspanntext: Zehn Jahre später sterben Tochter und Enkelkind bei einem Autounfall. Zitat darunter, verfasst vom kanadischen Dichter Al Purdy: »Eishockey ist eine Mischung aus Ballett und Mord.«

Joe Murphy

Right Wing

Auf den Straßen von Kenora

Am 21. Juni 1986 fand der NHL Entry Draft in Montreal statt. Bei Lichte besehen gehörte die Auswahl nicht zu den Allerstärksten und von einem 1984er-Coup (Lemieux! Roy! Hull!) war man mindestens eine Galaxie weit entfernt. First Overall Pick wurde Joseph Patrick Murphy, gezogen von den Detroit Red Wings. Ein dunkelhaariger College-Boy, bewaffnet mit irischem Charme, geboren in London, Ontario. Lange noch nicht wissend, was es braucht, um ein Superstar zu werden. Die Lehrjahre nach dem Draft mahnten an einen Klassiker der Weltliteratur, an Charles Dickens Große Erwartungen, in dem der talentierte Waisenjunge und Traumtänzer Pip unbekümmert in die weite Welt zieht und zunächst scheitern muss.

Bereits in der verkorksten Saisonvorbereitung wirkte »Murph« paralysiert und schien der großen Bühne nicht gewachsen zu sein. Vergleiche mit Greg Joly wurden laut, dem angeblich miserabelsten Top-Pick aller Zeiten. Hinzu kam Missgeschick. Vor der Auswärtspremiere verpasste er den Teamcharter. Der Coach schäumte, die Presse spottete. Murph musste geschützt werden und verbrachte die meiste Zeit im Farmteam der Adirondack Red Wings. Wie ein Hamster im Rad schaffte er es wieder hoch, fiel wieder runter. Ein ewiges Hin und Her mit dem Highlight einer AHL-Meisterschaft. Bleibt die Frage, was aus den anderen Draft-Grünschnäbeln wurde.

Neil Brady, die Nummer drei, sollte bei den New Jersey Devils Feuerwerke abbrennen, kalt geduscht verschwand er wegen Unbrauchbarkeit in der Versenkung. Jimmy Carson, Nummer zwei, mauserte sich bei den LA Kings zum Hochkaräter. Im August 1988 wurde er gemeinsam mit dem Frankokanadier Martin Gélinas das Sahnehäubchen im Wayne Gretzky-Trade zwischen den Kings und den Edmonton Oilers.

Vorschuss-Lorbeeren gab es dafür nicht. In Oil-Country hatten die Schockwellen über den Verlust des G.O.A.T. (Greatest of all time) verheerenden Schaden angerichtet. Pins mit der Aufschrift »99 Problems« gingen weg wie warme Pancakes mit Ahornsirup. »Carson – der neue Gretzky?« fragten die Gazetten. Pustekuchen. Da konnte man scoren, wie man wollte, und musste froh sein, von den Fans in der Arena nicht ausgepfiffen zu werden.

Während die taffe Wühlmaus Gélinas mit der Lage klar kam, drohte der sensible Carson daran zu zerbrechen. Zum Brandbeschleuniger fürs Selbstvertrauen addierte sich, dass der in der Nähe von Detroit betucht aufgewachsene Center des Lebens in Westkanada überdrüssig wurde. Es herrschte Rezession, das Elend war allgegenwärtig. Ende 1989 ließen ihn die Oilers gen Heimat ziehen und bekamen im Gegenzug überflüssiges Personal der Red Wings. So auch Joe Murphy und Adam Graves. Für beide sollte sich der Umzug als verfrühtes Weihnachtsgeschenk entpuppen.

Die Stimmung in Edmonton war nach wie vor mies. Der Erzfeind aus Calgary fuhr als Champion aufs Eis, mit Winnipeg saß weitere, starke Konkurrenz im Nacken. Mark Messier war einer der wenigen Hoffnungsträger und der Saisonbeginn 1989 eine Katastrophe. Es mangelte an allem, vordergründig am Scoring-Touch. Bis Murph und Graves kamen. Die Coaches stellten ihnen Martin Gélinas zur Seite. Fertig war sie, die »New Kid Line«, die als eine der populärsten aller Zeiten eingehen und zum Playoff-Motor werden sollte.

Besonders Murph blühte darin auf, flog schneller als jeder Schutzengel mit offenem Visier durch den Slot. Der Nickname »Jumpin’ Joe« stammt aus dieser Zeit.

Die Rock ’n’ Roll-Oilers waren zurück. Das einst offensiv spektakulärste Team aller Zeiten erstürmte wieder die NHL-Hitparade und die Fans im Coliseum staunten.

Im Divisionsfinale schauten Gretzkys LA Kings vorbei. Was niemand vorher für bare Münze gehalten hätte, trat ein. Los Angeles wurde nach vier Spielen eliminiert, Murph holte die Serie mit einem goldenen Overtime-Treffer nach Hause. Es kam noch besser. Im Mai 1990 krönte das große Hurra für die Ewigkeit die Saison in Boston. Kapitän Mark Messier reichte den Stanley Cup an Murph weiter, dessen Augen im freudigsten Karrieremoment leuchteten. Die Teammates scherzten, er sei aus einem stinkenden Müllkübel gefallen und würde nun wie ein Strauß Rosen duften.

Als die Party endete, schloss sich Adam Graves den New York Rangers an. Der Zauber der Kid Line war Geschichte. Am 9. Januar 1991 musste Murph einen bösartigen Check von Shawn Burr einstecken, schleuderte durch die Luft und krachte Kopf voran gegen die Bande. In der Umkleide spuckte er Blut, taumelte. Doch es kam kein Arzt, der sagte: »Du hast genug, das könnte eine Gehirnerschütterung sein.« Murph versuchte das Match gegen Detroit zu Ende zu bringen. Wo hinten oder vorne war, konnte er nicht verlässlich sagen. Als er stürzte, trugen sie ihn vom Eis.

Es sollte nicht das letzte Trauma dieser Art bleiben. Doch Murph war ein Stehaufmännchen. Schwäche zeigen gehörte nicht dazu. Befeuert von der Angst aus dem NHL-Zirkus früh raus zu sein, machte er weiter und fühlte sich phasenweise hundeelend. Die Liga, das wusste er nur zu genau, verzeiht dir keinen schlechten Tag.

Im dritten Jahr lief der Vertrag in Edmonton aus; als einer der Punktbesten erhoffte er sich einen neuen, fairen Deal, doch die klammen Oilers hielten ihn monatelang hin.

Anfang 1993 tradeten sie ihn nach Chicago. Der Einstand misslang, Verletzungsnachwehen wirkten wie Bremsklötze, dann scorte Murph wieder ohne Fehl und Tadel. Zwei Jahre später trug er sich mit dem ersten Goal im neuen United Center in die Blackhawks-Annalen ein.

Im Sommer 1996 unterschrieb er einen millionenschweren Dreijahresvertrag in St. Louis. Ein Überraschungs-Coup, die Branche war aus dem Häuschen. Denn, obwohl Murph für eine zünftige Torproduktion immer noch zu haben war, galt er als anfälliger Risikospieler. Einzig Blues-Coach Mike Keenan in seiner erweiterten Rolle als General Manager wusste, was er sich für diesen Preis erhoffte: Wenn du in kritischen Situationen gut durch die Saison kommen willst, setze auf die uralte Weisheit »Play the Veterans«.

Doch der Veteran Joe Murphy konnte die gesteckten Erwartungen nicht erfüllen; die Liaison endete mit der Trade-Deadline 1998. San José nahm sich seiner an.

Noch einmal blühte er auf, schoss die Sharks in die Playoffs, was ihm einen Platz unter den 50 besten Franchise-Playern bescherte.

 

Es waren harte Zeiten, Murph scheute keinen Fight, war Dreh- und Angelpunkt, sekundiert von Schmerzen hielt er den geschundenen Kopf hin. Er wurde exzentrischer, wesensverändert. Vom einstigen »Jumpin’ Joe« blieb »JoJo« übrig, der in der dritten Person sprach. Leise, spöttisch, mit irrem Blick.

Im Februar 1999 feuerte er im Forum der Kings einen Frustpuck ins Publikum und verletzte dabei einen Zuschauer. Die Sharks, Murph selbst und die Stadionbetreiber wurden zu hohen Geldstrafen verdonnert. Als das Urteil fiel, war Murph längst aus dem Team.

Nach einem erfolglosen Tryout bei den Rangers ging die Reise weiter nach Boston. Die Coaches verzweifelten, suspendierten ihn. Sollte Murph in der dritten Reihe spielen, wenig Eiszeit bekommen, widersprach er: »JoJo spielt nicht in der dritten Reihe.« Passte ihm der Matchplan nicht, blieb er stur in der Kabine hocken. Bei eigenen, miserablen Auftritten bezichtigte er Personal und Mitspieler, seine Ausrüstung manipuliert zu haben. Keine Frage, der einstige Stanley Cup-Held drehte frei und war mit sich und der Welt am Ende.

Als die Blackouts auch an Spieltischen und auf Tanzflächen zunahmen, tröpfelte die Karriere 2001 in Washington aus. Genau genommen in New York. Dort war der offiziell als verletzt gemeldete Murph in einer Bar hängengeblieben und im Krankenhaus gelandet. Jemand hatte ihm eine Flasche über den Kopf gezogen.

Um wieder zur Vernunft zu kommen, relegierten ihn die Caps ins Farmteam. Doch Murph war dazu nicht mehr willens, geschweige denn in der Lage. 15 Jahre Profihockey lagen hinter ihm. Knapp 800 NHL-Spiele hatten ihm ein Salär um die 20 Millionen Dollar eingebracht. Die Zahl erlittener Gehirnerschütterungen blieb ungezählt.


Nach dem Shutdown folgten manische Zeiten bis zur Pleite im Jahr 2013. Murph versuchte das Leben eines Hockeypensionärs zu führen, der als Juniorcoach mit gutem Beispiel voran geht. Der Kopf spielte nicht mit, die Konzentration war wie weggeblasen. Mit Drogen ging es für kurze Zeit, mit Koks und Meth. Rasch war er den Job wieder los.

Entfremdet von Frau und Tochter zog er zunächst durch Südamerika, lebte in Kolumbien. Die Odyssee endete mittellos auf den Straßen Costa Ricas. Der Reisepass war abgelaufen. Einstige NHL-Kumpanen erledigten Formalitäten und zapften Fonds für in Not geratene Veteranen an.

Im Frühsommer 2017 war es Murph vergönnt nach Kanada heimzukehren. In Toronto gab es gute Nachrichten. Nach langem Hickhack war eine Schmerzensgeldklage mangels medizinischer Fürsorge gegen die Sharks-Organisation von Erfolg gekrönt. Ein unterer, sechsstelliger Betrag soll geflossen sein. Doch wer dachte, Murph könne jetzt Frieden finden, war einem Irrtum erlegen. Das Geld verschwand schneller, als es gekommen war. Große Teile verzockte er an der Börse, ließ es bei Ärzten und Anwälten. Er hoffte auf Erfolg mit einer weiteren Kompensationsklage, diesmal gegen die übermächtige NHL. Keine Chance. Auf Unterstützung durch die Spielergewerkschaft verzichtete er. »JoJo nimmt keine Almosen, er will Gerechtigkeit.« Sie blieb aus. Kopfschmerzen, Depressionen, Ängste und Wahnvorstellungen bestimmten sein Leben. Ein Kampf gegen Dämonen, der nicht zu gewinnen war.

Murph nahm Reißaus, geriet in Schlägereien, verwüstete Hotelzimmer, stand mit beachtlichem Vorstrafenkonto unter Bewährung. Immer wieder kam es vor, dass man ihm ein Zuhause einrichtete. Lange hielt er es darin nicht aus. Die Verbüßung einer kurzweiligen Haftstrafe führte ihn nach Kenora, in den Norden Ontarios. Als sich die Gefängnistüren öffneten, blieb er in der Gegend.

Kenoras touristisches Highlight ist das Lake of the Woods Museum. Mit einem in Not geratenen Stanley Cup-Champion war das beschauliche Städtchen um eine Attraktion reicher. Journalisten rückten an, die TSN-Dokumentation Finding Murph entstand. Ein Film über eine menschliche Tragödie. Darin sieht man Murph eine Straße entlanggehen. Er ist immer noch »JoJo«, der in der dritten Person spricht und dabei Arme und Hände schwenkt. So, als würde er versuchen, einen imaginären Wespenschwarm abzuwehren. Doch da fliegt nichts, da sind nur Flashbacks, Lichtblitze und Glühwürmchen in einem lädierten Kopf, der Doppelbilder produziert. Ein Kopf, der beruhigt werden will. Im kläglichen Rest einer Welt, die für andere verschlossen ist. In der Einsamkeit eines entzauberten Lebens.

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