Schnee von gestern

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Friederike Leibl-Bürger · Florian Asamer

Schnee von gestern

Schlepplift, Strandbad,

Schlüsselkinder -

und was sonst noch war


Cover

Titel

Widmung

Vorwort

WINTER

Vom ersten Schnee zum letzten Schwung

Holländer und Kinder müssen unten bleiben

Herunter kommt jeder

Ameisen in der Gondelbahn

Erbswurstsuppe und Skiwasser

Schneepflug statt Pizzaschnitte

Aus der Spur ins Gelände

Der Schmerz in den Zehen

Zwiebellook und Heckeinstieg

Hermann Maier statt Wolfgang Schüssel

Unser Feind, der Snowboarder

Völkl fährt man nicht

Aus der Jethose ins Schneehemd

Vorfahren, Frieren, Flaschendrehen

Single am Dreiersessellift

Skifahren, das war auch ein Fernsehsport

Generation Girardelli

Grado oder Obergurgel

FRÜHLING

Frühlingserwachen, bitte warten

Jugend ohne Shoppen

Als der Bäcker nicht bloß auftaute

Da wächst er noch rein

Endlich unter der Trockenhaube

Musik kam aus dem Radio

Hitparade und Bandsalat

Die Bedeutung des Telefons

Wenn der Vater abhebt

Die Leitung muss frei sein

Verliebt am Telefon

Wenn der Anrufbeantworter blinkt

Versetzt am falschen Ort

Geld aus, Abend aus

Cindy in Palmers

Maverick im Cockpit

Petting mit Dr. Sommer

SOMMER

Sprungbrett, Standbad, Sonnenbrand

Das Fahrrad, unser bester Freund

Unter Männern im Stadion

Am Sprungbrett

Ein Tag am See

Echte Brüste wippen

Kirschen, Bauchweh und die falsche Ananas

Wenn Gäste kamen

Der Weg an die Adria

Auf der Rückbank durch die magische Nacht

Cocobello und viele Nullen

Unser Weißer Hai war die Qualle

Bräune schinden als Urlaubsziel

36 Fotos für die Ewigkeit

Die Eroberung der Welt

Schwarze Flecken im Lebenslauf

Es fährt ein Zug nach nirgendwo

HERBST

Vom Jausenbrot zum Brotstudium

Schutzanzüge gegen Scharlach

Die Einsamkeit der Schlüsselkinder

Ein Stamperl mit der Oma

Immer schön aufessen

Vom Verhungern und Verdursten

Die Klassenbucheintragung

Die Welt in Fächer geteilt

Der Geruch nach Schularbeit

Nur keinen Ganztagswandertag

In der Bubenschule

Als der Schulatlas nicht mehr stimmte

Pünktlich oder Hausarrest

TV-Voting per Klospülung

Luftpost, Poesiealben und Tagebuch

Als Brockhaus unser Google war

Mag. rank. xerox

Tausche Sparschwein gegen Werkzeugset

Der Geruch von Feuer

Nebelschwaden und Weltschmerz

Danksagung

Impressum

Für die Buben

Vielleicht war nicht alles genau so, wie wir es beschreiben. Aber vieles könnte genau so gewesen sein. Wir wurden beide Anfang der 1970er-Jahre geboren. Der eine wuchs im Westen Österreichs auf, in einer Stadt. Die andere im Osten, am Land. Trotz der Unterschiede hat sich vieles ähnlich angefühlt: Die Gemeinsamkeiten bilden die Basis für dieses Buch. Im Text sind wir nicht immer wir. Und Vater und Mutter sind nicht immer unsere Eltern. Irgendwo zwischen dem Immer und dem Nie dürfte das Lebensgefühl der 1970er- und 1980er-Jahre zu finden sein. Danach haben wir gesucht.

Winter


VOM ERSTEN SCHNEE
ZUM LETZTEN SCHWUNG

Mit den Erinnerungen an unsere Kindheit ist es wie mit allen Erinnerungen: Sie halten einer Überprüfung nur selten stand. Es war immer kalt und es lag sehr viel Schnee. Hat man zum Beispiel in einer Stadt in Westösterreich gewohnt, in einem Haus mit Hof, dann kann man sich vielleicht noch daran erinnern, in diesem Hof Schneehöhlen gebaut zu haben. Also Gänge mit Ausgängen oben und seitlich, in denen man herumkriechen und spielen konnte. In der Mitte sogar mit einem Iglu. Müssen also Mordswinter mit wahnsinnig viel Schnee gewesen sein damals, oder? Es existiert sogar ein Foto davon. Allerdings sind Schneehöhlen für einen Sechsjährigen etwas anderes als für einen erwachsenen Beobachter. Betrachtet man das Foto genauer, ist nur ein großer Schneehaufen zu sehen, der durch das Schneeschaufeln entstanden ist.

 

Es gab sehr schneereiche Winter in den 1970er- und 1980er-Jahren. Es gab aber auch schneearme. Wenn wir uns recht bemühen, so können wir uns vielleicht auch an endlose Spaziergänge erinnern, zu denen uns die Eltern während der wenigen Stunden mit Tageslicht zwangen, um „auszulüften“, wie sie es gern nannten. Dann schleppten wir uns über festgefrorene Ackerfurchen und tote Wiesen und kein Tüpfelchen Schnee war zu sehen. Aber diese Winter sind überdeckt von den glorreichen, schneeweißen Wochen, die für uns die Winter unserer Kindheit sind. So hätte es immer sein können.

Am schönsten war es, wenn der Schnee über Nacht kam. Am schönsten war es, wenn der Schnee über Nacht kam. Wir liefen zum Fenster, und statt dem braun-grünen Gatsch und den traurigen, nackten Baumwedeln, die uns noch ein paar Stunden zuvor eine gute Nacht gewünscht hatten, sagte nun eine dicke Schneetuchent guten Morgen. Alles lief in Zeitlupe. Der Schnee schaltete einen unwirklichen Filter vor unsere Sinne. Die Verlangsamung war nicht nur Einbildung: Auf den nicht geräumten Straßen bewegten sich alle tatsächlich vorsichtiger als sonst.

Winter, das waren Eiszapfen an Dachrinnen, die wir abzubrechen versuchten, um daran zu lutschen. Überhaupt hat man uns erst viel später abgewöhnt, Schnee zu essen. Sich als Kind gut eingepackt ungebremst in den Schnee fallen zu lassen (nach hinten, um dann mit den Armen einen Engelabdruck zu hinterlassen) haben wir bis heute als Zeichen von bedingungslosem Vertrauen abgespeichert. Winter war auch, den Atem vor dem Mund sehen, Eis von Fenstern kratzen oder auf Autoscheiben Namen in die Raureifschicht ritzen. Schneebälle auf Verkehrsschilder werfen oder den Mitschülern in den Nacken stecken. Auch das „Einreiben“ mit Schnee gehörte als fixer Bestandteil zum Winter.

Dass uns ständig kalt war, damals, lag auch daran, dass nicht flächendeckend geheizt wurde. Es war üblich, in einem Haus nicht alle Zimmer gleich warm zu machen, sondern eben nur jene, die ständig benützt wurden. In den öffentlichen Verkehrsmitteln und in der Schule war es auch drinnen kalt, wenn es draußen kalt war. Wollpullover waren, abgesehen davon, dass sie kratzten und gerne dunkelbraun waren, kein modisches Bekenntnis, sondern pure Notwendigkeit. Im Winter mit kurzen Ärmeln im Klassenzimmer sitzen? Undenkbar. Sweatshirts gab es erst später in unserem Leben. Wie erstaunt waren wir, dass Pullover auch weich und angenehm sein konnten! Von „Fruit of the Loom“ waren diese ersten Segensbringer beispielsweise.

Hauben waren ohne Ausnahme unschick und juckten am Haaransatz. Sie waren selbst gestrickt und in Form, Farbe und Material grauenvoll. Aber auch die gekauften waren nicht viel besser: Es gab etwa solche, die nach oben hin viel Stoff und die Form einer Raute hatten. Sie standen immer in die Höhe. Egal, zu welcher Haube man vergattert war – Diskussionen über die Notwendigkeit einer Kopfbedeckung gab es zwar, waren aber zwecklos: Sobald man sie abnahm, standen einem die Haare zu Berge und man musste sich zunächst ordentlich kratzen. Heute sehen wir fassungslos, wie junge, coole Menschen sogar im Sommer Wollhauben überziehen, die uns noch im Nachhinein vor Scham zum Weinen bringen könnten.

Wenn wir morgens in die Schule aufbrachen, war es noch stockdunkel. Das störte uns gar nicht, verhieß es doch ein wenig Abenteuer. Sich im Dunkeln draußen aufzuhalten war uns ja sonst strikt untersagt – die Logik, warum Abenddunkel im Gegensatz zu Morgendunkel unzumutbar war, erschloss sich uns beim besten Willen nicht. Wir schlitterten auf jeder Eisplatte, die wir finden konnten. Sonst wäre es kein echter Winter gewesen.

Nach der Schule ging man rodeln. Es gab richtige Schlitten für eine und zwei Personen. Sie waren unhandlich und kamen uns altmodisch vor. Am Rodelhügel – den gab es in jedem Dorf – musste es aber ein Bob sein. Die gängigen Varianten waren der Zipfelbob mit seinem Riesenzinken, der Plastikbob mit oder ohne Bremsen und als Highlight der Lenkradbob, der dennoch unlenkbar war. Am schnellsten und wildesten ging es aber beim Sacklrutschen bergab. Feste Futter- oder Düngersäcke waren dafür am besten geeignet. Näher konnte man dem Boden nicht kommen. Blauer konnte ein Po auch nicht werden als nach einer Sacklrutschpartie.

Bei schlechtem Wetter war der Eislaufplatz eine Alternative. Dort drehten wir zu Musik aus Udo Hubers „Die großen Zehn“ unsere Runden. Zum Standardprogramm gehörten aber auch jene Lieder, die heute noch auf keinem Eislaufplatz fehlen dürfen: „Rivers of Babylon“ von Boney M, „Hands up“ von Ottawan und „Jenseits von Eden“ von Nino de Angelo. Wir jagten einander, kratzten mit den Kufen Eisschnee zusammen, um damit Schneebälle zu formen. Wenn uns ein Mädchen gefiel, versuchten wir möglichst knapp vor ihm abzubremsen. Burschen trugen Hockeyschuhe, Mädchen klassische weiße Eislaufschuhe aus Leder. Und rosa Ohrenschützer, ebensolche Legwarmer. Wenn uns Mädchen jemand gefiel, schauten wir keinesfalls zu ihm hin. Jeder Annäherungsversuch wurde empört zurückgewiesen. Das Balzen auf dem Eislaufplatz war anstrengend und völlig fruchtlos. Wir liebten es.

Hatte es über Nacht geschneit, mussten wir in der Früh manchmal beim Schneeschaufeln helfen. Schneeschaufeln war anstrengend: Hatte man Handschuhe an und den Anorak geschlossen, war einem bald zu heiß. Versuchten wir den Anorak schnell auszuziehen, fraß sich der Zippverschluss im Futter fest. Wir waren in der Jacke gefangen. Und ohne Handschuhe bekam man Blasen an den Händen. Schnee schaufeln musste man immer sofort, sonst wurde der Schnee zu schwer. Der Lärm des Schneeschaufelns, das Kratzen der Stahlkante am Asphalt gefolgt von dem dumpfen „Wuhp“, wenn Schnee mit Schnee kollidiert, wurde zwar vom frischen Schnee gedämpft. Aber das kollektive „Krch krch“, das reihum ertönte, gehörte zu den winterlichen Morgenstunden wie das Vogelgezwitscher zum Sommermorgen.

Wir hatten zwar vielleicht nicht so viele verschiedene Worte für Schnee zur Verfügung wie ein Inuit. Aber doch ein paar sehr lautmalerische: Bruchharsch zum Beispiel. Oder Firn. Auch Pulverschnee. Und Haxlbrecher. Oder die Graupel, die sich noch nicht entschließen können, Flocken zu sein. Und dann gibt es noch den sehr kalten Schnee, der sich weder zu Schneebällen noch zu Schneemännern formen lässt. Am liebsten ist uns bis heute das Geräusch, wenn frischer Schnee von den ersten Fußstapfen zusammengedrückt wird.

Am klarsten strukturiert war der Dezember: Hier herrschten das Christkind und der Nikolo. Der wiederum zusammen mit dem Krampus, der uns bei Perchtenumzügen windelweich prügelte, und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb? – gingen wir immer wieder gerne hin. Es gab keinen Weihnachtsmann, keine Dekorationen in Vorgärten und an Hausfassaden, an denen heute ganze Rentierschlitten mit blinkenden Lichterketten die dunkelste zur hellsten Zeit des Jahres machen. Unsere Winter waren kalt, still und schwarz. Wir bastelten Strohsterne und buken Vanillekipferln. Das heißt, wir verstreuten Mehl, Zucker und Teigbrösel, aßen so viel Teig wie möglich und formten das, was wir für Kipferln hielten, aber eher fetten Raupen glich. Die Mütter formten sie heimlich um, und niemand wunderte sich, warum das, was aus dem Backrohr kam, ganz anders aussah als das, was wir angefertigt hatten.

Wir warteten auf den Heiligen Abend. Das Warten war überhaupt nur erträglich, weil es täglich ein Adventkalendertürchen zu öffnen gab. Auch der Christkindlmarkt half. Der hatte im Gegensatz zu den Weihnachtsmärkten heute nur wenige Stände: Es gab Maroni, kandierte Äpfel, Glühwein und Kinderpunsch, Kunsthandwerk (sehr langweilig) und Plastikspielzeug aus Asien (sehr begehrenswert).

Der 24. Dezember war der längste Tag des Jahres. Wir durften, nein, wir mussten von der Früh an fernsehen. Und wollten doch nur, dass es endlich dunkel wurde. Weihnachten war ein riesengroßes Mysterium, das Geheimnis dort drinnen im Wohnzimmer, bei dem es für uns nie mit rechten Dingen zuging. Und das so schnell wieder vorbei war. Das Christkind haben wir auch nie gesehen.

Die Tage bis zu Neujahr hätten niemals enden dürfen. „Zwischen den Jahren“ saßen wir bis nach Mittag im Pyjama im Wohnzimmer, das für uns zu einem großen Kinderzimmer auf Zeit geworden war, und bespielten alle Geschenke, die wir bekommen hatten. Wir versuchten den Jahreswechsel so weit wie möglich hinauszuschieben. Denn mit dem Bleigießen am Silvesterabend und dem darauffolgenden Feuerwerk begann für uns Kinder schon das lange Warten auf das nächste Weihnachtsfest.

Allerspätestens nach Silvester, wenn das Neujahrskonzert vorbei und die Vierschanzentournee in vollem Gange war, lag zumindest weiter oben genug Schnee, um uns endlich dem eigentlichen Winterthema widmen zu können: dem Skifahren. Nichts sollte uns mehr prägen und uns auf der endlosen Suche nach dem eigenen Selbstverständnis ein so großes Stück weiterbringen wie diese für uns natürlichste Fortbewegungsform auf Schnee. Damals, als das Skifahren noch ein Volkssport war.

Holländer und Kinder müssen unten bleiben

Nur wer Ski fahren konnte, konnte Ski fahren. Denn Ski fahren war noch völlig undemokratisch. Es gab keine Carvingski, keinen Kunstschnee und vor allem keine präparierten Pisten jenseits der Baumgrenze. Um den Kurven- oder Tellerlift, der immer auch als Treffpunkt der Skischule diente, endlich hinter sich lassen zu dürfen und in die beachtlichen Weiten eines Skigebietes aufbrechen zu können, war es notwendig, deutlich fortgeschritten zu sein. Denn Skifahren hatte durchaus noch eine alpine Dimension. Bei schlechter Sicht und Wind kam man sich ziemlich verlassen vor, die Abfahrt wurde, wenn schon keine Sache auf Leben und Tod, so doch eine ernste Angelegenheit. Wer im Steilstück die Kontrolle über die Skier verlor, fand sich unversehens ein paar Hundert Höhenmeter weiter unten wieder. Die Ausrüstung (ein Stock dort, die Haube da, ein Ski – ja, wo eigentlich?) weitläufig im Gelände verteilt.

Bis es aber so weit war, und man überhaupt Gelegenheit bekam, ganz oben zu stürzen, konnte das durchaus einige Jahre dauern, da sich die Übungsgelegenheiten, zumindest dann, wenn man nicht unmittelbar in einer Skiregion wohnte, auf eine Handvoll Ferientage und ein paar Wochenenden pro Saison beschränkten. Schon rote Pisten waren damals für Fahranfänger eine echte Herausforderung. Vor allem, weil sie mangels Kunstschnee im Laufe einer neuschneelosen Woche – aber oft schon während eines Tages – ihr Gesicht völlig verändern konnten. Sie wechselten von Rot auf Braun, steinige, eisige Passagen inklusive. Auch mehrere Quadratmeter große Eisplatten, die sich mitten im sonst tadellosen Hang unter einer hauchdünnen Schneeschicht verbargen, gehörten zum Alltag. Schwarze Pisten wiederum stachen nicht wie heute vor allem durch ihre Neigung hervor, sondern wurden oft schlicht nicht präpariert, weil das Gelände sich mit dem zur Verfügung stehenden Gerät nicht so ohne Weiteres glätten ließ. So traf man abseits der Anfängerlifte nur selten Pistenraupen. Und so gut wie nie Holländer.

Das Pistennetz war noch nicht so ausgeklügelt wie heute. Anfängerabfahrten endeten manchmal ohne Vorwarnung in schwarzen Pistenstücken. Regelmäßig war es notwendig, lange Flachpassagen mit Schlittschuhschritten und kräftigem Stockeinsatz zu überbrücken, um überhaupt wieder zum Lift zurückzukommen. Für Anfänger oft noch ein schwierigeres Hindernis als die steilsten Buckelpisten, die man im Notfall mit abgeschnallten Skiern am Hintern rutschend bewältigen konnte. Die Saison endete ohne Schneekanonen deutlich früher als heute. Spätestens Anfang März war es in den niedrigeren Regionen mit dem Skifahren vorbei – und schon zuvor waren wir oft gezwungen, die Skier weit oberhalb der Talstation abzuschnallen. Danach mussten wir ein Stück zu Fuß gehen – wie haben wir die klobigen Skischuhe verflucht! – oder mit Gondel oder Sessellift ins Tal fahren. Eine unsportliche Schmach: Normalerweise war die Lifttalfahrt den Nichtskifahrern, also Touristen, Sonnenanbetern vorbehalten, die auch einmal zum Gipfel hinauf wollten.

 

Deshalb fühlen wir uns heute oft um unsere vielen harten Lehrjahre geprellt, wenn in Skigebieten Vielfach-Sessellifte jeden Anfänger vom ersten Tag an direkt zum Gipfelkreuz führen und es oben zugeht wie früher nur am verpönten Babylift. Es ist schön, dass Carvingskier dem Sport neue Impulse gegeben haben. Es ist nicht so schön, dass man mit ihrer Hilfe ohne lästigen Umweg über Stemmbogen und Co. das Skifahren beherrscht, ohne es wirklich zu beherrschen. So rasen Menschen die Piste hinunter, die den Schneepflug nie gelernt haben. Deshalb können sie dann auch so schlecht bremsen, wenn vor ihnen ein Kind im Schneepflug fährt.

Herunter kommt jeder

Beim Lift anstehen heißt heute, mit den Skiern auf einem Förderband in Richtung Einstieg geschoben zu werden, nachdem der Chip einsatzpflichtiger Skipässe wie von Geisterhand das Drehkreuz auf Grün geschaltet hat. Uns schnalzte noch die Liftkarte ins kalte Gesicht, nachdem wir sie in den Kontrollschlitz gesteckt hatten. Der Handschuh, den man sich für das Manöver ausgezogen und zwischen die Beine gestopft hatte, landete auf dem Boden, beim Angeln danach verlor man das Gleichgewicht. Und hasste sein unwürdiges Auftreten. Dabei war der Skipass zum Stecken schon ein riesiger Fortschritt zur persönlichen Kontrolle jeder einzelnen Karte davor. Vor dem strengen Blick des Personals auf unseren Skipass hatten wir uns auch dann gefürchtet, wenn es nicht die ausgeborgte Saisonkarte der einheimischen Cousine war. Die Karten am Gummiband waren dennoch ein ständiger Verdruss. Wer sie nicht ordentlich unter die Jacke zurückgestopft hatte, dem flatterte sie beim Fahren um die Ohren oder – noch schlimmer – davon und wurde nie mehr gefunden.

Die eigentliche Herausforderung beim Skifahren für uns war das Hinauffahren. Wenn man mit acht Jahren und knapp 25 Kilo Körpergewicht alleine an einem Schleppliftbügel hing, bedeutete das den wahren Kampf gegen den Berg. Immer darauf bedacht, nur ja nicht den Bodenkontakt zu verlieren, gleichzeitig gerade in steilen Passagen nur knapp schwer genug, um nicht mit dem Bügel nach oben gezogen zu werden. Da wir aber gerade in diesem Alter unersättliche Skifahrer waren und bei jedem Wetter und zu jeder Uhrzeit rauf und runter fuhren, mussten wir die Schleppliftfahrten zu den Randzeiten oft alleine bewältigen. Die Alternative wäre gewesen, jedes Mal zu warten, bis ein möglicher Mitfahrer auftauchte. Manchmal war der Zug des Bügels so stark, dass wir den Bügel nur mehr mit den Händen zu fassen bekamen. Dann kämpften wir vornübergebeugt so lange gegen das Hinausfallen, bis uns die Kraft verließ. Wichtig war, zumindest so lange durchzuhalten, bis ein Aussteigen auf der Strecke überhaupt möglich war. Es gab Passagen, wo man gar nicht mehr zurück zur Piste gelangen hätte können. Dazwischen lag ein Graben, ein Wald oder ein unüberwindbar scheinender Tiefschneehang. Die Liftfahrt verlangte uns oft mehr Kraft, Können und Konzentration ab als die folgende Abfahrt.

Die Skigebiete waren voll von Liftfallen: Elend lange unendlich langsame Einzelsessellifte mit schiefen Sicherheitsbügeln – manchmal sogar nur Ketten zum Einhängen –, unter denen wir mit unserer Größe problemlos durchgerutscht wären. Die Stützen lagen so weit auseinander, dass man bei schlechter Sicht glaubte, nur an einem Seil in der Luft zu hängen. So alleine waren wir in unserem ganzen Leben nie wieder wie in jenen Minuten, in denen der Einzelsessellift wegen starken Windes in der Mitte zwischen Tal- und Bergstation ohne Vorwarnung abgeschaltet wurde. Dort schaukelten wir im Sturm, froren mit den nassen Handschuhen vor dem Mund und dem Zweifel im Herzen, ob das Seil, nur weil der Lift gerade nicht in Bewegung war, tatsächlich nicht aus der Führung springen konnte. War das Wetter gut, vertrieben wir uns die Fahrt damit, mit der Spitze des Stockes in die Styroporauflage des Sitzes zu ritzen: Herzerln, Initialen oder den eigenen Namen, später brannten wir auch mit Zigaretten Löcher hinein.

Als wir kleiner waren, war es bei Doppelsesselliften schwierig, den Liftbügel ohne Hilfe zu schließen. Ziemlich oft sind wir da an der vorderen Sitzkante ohne Sicherung zehn Meter über dem Boden balanciert, um den Bügel so greifen zu können, dass er auch geschlossen werden konnte. War er endlich zu, haben wir aus Langeweile und weil wir durstig waren – und das waren wir immer – mit der Zunge den Liftbügel berührt. War es kalt genug, sind wir dann kleben geblieben: Kurz vor dem Ausstieg blieb uns nichts anderes übrig, als die festgefrorene Zunge gewaltsam wegzureißen. Das Blut im Mund half jedenfalls nicht gegen unseren Durst.