Buch lesen: «Gesellschaftsspiele»
Florian Malzacher, Gesellschaftsspiele
Florian Malzacher ist Kurator, Autor und Dramaturg. 2006–2012 war er Leitender Dramaturg/Kurator des interdisziplinären Festivals steirischer herbst in Graz, 2013–2017 Künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festivals. Er ist Herausgeber zahlreicher Publikationen zum Theater, zum Verhältnis von Kunst, Aktivismus und Politik sowie zum Kuratieren performativer Künste. Unter anderem erschienen von ihm (mit)herausgegebene Bücher zur Arbeit der Theaterkompanien Forced Entertainment, Rimini Protokoll und Nature Theater of Oklahoma sowie Truth is concrete. A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics (2014), Not Just a Mirror. Looking for the Political Theatre of Today (2015) und Empty Stages, Crowded Flats. Performativity as Curatorial Strategy (2017).
Florian Malzacher
GESELLSCHAFTSSPIELE
Politisches Theater heute
Originalausgabe
© by Alexander Verlag Berlin 2020
Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D–14050 Berlin
www.alexander-verlag.com | info@alexander-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten.
Schlussredaktion: Christin Heinrichs-Lauer
Dank an Olivia Hotz und Carla Tiedt.
Satz/Layout/Umschlag: Antje Wewerka
ISBN 978-3-89581-531-7 (eBook)
INHALT
Prolog
Repräsentation
Krisen der Repräsentation
Regietheater und frühes postdramatisches Theater
Die Politik und das Politische
Anthropozän, Animismus und Post-Humanismus
Zitternde Androide, schwitzende Avatare
Identitätspolitiken
Begriffsunterwanderungen und Kleinstgruppenlobbies
Privilegien und Sprechverbote
Beleidigte Beleidiger
Stolpern und Stottern
Partizipation
Konfrontation und Fürsorge
Safe Spaces, Brave Spaces
Teilhabe hinter den Kulissen
Immersion: Partizipation als Unterwerfung
Kunst und Aktivismus
Mittel und Zweck
Falsche Nachrichten
Haltungsdruck
Theater als Versammlung
Performative Versammlungen
Parlamente, Gipfeltreffen, Gerichtssäle
Preenactments
Wissen versammeln
Wenn Realismus zur Realität wird
Epilog
Anmerkungen
Namensliste
Dank
»Kunst ist kein Spiegel,
den man der Wirklichkeit vorhält,
sondern ein Hammer,
mit dem man sie gestaltet.
(Marx, Brecht oder Majakowski)1
PROLOG
Die einen schreien sich mit roten Gesichtern an, andere versuchen in eindringlichem Ton, die zahlreichen Zaungäste zu überzeugen: Ihr Land ist von Fremden überrannt, ihre Kultur in Gefahr, ihre Familien, ihre Identität. Ein alter Mann schwenkt mit feuchten Augen eine Zeitung, die seine Befürchtungen in Großbuchstaben zur Schlagzeile macht. Eine Handvoll koreanischer TouristInnen beobachtet ratlos das seltsame Spektakel: Das »kleine Österreich« gegen den Rest der Welt.
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Christoph Schlingensief seine längst legendäre Containerinszenierung Bitte liebt Österreich! (2000) mitten im Zentrum von Wien, direkt neben der Oper, landen ließ. Gerade erst hatte der konservative Kanzler Wolfgang Schüssel seinen Teufelspakt mit dem rechten Demagogen Jörg Haider und dessen FPÖ geschlossen. Die anderen EU-Länder diskutierten Sanktionen gegen den Mitgliedsstaat Österreich, und Österreich diskutierte über die Grenzen des Landes, die Grenzen der Demokratie und die Grenzen der Kunst. Die Welt schaute zu.
Vor diesem Hintergrund und unter dem leuchtenden Banner »Ausländer raus!« inszenierte Schlingensief eine reality show mit realen Asylsuchenden. Sechs Tage lang beherbergten die Container eine Gruppe ImmigrantInnen, die mittels Überwachungskameras im Internet rund um die Uhr beim Leben beobachtet werden konnten, während die österreichische Bevölkerung eingeladen war, einen nach der anderen aus dem Land zu wählen.
Der Skandal war enorm: Konservative fühlten sich durch die Parodie ihrer eigenen Argumente diffamiert; Linke waren verärgert über die aus ihrer Sicht zynische Zurschaustellung menschlichen Leids und das Ignorieren jahrelanger aktivistischer Arbeit vor Ort, die durch das Spektakel erschwert werde. Es war das Jahr der ersten deutschsprachigen Big-Brother-Staffel, die einige aufgeregte FeuilletonistInnen für nichts weniger als den Anfang vom Ende des humanistischen Zeitalters hielten.
Lang ist’s her. Das einst umstrittene TV-Format läuft – mit kurzen Unterbrechungen – zwar noch immer, wirkt aber neben den vielen anderen, mindestens ebenso zynischen reality shows längst eher altbacken. In Österreich ist die FPÖ, allen Skandalen zum Trotz, noch immer omnipräsent und stellte zwischenzeitlich neben Innen-, Außen- und VerteidigungsministerIn sogar den Vizekanzler. Damit ist sie nicht allein: Rechtsaußenparteien gehören nun fast überall in Europa zum parlamentarischen Alltag, nicht nur in Ungarn und Polen werden Rechtsstaaten in »illiberale Demokratien« umgewandelt. Dass Bitte liebt Österreich! damals bei aller harten Konfrontation und leidenschaftlicher Streitlust durchaus spielerisch blieb und es Schlingensief gelang, auf dem schmalen Grat zu balancieren, auf dem fast keiner ihn für seine Ziele vereinnahmen konnte: Es würde heute wohl nicht mehr funktionieren. Die politischen und sozialen, aber auch die künstlerischen Auseinandersetzungen haben sich verhärtet und verkantet, die Welt ist so unübersichtlich geworden, dass es für Ambivalenz keine Kunst mehr zu brauchen scheint. Vermeintlich eindeutige Konfliktlinien rund um Nationalismus, Rassismus, Klimakatastrophen, soziale Spannungen etc. sind zu tiefen, offenbar unüberwindbaren Gräben aufgebrochen.
Noch immer leiden wir unter den Spätfolgen von »TINA« (»There is no alternative«), jener vielzitierten Doktrin, mit der die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher bereits Anfang der 1980er-Jahre ihren verheerenden sozialen Kahlschlag legitimierte – eine frühe Sternstunde jenes Neoliberalismus, der bis heute, trotz veränderter Rhetorik, wenig von seiner Wirkmacht eingebüßt und sich längst tief in wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen eingeschrieben hat.
1989 fiel die Mauer: Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems im Osten und die Aufgabe des fürsorglichen Staates im Westen fanden zeitgleich statt. Ende der 1990er-Jahre brachten der britische Premier Tony Blair und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder mit ihrem »Dritten Weg« die Sozialdemokratie auf den marktwirtschaftlicheren Kurs jener »neuen Mitte«, in die wenig später aus entgegengesetzter Richtung auch Angela Merkel steuerte. Das Adjektiv »alternativlos« wurde zu einem Markenzeichen, das im Zusammenspiel mit der Wahlkampfstrategie einer »asymmetrischen Demobilisierung«, bei der jede kontroverse Position vermieden wird, nicht nur der Opposition erfolgreich den Wind aus den Segeln nahm – als Kollateralschaden blieb auch ein Gutteil des offenen politischen Wettstreits auf der Strecke. Bereits 1992 lieferte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama eine Art geschichtsphilosophischer TINA-Legitimation mit seinem Buch vom Ende der Geschichte2: Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und damit der kommunistischen Ideologie sah er liberale Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie als unaufhaltbare Sieger. No need to argue anymore.
Die Geschichte war dann bekanntlich doch nicht zu Ende und die Nebenwirkungen von TINA & Co sind bis heute spürbar. Sie haben – flankiert vom ebenfalls als alternativlos verkauften, vieles überschattenden »War on Terror«, der seit dem 11. September 2001 währt – das Feld für einen gesellschaftlichen Zustand bereitet, in dem die Abwesenheit von Alternativen als gesunder Menschenverstand gilt und politische Vorstellungskraft durch positivistischen Pragmatismus, larmoyante Resignation oder freudige Komplizenschaft ersetzt wird. »Postpolitik« nennen TheoretikerInnen wie Chantal Mouffe oder Slavoj Žižek dieses Phänomen, wenn sich Gesellschaften im Konsensus einrichten und politische Werte durch moralische ersetzen.
Dass sich in den letzten Jahren parallel dazu politische und gesellschaftliche Positionen zunehmend radikalisieren und gegensätzliche Meinungen immer unversöhnlicher formuliert werden, ist, wie der damit einhergehende Siegeszug rechter bis rechtsradikaler Parteien, nur ein scheinbarer Widerspruch zur postpolitischen Konsensgesellschaft. Brexit, Trump, die Geschichtsvergessenheit der AfD etc. sind durchaus auch direkte Konsequenzen von TINA: Das Leugnen oder Dämonisieren möglicher politischer Alternativen als eine Art politischer Konsens-Erpressung ist einer der Gründe für die Radikalisierung von Meinungen, vor allem am rechten Rand des Spektrums.
Dabei ist die Behauptung vom »Ende der Geschichte« ironischerweise die perfide Variante eines auf Einigung zielenden Gesellschaftsmodells, wie es sich gerade viele linke oder liberale PhilosophInnen – von Karl Marx bis Jürgen Habermas oder John Rawls – gewünscht haben: Rationale Erwägungen würden die Menschen eines Tages schon noch dazu bringen, individuelle Interessen zu überwinden und sich auf das Richtige zu einigen.
Aber zum einen sind wir nun mal nicht sonderlich vernünftige Wesen; Gefühle, auch egoistische Erwägungen, werden immer eine Rolle spielen. Zum anderen existiert für manche Konflikte, wie Chantal Mouffe betont, schlicht nicht die eine rationale Lösung. Eine Welt ohne Machtstrukturen und partikulare Interessen wird es nie geben: »Wir wünschen uns zwar ein Ende allen Konflikts, doch wenn wir wollen, dass Menschen frei sind, müssen wir Konflikte immer hervortreten lassen, und eine Arena zum Austragen von Differenzen bereitstellen. Der demokratische Prozess sollte diese Arena bieten.«3
Mouffes Konzept eines agonistischen Pluralismus beschreibt Demokratie deshalb als ein Kampffeld, auf dem wir die Gelegenheit haben müssen, unsere Differenzen als Gegner auszuagieren, ohne sie beizulegen. Diese Forderung ist nicht leicht zu verdauen, denn sie widerspricht nicht nur jeder Hoffnung auf Demokratie als umfassenden safe space, sie geht auch über das Modell »Konkurrenz belebt das Geschäft« weit hinaus: »Die Gegner bekämpfen sich – sogar erbittert –, aber sie halten sich dabei an einen gemeinsamen Regelkanon. Ihre Standpunkte werden, obwohl letzten Endes unversöhnlich, als legitime Perspektiven akzeptiert.«4 Nur wenn wir dazu bereit sind, können wir einen Antagonismus verhindern, der allem Verhandeln und Verstehen ein Ende setzt und dessen letzte Konsequenz (realer oder zumindest symbolischer) Bürgerkrieg ist. »Als Hauptaufgabe der Demokratie könnte man die Umwandlung des Antagonismus in Agonismus ansehen«.5 Denn Demokratie muss immer neu erstritten und ausgehandelt werden, sie lebt von Konflikt und Parteinahme.
Welche Meinungen halten wir aus, welchen wollen wir den Raum verweigern? Welche Konflikte kann das Theater abbilden, zu welchen sollte es schweigen? In einer Zeit, in der einerseits George W. Bushs Diktum »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« auf allen Seiten des politischen Spektrums eine erstaunliche Renaissance erlebt, andererseits die Logik des Konsens noch immer viele demokratische Diskussionen einschläfert, kann Theater ein Raum sein, in dem ein spielerischer (aber ernsthafter) Agonismus Widersprüche nicht nur am Leben hält, sondern vor allem erlaubt, sie frei zu artikulieren. Schließlich ist es kein Zufall, dass Mouffes Konzept seinen Namen den antiken Turnieren in Sport und Kultur entlehnt hat. Agon, so heißt auch der Wettstreit der Argumente in der griechischen Tragödie.
Theater westlicher Prägung war immer vor allem ein Medium zur Darstellung von Konflikten und Gegensätzen: zwischen Gut und Böse, zwischen Ideen und Ideologien, Gesellschaften und Nationen, Mächten und Mächtigen, Idealen und Traditionen, zwischen Generationen, Familien und Ehepaaren – oder gar innerhalb der Psyche eines einzelnen Menschen. Auseinandersetzungen werden stellvertretend ausgetragen, mal körperlich, mal psychologisch, mal diskursiv. Theater ist ein Ort des Verhandelns, ein – wenn auch oft parteiischer – Raum agonistischen Pluralismus’, mögen letzte Akte noch so oft einen beruhigenden Abschluss suggerieren.
So alarmierend also die soziale, ökologische, politische Lage ist, in der wir derzeit leben, für das Theater ist sie zugleich auch eine Chance, gemeinsam oder auch in Reibung mit den zahlreichen Bewegungen in aller Welt, neue gesellschaftliche Imagination zu entfachen. Wie können im Theater andere Formen des Zusammenlebens gemeinsam gedacht, ausprobiert, diskutiert und miteinander konfrontiert werden? Wie kann Theater sich am Nachdenken darüber beteiligen, welche Gesellschaft, welche Welt wir eigentlich wollen? Wie kann Theater, ohne wohlfeil zu predigen und zu belehren, gleichwohl gemeinsam mit seinen BesucherInnen selbstbewusste Antwortversuche wagen? Welcher – sowohl ästhetischen wie ethischen – Formen bedarf es, um tatsächlich politisch zu sein und nicht nur eine politische Attitüde an den Tag zu legen?
Ein Blick auf die gegenwärtige internationale Theaterszene zeigt, dass es bei KünstlerInnen und Publikum einen starken Wunsch nach einem Theater gibt, das drängende politische Fragen nicht nur aufgreift, sondern selbst zu einem öffentlichen Raum wird, in dem Ästhetik und Ethik kein Widerspruch sind. Ein Theater, das – wie einfach das klingt – sowohl in seinen Inhalten als auch in seinen Formen politisch ist.
Dieses Buch ist ein Versuch, zu verstehen, wie Theater heute ein konkreter Ort sein kann, an dem die Welt um uns herum – politisches Geschehen, gesellschaftliche Visionen, große Kämpfe und pragmatische Lösungsversuche – nicht nur gezeigt, sondern bewusst mitgestaltet wird. Und zu begreifen, wo dabei künstlerische wie politische Gefahren lauern.
Dieser Streifzug durch das politische Theater erhebt keinen Anspruch auf Lückenlosigkeit, im Gegenteil: Er beruht großenteils auf eigenen, direkten Begegnungen, Seherfahrungen, nicht selten auch auf meiner Beteiligung an Projekten als Kurator, Dramaturg oder Mitinitiator. Daher gibt es Schwerpunkte, Abschweifungen, blinde Flecken. Auch wenn KünstlerInnen aus vielen Teilen der Welt eine wesentliche Rolle in diesem Buch spielen, liegt der Fokus doch auf dem deutschsprachigen Raum. Und dort zudem auf dem sogenannten postdramatischen Theater, das wiederum auf vielfältige Weise international verstrickt ist und permanent in Wechselwirkung mit künstlerischen Arbeiten und Diskursen aus unterschiedlichsten Regionen steht.
So versucht dieses Buch gar nicht erst eine umfassende Darstellung von allem, was man derzeit als politisches Theater verstehen könnte. Vieles, das die Feuilletons füllt, kommt hier nicht zur Sprache. Es ist ein parteiisches Buch. Und zugleich ein suchendes Buch über ein suchendes Theater, das Teil einer suchenden Gesellschaft ist. Antworten sind provisorisch, so wie Theater ohnehin immer provisorisch ist. Was heute funktioniert und wichtig ist, wird morgen antiquiert sein, bestenfalls ein Vorläufer, schlimmstenfalls der Weg in eine Sackgasse. Aber gleichzeitig geht es im politischen Theater genau darum: Einem – oft diskursiv vermeintlich gut begründeten – Relativismus ernstgemeinte, konsequente Behauptungen entgegenzusetzen und dabei zu wissen, dass es sich dennoch immer nur um Arbeitsthesen handeln kann. Alle Beispiele in diesem Buch sind nur im Kontext ihrer Zeit zu verstehen – und im Kontext ihres geographischen Entstehens. Manchmal verändern ein Jahr oder auch nur 100 Kilometer bereits das ganze Bild.
Die beschriebenen Arbeiten sind Gesellschaftsspiele, die man nur gemeinsam spielen kann, und die zugleich, im Doppelsinn des Wortes, stets eine größere soziale Dimension im Auge haben. Ihre Regeln werden oft erst während des Spiels verständlich; zuweilen sind sie nicht einfach herauszufinden. Aber so sehr man vom Spiel gefangen sein mag: Es geht immer darum, im Blick zu behalten, was auf dem Spiel steht. Auf welcher Grundlage wird gespielt, wer hat die Regeln aufgestellt, und inwiefern bestimmen sie, was überhaupt gespielt werden und wer mitspielen kann?
Diese Spiele finden in der paradoxen Maschine des Theaters statt, in der alles echt ist und fiktiv zugleich, tatsächlich und symbolisch. Man kann mitspielen, mittendrin sein und sich gleichzeitig von außen beobachten. Theater ist immer eine soziale, aber auch eine selbstreflexive Praxis. Politisches Theater macht sich genau das zunutze.
REPRÄSENTATION
Eine Familie sitzt an einem Tisch. Eine »mittelreiche« Familie, die es ein bisschen zu was gebracht hat. Die etwas zu verlieren hat – und nicht viel zu gewinnen. Es ist eine Geschichte von Krieg, Vergewaltigung, Einsamkeit, Furcht, aber auch ganz profan von Wohlstand und Abstiegsängsten, von dominanten und doch feigen Vätern, von Sprachlosigkeit und der Flucht vor Verantwortung. Eine Geschichte, die überall spielen könnte. Und zugleich eine, die tief im kollektiven nationalen Bewusstsein wurzelt; eine Nachkriegserzählung aus einer Zeit, als Verdrängen zur deutschen Tugend wurde. Hart, aber auch melancholisch entrückt – umrahmt von Brahms Deutschem Requiem; das Banale schmiegt sich ans Transzendentale: »Denn alles Fleisch ist wie Gras / und alle Herrlichkeit des Menschen / wie des Grases Blumen. / Das Gras ist verdorret / und die Blume abgefallen.« Doch das Bild in diesem kargen, großen und zugleich klaustrophoben Allzwecksaal scheint nicht zusammenzupassen: Die Familie am Tisch ist schwarz. Ein Anblick, den man in Deutschland aus amerikanischen Fernsehserien kennt, aber nicht aus bayrischen Familiensagas.
In einem Land, in dem schwarze Menschen im Theater fast nur als explizit Schwarze auftauchen (weshalb schwarze SchauspielerInnen nicht nur immer die gleichen Typen, sondern oft auch exakt die gleichen Rollen spielen müssen), hat die Regisseurin Anta Helena Recke eine, wie sie es doppeldeutig nennt, »Schwarzkopie« der bereits existierenden Inszenierung Mittelreich (2015) von Anna-Sophie Mahler (nach einem Roman von Josef Bierbichler) auf die große Bühne der Münchner Kammerspiele gestellt. Eins zu eins: gleiches Bühnenbild, gleicher Text, gleiche Darstellung, gleicher Ablauf – nur die SchauspielerInnen, der Chor, die MusikerInnen wurden ausgewechselt. Eine Nachahmung in der Tradition US-amerikanischer appropriation-KünstlerInnen wie Elaine Sturtevant oder Sherrie Levine, die seit den 1970er-Jahren ein raffiniertes, oft feministisches oder institutionskritisches Spiel mit der männlich dominierten Kunstwelt trieben, indem sie bekannte Bilder nachmalten, nachempfanden, nachstellten oder sich auf andere Weise aneigneten.
Aber diese Mittelreich-Kopie (2017) ist nicht nur eine ziemlich exakte Aneignung der Inszenierung einer anderen Regisseurin. Und sie weist durch die Aneignung weißer Figuren (und deren Verkörperung von weißen SchauspielerInnen) durch schwarze AkteurInnen auch nicht nur darauf hin, wie unter- bzw. gar nicht repräsentiert schwarze Körper und Geschichten auf deutschen Bühnen sind. Es geht zugleich um eine völlig andere – zwiespältige – Aneignung. Diese appropriation verbildlicht auch den (Alb)Traum völliger Assimilation: Eine schwarze Familie, die alle nichtweißen kulturellen Einflüsse verdrängt zu haben scheint, wenn etwa der Sohn damit hadert, dass er nicht weiß, »was der deutsche Wehrmachtssoldat in Russland und Frankreich tat, der mein Vater war« (Die Regisseurin selbst schreibt, dass sie unweigerlich an ihren senegalesischen Großvater denken muss, »der für die Franzosen nach dem Krieg in Berlin Bonbons an deutsche Kinder verteilt hat«6).
Neben der sehr klaren Forderung nach mehr Sichtbarkeit nichtweißer Menschen auf der Bühne und in der Gesellschaft ist es die hintergründige Ambivalenz dieser Arbeit, die das Publikum herausfordert. Denn die Inszenierung beschränkt sich ja nicht auf die Bühne. Wie jede gute appropriation art verweist sie permanent auf das, was drumherum ist. Auf die weißen ZuschauerInnen beispielsweise, die sich in einer Situation befinden, in der es kein eindeutiges Richtig gibt. Fortwährend muss die eigene Interpretation interpretiert werden: Ist weltläufige Aufgeschlossenheit nicht eher paternalistisches Wohlwollen? Bewerten wir familiäre Machtstrukturen anders, je nachdem, ob wir einer weißen oder einer schwarzen Familie zuschauen? Woran denken wir, wenn von Flüchtlingen (aus den Ostgebieten) die Rede ist – und diese ähnlich wenig willkommen sind wie die Geflüchteten fast siebzig Jahre später? (»Das sind einfach ganz andere Menschen, diese Flüchtlinge. Die passen einfach nicht in unsere Gegend.«7) Und warum denken wir überhaupt daran, wo doch die SchauspielerInnen auf der Bühne, wie auch die Regisseurin, allesamt in Deutschland geboren wurden? Und wenn wir umgekehrt glauben, tatsächlich »farbenblind« zu sein (oder es im Sog der Aufführung zu werden) – ignorieren wir damit nicht einfach selbstberuhigend eine Differenz, die wir sonst, zumindest strukturell, selbst aufrechterhalten? Der oft tastende, teils unbeholfene – nicht selten »superhöfliche«8 (Recke) – Ton der Publikumsgespräche erzählt viel darüber, wie schwer das gesellschaftliche Reden über Diskriminierung noch immer fällt, sobald es direkt oder gar öffentlich geführt wird.
Aber auch wenn das Dilemma der weißen ZuschauerInnen ein wesentlicher Teil der Inszenierung ist: Der Abend richtet sich mindestens genauso an die nichtweißen ZuschauerInnen im ungewöhnlich gemischten Publikum, denn er bietet Identifikationsmöglichkeiten, die sonst fast immer fehlen.
Mittelreich ist zudem eines der überraschend wenigen Beispiele für institutional critique im Theater. (Auch das ein Genre der bildenden Kunst, bei dem das Kritisieren einer Kunstinstitution zur eigentlichen künstlerischen Praxis wird – meist im Auftrag eben jener kritisierten Institution.) Denn nicht nur die Tatsache, dass die Besetzung komplett auf Gäste angewiesen war, weil das Ensemble über keine schwarzen Mitglieder verfügt, hinterfragt das eigene Haus. Mittelreich ist vor allem auch eine deutliche Kritik an einem Repertoire, das, wie Recke sagt, fast immer ein weißes Publikum imaginiert – und dieses Publikum zugleich für universal hält.9 Es gibt nicht viele Häuser, die das öffentliche Untersuchen des eigenen Tuns zum Teil ihres Spielplans machen.
In den Blick geraten aber auch die gesamte deutschsprachige Theaterszene, die Auswahlkriterien für Schauspielschulen, Ensembles und Repertoire, und nicht zuletzt das Feld der professionellen Kritik mit seinen Qualitätsmaßstäben. Während die meisten Besprechungen von Mittelreich versuchten, den Ansatz des Stückes zu würdigen (und die Arbeit von einer Kritikerjury zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde), gab es doch auch absurde Entgleisungen. Die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung brachte unter der Überschrift »Schwarz allein reicht nicht« ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass die schwarze Besetzung nicht die erhoffte »belebende Blutzufuhr« für die spröde Originalbesetzung brachte (und erklärte kokett gleich selbst – das wird man doch wohl noch sagen dürfen –, dass dies natürlich »politisch unkorrekt [sei], da von, wenn auch positiven, Vorurteilen gesteuert«.) Aber vielleicht waren die Darsteller dafür einfach nicht schwarz genug – denn »so schwarz sind sie dann ja auch wieder nicht, diese neuen sechs Körper und Gesichter.« Die eigentliche Diskriminierung läge denn auch nicht im Theatersystem, sondern in diesem »auf ganzer Linie schlechten Laientheater«.10
Anta Helena Reckes Mittelreich-Kopie zeigt, wie sehr alle am Theater Beteiligten – ob SchauspielerInnen, PerformerInnen, ZuschauerInnen oder KritikerInnen – immer auch als RepräsentantInnen einer größeren Gemeinschaft wahrgenommen werden, unterschieden durch Hautfarbe, Gender, Körperlichkeit, soziale Schicht, Berufsstand … So spiegeln sich die Fragen, die gegenwärtig alle Demokratien verfolgen – Wer wird auf welche Weise, von wem und mit welchem Recht repräsentiert? – im Theater wider: Kann eine bürgerliche Schauspielerin eine Geflüchtete repräsentieren? Kann der Westen den globalen Süden repräsentieren? Kann ein Mann eine Frau repräsentieren? Ist die Repräsentation von Stereotypen und Klischees (von Ethnien, Geschlechtern, Sexualität etc.) entlarvend oder einfach nur die Wiederholung entwürdigender Beleidigungen?
Die Probleme, die durch jüngere Diskussionen rund um black face (das Schwarzschminken weißer SchauspielerInnen), das Verwenden als diffamierend empfundener Bezeichnungen und Ähnliches manifest wurden, stellen weit mehr in Frage als nur das Recht und die Befähigung weißer SchauspielerInnen, Charaktere of colour darzustellen. Es sind politisch und künstlerisch komplexe Herausforderungen, die – wie der gesamte postkoloniale Themenbereich – im deutschen Theater spät angekommen sind. Postmigrantische Ansätze, die hervorheben, wie sehr unsere Gesellschaft durch Migration bereits verändert ist, prägen beispielsweise das Programm des Berliner Gorki-Theaters unter der Leitung von Shermin Langhoff und Jens Hillje mit seinem kulturell und ethnisch sehr diversen Ensemble. Das setzt auch andere Stadttheater unter Druck, während Häuser wie das Berliner Ballhaus Naunynstraße oder junge KünstlerInnen of colour wie Simone Dede Ayivi oder Anta Helena Recke eine Sichtbarkeit schwarzer Körper und Biografien auf der Bühne einfordern.11
Dass ein weißer Körper als neutral angesehen wird, während ein schwarzer immer bereits eine besondere Bedeutung hat, steht auch im Zentrum der Arbeit Black Bismarck (2015) des Theaterkollektivs andcompany&Co., die sich auf Überlegungen der critical whiteness studies bezieht, die »Weißsein« als soziale Machtkonstruktion beschreiben:
Ein Gespenst geht um in Europa. […] Das Gespenst des Kolonialismus. Die Europäer nennen ihn nur den Geist. Den Geist lockt das Weiß, das Weiß des unbeschriebenen Papiers, die weißen Flecken auf der Karte. Am Anfang war nicht das Wort, am Anfang war die leere Seite. Das Wunder der Schöpfung aus Nichts wiederholt sich jedes Mal aufs Neue, wenn Zeichen die weiße Leere füllen, mit Schwärze, Druckerschwärze. Schwarz wie das Pulver, das man in die Gewehre lädt oder schwarz wie die Nacht, wie man so sagt. Doch nachts sind alle Katzen grau, man bleibt anonym, aber man vergibt Namen – und dieses man ist weiß. Das ist die Lektion der critical whiteness für überprivilegierte Unterpigmentierte: Man ist nicht normal, man ist nicht neutral, man ist weiß. Man ist ein Geist.12
Ikonoklastisch, wortspielüberbordend und – wie immer in den Arbeiten von andco. – mit Pop-Zitaten gespickt sucht Black Bismarck zum 200. Geburtstag des »eisernen Kanzlers« nach afrikanischen Spuren in Berlin und erteilt der verbreiteten Auffassung, die deutsche Kolonialzeit sei – trotz Völkermords an den Herero – im Schatten späterer, noch schlimmerer deutscher Verbrechen doch vergleichsweise kurz und harmlos gewesen, eine klare Absage. Vor allem aber ist der Abend ein Versuch, sich als »überprivilegierte Unterpigmentierte« nicht anzumaßen, für andere zu sprechen oder sie zu repräsentieren.
Die Strategie der appropriation, die Recke mit Mittelreich verhandelt, hat noch einen weiteren komplexen Aspekt: Als Miley Cyrus, Popsängerin mit sicherem Instinkt für skandalprovozierende Selbstvermarktung, vor einigen Jahren bei den Video Music Awards eine twerking-Choreografie aufführte, wurde das heftig und polemisch diskutiert: Stahl da eine weiße Frau ein Stück afroamerikanischer kultureller Identität für den eigenen nächsten Hit? War ihre Aneignung des rhythmischen, sexuell expliziten Hinternschüttelns eine Hommage oder eine Karikatur? Auch das ist eine Frage der Machtverhältnisse: Die Aneignung von »unten« nach »oben« ist Selbstermächtigung, Integration, Assimilation, Identitätserweiterung oder Identitätsverlust. Die Aneignung in die umgekehrte Richtung – Raub? Verstehen-Wollen? Anerkennung?
Die Theatermacher Julian Warner und Oliver Zahn verfolgen in ihrer Performance Situation mit Doppelgänger (2015) die Aneignung und Vermarktung schwarzer und anderer minoritärer Tanzformen im Pop zurück bis in die Zeit der Minstrel Shows des 19. Jahrhunderts, in denen geschminkte Weiße stereotypische Schwarze darstellten – mal romantisierend, mal gehässig. Später wurden auch schwarze TänzerInnen und MusikerInnen selbst für solche Shows engagiert, ein Klischee im Feedbackloop.
Die Fragen, die solche kulturellen Aneignungen aufwerfen, sind seither die gleichen geblieben: Wem gehören solche Tänze, wer darf sie tanzen? Wann ist Imitation ein subversives Mittel, wann verstärkt sie existierende Machtstrukturen? In Situation mit Doppelgänger interpretieren Warner und Zahn – der eine schwarz, der andere weiß, aber beide keine ausgebildeten Tänzer – synchron sehr unterschiedlich konnotierte Minstrel-, Pop- und Volkstänze, in denen nicht nur Weiße Schwarze, sondern in einer Art Selbstermächtigung umgekehrt auch schwarze Tänzer die weißen Kolonialherren imitieren. Auf dünnem Eis untersuchen die beiden – analytisch und spielerisch zugleich – Modelle von Authentizität, Identität und Deutungshoheit.
Dass solche Konstruktionen permanent neu ausgehandelt werden müssen, prägt unübersehbar die Performances der deutschivorischen Gruppe Gintersdorfer/Klaßen – nicht nur thematisch und ästhetisch, sondern vor allem auch in der kollaborativen Form ihres Entstehens. Wenn »die Tänzer singen, die Comedians tanzen, die Sänger texten«, dann ist das für Gintersdorfer/Klaßen ein bewusstes