Buch lesen: «Das Biest in Dir»

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Das Biest in Dir

Felix Hänisch

Impressum

Dramatis Personae

Teil 1

Prolog

Der Mann im Wirtshaus

Die Großen Brüder

Iatas

Reise mit Fremden

Die Prophezeiung

Die Ausbildung beginnt

Der Albewald

Nächtliche Gefahren

Sorgen

Die Rückkehr der Alben

Das Urteil der Götter

Rückkehr nach Baknakaï

Im Reich der Zwerge

Wieder im Wald

Vergewaltigt

Angriff auf den Tempel

Ein folgenschwerer Fehler

Gerechter Zorn

Ein Freund in der Not

Eine fragwürdige Befragung

Epilog

Teil 2

Prolog

Ein neuer Morgen

Notwendiges Übel

Bündnispartner

Gottesgeschenk

Die Außergewöhnlichen Zwölf

Die Vergessenen

Der Naoséwald

Die Brücke ins Jenseits

Krieg zieht auf

Kid Killer

Das letzte Bollwerk

Die Schlacht beginnt

Vor den Toren

Freund und Feind

Die Krieger Urgolinds

Blutrache

Feinde überall

Späte Erkenntnis

Alte Bekannte

Späte Rache

Ein bitteres Ende

Bündnis der Sieger

Epilog

Felix Hänisch

Das Biest in Dir

Band 1

Das Urteil der Götter

Fantasy

Felix Hänisch

Geboren 1991 in Leipzig ist ihm die Literaturstadt bis heute Heimat und Zuhause geblieben. Schon seit frühster Kindheit hat er sich für abenteuerliche Geschichten aus Büchern und Fernsehen interessiert, sodass er im Alter von 18 Jahren schließlich selbst damit begann erste Texte niederzuschreiben.

Auch die Grundzüge um die mittelalterliche Welt Epsor und die beiden jungen Krieger mit den verborgenen Kräften sind zu dieser Zeit entstanden. Die frühen Kapitel tippten sich fast wie von selbst und im Jahr 2012 veröffentlichte der AAVAA Verlag schließlich den Beginn seiner Fantasy-Reihe »Das Biest in Dir«. Seither ist das Epos neben einigen Kurzgeschichten und einer Manga-Adaption auf vier Romane angewachsen, die nun nach einer aufwendigen Überarbeitung als Doppelbände im XOXO Verlag ihre Neuauflage finden.

Wenn er gerade einmal nicht in die Tasten haut, beschäftigt er sich mit seiner zweiten großen Leidenschaft, dem Kraftsport im Fitnessstudio, oder baut (wenn auch sehr unregelmäßig) seinen YouTube-Kanal aus.

Weitere Informationen sowie Leseproben und YouTube-Links zu von ihm geschriebenen Kurzhörspielen sind auf seiner Website zu finden.

www.Felix-Haenisch.de

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-076-7

E-Book-ISBN: 978-3-96752-574-8

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung und Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung folgender Bilder von Shutterstock: Nummer 191481509

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Dramatis Personae

MENSCHEN

Skal, Iatas-Meister

Cedryk, ehemaliger Schüler von Skal (verstorben)

Darius, angehender Iatas

Ryu, Adoptivbruder von Darius

Miree, Adoptivschwester von Darius

Mokku, Häuptling des Dorfs der Großen Brüder

Aaron, Iatas-Meister

Ramir, Schüler von Aaron

Farjez, Diener in Baknakaï

Asthirad, Wortführer des Hohen Rates der Iatas

Irys, Iatas-Meisterin von Therry

Therry, angehende Iatas

Rilwanja, ?

Kartoral, König der Vergessenen

Karak, Königssohn der Vergessenen

Mesmaht, enger Freund von Karak

Keptorick, Hauptmann im Heer der Vergessenen

ZWERGE

Barmbas, königlicher Berater

Norbix, König von Mittelberg

Nubrax, Prinz von Mittelberg

Sturk, Wachoffizier in Mittelberg

Paro, Freund und einstiger Mentor von Nubrax

Granbart, ehemaliger Offizier der mittelbergischen Armee

Ephialtes, Leibwächter von Barmbas

Bullrich, Skals früherer Iatas-Meister

ELFEN

Rullkò, Gefängnisaufseher

Pifahnnie, Gefängnisaufseherin

Kid Killer, wahnsinniger Elf unbekannter Herkunft

Ipheriea, Elfin auf Wanderschaft

Esnatora, Königin der Waldelfen

Rehpeidro, ehemaliger Diener von Esnatora

Isolandòr, General der Waldelfenarmee

ALBEN

Pahrafin, älterer Bruder von Saparin

Saparin, Anführer der geheimen Tempelpriester

Peilnhin, Wachoffizier des Albewald-Tempels

Nemesta, wiedererweckte Heldin des Großen Krieges

ORKS

Drug, Anführer einer Kriegstruppe

GÖTTER

Loës, Gott der Alben

Otairio, Gott der Menschen

Boringars, Gott der Zwerge

Sylfone, Göttin der Elfen

Teil 1

Prolog

Der kalte Wind umspielte sein Gesicht. Er liebkoste seine Wangen und fügte ihm zugleich Schmerzen zu, während er ihn mit tausend kleinen Stichen auf seiner makellosen Haut peinigte. Auf dem Gipfel des Berges stehend blickte er sich um. Weit und breit gab es nichts außer Schnee, nur hier und da schauten zerklüftete Felsen und scharfkantige Steine unter der weißen Pracht hervor.

So schön anzusehen, wie dieser Ort war, so lebensfeindlich war er zugleich auch. An beinahe jedem Tag schneite es für mehrere Stunden, so wie heute. Zudem rauschten Lawinen in fast schon regelmäßigen Abständen in Richtung Tal. Kaum jemand war körperlich dazu in der Lage, diesen plateauartigen Gipfel zu erklimmen, und noch weniger hätten es gewollt. Hier oben gab es nichts, kein Leben konnte hier längere Zeit existieren. Es gab keine Pflanzen und somit auch keine Tiere. Nicht mal ein Schneehase oder die genügsamen Gnubüs waren zu entdecken.

»Schön ist es hier«, durchschnitt die raue Stimme der Kreatur die eisige Stille, die einzig von dem klagenden Pfeifen des Windes unterbrochen wurde.

»Absolut perfekt«, stimmte sein Bruder zu, dem, genau wie ihm, alles Leben zuwider war. Außer natürlich dem ihrer eigenen Rasse.

Sie galten seit Langem schon als ausgestorben und dennoch hatten einige von ihnen überlebt. Die meisten waren Nachfahren jener Feiglinge, die in der großen Schlacht von damals geflohen waren und sich versteckt hielten. Anders er und sein Bruder, sie waren damals wie heute Privilegierte und mussten nicht kämpfen. Waren sie einst treue Untergebene ihres Königs gewesen, so lenkten sie heute – der Tatsache geschuldet, dass auch er mittlerweile tot war – selbst die Geschicke ihres Volkes. Doch es wäre übertrieben gewesen, von einem ganzen Volk zu sprechen. Keiner wusste genau wie viele es von ihnen über ganz Epsor verstreut noch gab. Aber war es eindeutig, dass sie bei Weitem nicht mehr so zahlreich waren, wie in den ruhmreichen Zeiten. Das sollte sich jedoch bald ändern. Gemeinsam hatten er und sein Bruder in den langen Jahren, seit dem Ende des Großen Krieges, ihr Dasein zum größten Teil damit verbracht, ihn zu suchen.

Gemeinsam hatten sie von den steilsten Gebirgshängen im Südwesten, bis hin zur weitflächigen Tundra, die den Großteil des Nordens beherrschte, alles erforscht. Waren von den Sümpfen der Orks, quer durch das Land, bis zur anderen Küste am Rande des Naoséwaldes gereist, nur um ihn zu finden. Alles ohne Erfolg. Doch heute sollte es anders sein.

»In den zweihundertneunundfünfzig Jahren, die ich nun schon auf dieser Welt verweile, habe ich so etwas noch nicht tun müssen«, hörte er seinen älteren Bruder voll Abscheu neben sich sagen.

»Ich auch nicht«, stimmte er geistesabwesend zu. »Aber besondere Zeiten erfordern nun einmal besondere Maßnahmen. Hätte mir jemand vor einigen Jahren gesagt, dass wir einmal die Hilfe eines Menschen annehmen würden, ich hätte ihm wohl ohne nachzudenken den Kopf abgeschlagen. Und heute sind es gleich zwei.«

Es vergingen einige Atemzüge des angespannten Schweigens. Aus den Augenblicken wurden Stunden, in denen der eisige Wind weiterhin erbarmungslos an ihnen zerrte. Ihre Hände, die sie inzwischen so gut wie gar nicht mehr spüren konnten, waren bereits blau angelaufen und der Kälteschmerz in ihren Füßen war, trotz der gut gefütterten Stiefel, unerträglich.

Da die beiden kein Zelt mitgenommen hatten und auch nirgendwo eine Höhle oder auch nur ein großer Stein zu sehen war, hinter dem sie Schutz suchen konnten, waren sie der erbarmungslosen Witterung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das Einzige, was sie bei sich trugen und das sie ein wenig gegen den aufkommenden Schneesturm zu schützen vermocht hätte, war eine mit lederner Menschenhaut bespannte Trage. Doch wagten sie es nicht, sich damit gegen die Eiseskälte zu schützen. Nein, dieses Utensil war für einen höheren Zweck bestimmt und durfte nicht durch sterbliche Bedürfnisse, wie dem Wunsch nach Wärme, entweiht werden.

Die Sonne, hinter den dichten Wolken und tanzenden Schneeflocken nur zu erahnen, musste bereits weit über ihren Zenit geschritten sein, als die langen, spitzen Ohren des Jüngeren auf einmal merklich zuckten.

»Hörst du etwas?«, wollte sein Bruder neugierig wissen. Doch die Frage konnte er sich sparen, denn schon im nächsten Moment tauchte eine Gestalt am anderen Ende des Berggipfels auf. Der Sturm hatte inzwischen so stark zugenommen, dass eine Verständigung über diese Entfernung unmöglich war. Zudem schien mit jedem Augenblick mehr Schnee vom Himmel zu kommen. Geradeso als würde das Wetter um ihr Vorhaben wissen und alles daran setzen, es zu verhindern.

»Wir haben nicht Tod und Verfolgung überlebt, um uns jetzt von ein bisschen Schnee und Wind aufhalten zu lassen«, sprach sein Bruder ihm finster aus der Seele und ging der Gestalt unbeirrt entgegen, auf dass sie sich in der Mitte des großflächigen Gipfels treffen mochten. Erst jetzt wurde den beiden bewusst, dass es tatsächlich nur ein Wesen war, das sich schemenhaft gegen das allumfassende Weiß abhob.

Waren sie bisher davon ausgegangen, wie verabredet, zwei Menschen anzutreffen, so mussten sie allerspätestens jetzt, da sie dem Mann unmittelbar gegenüberstanden, feststellen, dass er allein gekommen war. Auch sah er bei Weitem schlechter aus, als bei ihrer letzten Begegnung. Ein blaues Auge, sowie mehrere tiefe Kratzer verunstalteten sein Gesicht und ein Arm war notdürftig mit einer Schwertscheide geschient. Wie er in diesem Zustand den Berg hinaufgekommen war, blieb ihnen ein Rätsel. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre, er war da und nur das zählte.

Wenn er das, weswegen wir uns hier treffen, nicht dabei hätte, wäre er gar nicht erst gekommen, dachte der ältere der beiden Brüder, um sich selbst zu beruhigen. Wo der andere blieb, konnte ihnen indessen auch egal sein. Denn ein Mensch in ihrer Nähe war schlimm und Schande genug. Auch wenn er nur zu gern gewusst hätte, was da passiert war. Die Menschen kämpften ja ohnehin ständig miteinander, zumindest wenn man den Geschichten glauben konnte. Ihr eigenes Volk tat zwar auch nichts lieber als das, doch im Gegensatz zu diesen Barbaren beschränkte sich ihre Gewalt nur auf jene, die anders waren als sie selbst. Nicht jedoch auf die eigenen Leute.

Vergnügt dachte er daran, dass es unter ihnen womöglich Streit wegen der Belohnung gegeben hatte, vielleicht ging es aber auch um eine Frau oder irgendeine andere Nichtigkeit. Die Menschen pflegten schnell mal die Beherrschung zu verlieren und sich wegen Kleinigkeiten die Köpfe einzuschlagen. Doch bei genauerem Hinsehen schienen die Verletzungen des Mannes nicht nur körperlicher, sondern auch seelischer Natur zu sein. Seine Schultern hingen schlaff herab und die Augen waren glanzlos. Er wirkte schwach und alt. Letzteres konnte aber auch nur daran liegen, dass diese Wesen tatsächlich viel schneller alterten als sie selbst. Wie lange lebte so ein Mensch eigentlich?

»Hast du es dabei?« Die Frage seines Bruders riss ihn unvermittelt zurück ins Hier und Jetzt.

»Ja«, antwortete der Mensch einsilbig und griff mit seiner gesunden Hand in die Manteltasche. Was er nach kurzem Herumstöbern darin fand, ließ die Herzen der Brüder höher schlagen. Ein schwarzer, hühnereigroßer Diamant strahlte ihnen entgegen. Er war von solch erhabener Schönheit und Einzigartigkeit, dass es den beiden für einen Moment die Sprache verschlug.

»Was auch immer du tun und wen auch immer du umbringen musstest, um daran zu kommen, es hat sich gelohnt.«

Das Gesicht des Menschen zeigte keine Regung. Er hielt den Stein lediglich in der ausgestreckten Hand und sprach: »Ich bringe euch diesen Diamanten nicht, weil ich euch so gut leiden kann, das wisst ihr. Ich bin hier, um die Welt zu verbessern.«

»Das hast du hiermit getan«, stimmte ihm der jüngere der Brüder mit vor Aufregung heiserer Stimme zu und wollte gierig seine feingliederige Hand nach dem Edelstein ausstrecken. Doch der Mensch zog die seine rasch zurück.

»Wie vereinbart, zehntausend Basren für meine Mühen. Und vor allem aber will ich, dass ...« Aber weiter kam er nicht. Entkräftet wie er körperlich und seelisch ohnehin schon war, sah er den Angriff zwar noch kommen, doch blieb ihm keine Zeit mehr, sein Schwert zu ziehen. Blitzartig grub sich das Messer der Kreatur in seinen dicken Wintermantel. Mit einem letzten Stöhnen auf den Lippen sank der Mann, steif wie ein Brett, die Waffe noch immer im Körper, zu Boden und stand nicht mehr auf.

Unglauben lag in seinen weit aufgerissenen Augen, deren Lider sich nun langsam, aber endgültig, zu schließen begannen.

»Du bekommst gar nichts!«, spie das Wesen, während sein älterer Bruder den Stein aufhob und ihn gen Himmel reckte. Ohne sich abzusprechen oder auch nur mit einem Blick zu verständigen, begannen sie, wie aus einem Munde, eine Beschwörungsformel in einer alten, längst vergessenen Sprache aufzusagen. Als sie geendet hatten, geschah einige Momente lang gar nichts. Schon fürchteten sie, einen Fehler begangen zu haben.

»Hättest du den Menschen nur nicht gleich umgebracht. Vielleicht ist der Stein eine Fälschung und nun erfahren wir nie, wo der echte ist«, begann der eine dem anderen bereits Vorwürfe zu machen und schaute erbost zu ihm hinüber. Doch keinen Wimpernschlag später begann der Boden verheißungsvoll zu erbeben. Urplötzlich und mit einem durchdringenden Krachen, das einem Peitschenhieb gleich die klirrende Luft um sie herum erfüllte, tat sich die Erde vor ihnen auf.

Der Schnee auf dem Berggipfel, der auch im Sommer niemals taute, verdampfte beinahe augenblicklich. Heiße, nach faulen Eiern stinkende Dämpfe drangen aus dem Erdinneren, und wo die Schneedecke bis eben noch blütenweiß geleuchtet hatte, schimmerte es nun rötlich-gelb zwischen den Dunstschwaden hervor. Ein tiefes Grollen, wie von einem urzeitlichen Dämon, der über die Jahrtausende hinweg unter dem Berg vergraben gewesen war, setzte ein und der Boden wankte nun so stark, dass sich die zwei kaum mehr auf den Beinen zu halten vermochten. Jedes andere Lebewesen hätte instinktiv die Flucht ergriffen. Nicht aber die beiden Brüder. Sie standen kaum zehn Armlängen von der Schlucht entfernt, die sich so plötzlich aufgetan hatte, dass nur Zauberei oder höhere Mächte am Werk sein konnten.

Auch als die Erde immer stärker bebte, wichen sie keinen Schritt zurück. Im Gegenteil. Als sich ein kleines, dunkles Bündel, das durch die dichten Nebelschleier kaum zu erkennen war, von dem grell orangenen Hintergrund abhob, gingen sie sogar darauf zu. Ein Unwissender hätte es womöglich für einen weiteren Stein gehalten, der, wie so viele andere, in die sich noch immer ausweitende Schlucht hinab stürzte. Doch hätte er sich gefragt, weshalb er nicht nach unten in die brennend heiße Kluft fiel, sondern im Gegenteil sogar noch daraus hervorzusteigen schien.

Ehrfürchtig platzierten die beiden die aus Menschenknochen gefertigte Trage auf der Erde. Langsam, so als wüsste das unförmige schwarze Bündel genau was es tat, stieg es einen Fingerbeit nach dem anderen aus den Tiefen des Erdinneren hervor und kam durch die Luft immer näher. Als es sich schließlich auf die Bahre herabsetzte, war die Hitze schon unerträglich geworden, sodass den Brüdern der unangenehme Geruch ihrer eigenen versengten Haare in die Nasen stieg. Selbst ihre tränenden Augen mussten sie zwischenzeitlich von dem fesselnden Anblick der Naturgewalten abwenden, da sie bereits unerträglich zu brennen begonnen hatten.

Doch im selben Moment, in dem das Wesen – wenn es denn eines war – die lederne Oberfläche der Trage berührte, schloss sich der Spalt im Erdinneren wieder, so als wäre er niemals da gewesen. Von Ruß geschwärzt lag der Leib, welcher entfernt an das mumifizierte Skelett eines großen Menschen erinnerte, reglos auf dem Boden, sodass sich nicht sagen ließ, ob überhaupt Leben in ihm steckte. Währenddessen sank die Temperatur innerhalb von wenigen Lidschlägen wieder spürbar ab. Die Dunstschwaden verzogen sich und ein frischer Wind kam auf, der den Geruch der Fäulnis in die Ferne trieb.

Alles, was noch daran erinnerte, dass hier soeben ein Wunder und zugleich eine Katastrophe stattgefunden hatten, war die schnee- und eisfreie Fläche, die schon in wenigen Tagen wieder so aussehen würde, wie all die Jahre zuvor. Und der Kadaver auf der Trage, der noch immer so heiß war, dass die Luft über ihm flimmerte. Die beiden Brüder, von ihrem Erfolg ganz siegestrunken, ergriffen jeweils ein Ende der Bahre und machten sich daran, so vorsichtig wie möglich, den Berg hinabzusteigen.

Wären sie mit offenen Augen durch die Welt gegangen, anstatt mit ihren Gedanken noch bei dem eben Erlebten zu verweilen, wäre ihnen aufgefallen, dass der Boden, auf dem der regungslose Mensch lag, nicht nur frei von Schnee war, sondern ihn auch noch immer kein einziger Tropfen Blut benetzte.

Der Mann im Wirtshaus

Es war ein schäbiger Raum. Ein miefiges Bett, ein morscher Tisch und ein Stuhl, der so abgenutzt war, dass sein angeschwärztes Holz den Eindruck erweckte, jeden Augenblick in sich selbst zusammenzufallen. Das kleine Fenster mit der eingestaubten Scheibe war die einzige Lichtquelle und versetzte das Schlafzimmer im oberen Stock des Wirtshauses in ein düsteres Halbdunkel – passend zu Skals Stimmung. Mit drei Schritten hatte der Mann den kleinen Raum durchquert und machte sich an der verrosteten Verriegelung des Rahmens zu schaffen.

»Lässt sich natürlich nicht öffnen«, seufzte er resigniert in das Zimmer hinein. Doch außer ihm selbst war niemand da, der zuhörte. Es war auch nicht so, dass Skal hier drin hätte lüften wollen, obwohl der Raum es durchaus nötig gehabt hätte, aber er musste sich bewegen. Er musste seine Finger mit irgendetwas beschäftigt halten, da sonst die düsteren Gedanken erneut von ihm Besitz zu ergreifen drohten.

Die Nacht würde der alte Soldat ohnehin unten im Schankraum verbringen. Mit einem selbstmitleidigen Lächeln dachte Skal daran, dass er sich so etwas noch vor einigen Wochen nicht einmal im Traum gewagt hätte. Ein Meuchelmörder – und nur Otairio allein wusste, wie viele hinter ihm her waren – hätte leichtes Spiel gehabt, ihm im Schlaf die Kehle durchzuschneiden. Aber das war ihm inzwischen egal. Skal war ein gebrochener Mann, der in seinem Leben schon oft am Abgrund gestanden hatte. Doch dieses Mal war es etwas anderes. Als Iatas hatte er auf ganzer Linie versagt.

Der Orden der Iatas, der seit über zweitausend Jahren zumeist Menschen, hin und wieder aber auch andere Geschöpfe der Zivilisierten Völker von Epsor zu Elitekriegern ausbildete, duldete kein Versagen. Söldner wie ihn gab es inzwischen überall. Manche verdingten sich in regelmäßigen Abständen als Glücksritter in einem der vielen Kriege, von denen es in letzter Zeit mehr gab als gute Ernten. Andere wiederum bereicherten sich als Kopfgeldjäger. Ein Beruf, der zwar kein regelmäßiges Gehalt versprach, doch wenn man mal einen von den großen Verbrechern aufgriff, dann hatte man immerhin für eine ganze Weile ausgesorgt. Viele, zumeist noch sehr junge und unerfahrene Kämpfer, suchten in letzter Zeit dieses Abenteuer. Alt oder wohlhabend wurden in diesem Geschäft jedoch nur die Allerwenigsten.

Und dann gab es noch jene von Skals Sorte. Er hatte bereits vor langer Zeit seine Ausbildung zum Iatas beendet. Doch in den letzten Jahren hatte sich viel in Epsor verändert und man musste kein Gelehrter sein, um zu erkennen, dass eine neue Zeit anbrechen würde. Die Welt der Menschen war im Umbruch.

Ungleich mehr Fehden brachen jetzt im Laufe eines Mondes aus als zuvor in einem Jahrzehnt. Jahrhunderte lange Feindschaften lösten sich zugunsten von Bündnissen auf, die geschmiedet wurden, um ehemalige Freunde zu überfallen und ihnen den Krieg zu erklären. Kinder wurden zu Soldaten, während Krieger seines Schlages immer seltener wurden. Die alten Werte zählten schon seit geraumer Zeit nichts mehr. Und Epsor sah sich inzwischen der Bedrohung vieler einzelner Grafschaften und Herzogtümer gegenüber, die kaum mehr Land besaßen als ein Großbauer. Doch mit Hilfe ihrer in aller Eile bewaffneten Armeen mehrten sie ihre Macht unaufhörlich und fochten untereinander um den verwaist stehenden Königsthron. Inzwischen zählte nur noch, wer mehr Nachschub an neuen jungen Männern hatte.

Zu meiner Zeit war das noch anders, dachte Skal sich im Stillen und lauschte auf die Stimmen unten in der Schankstube. Es lag bereits eine kleine Ewigkeit zurück, dennoch waren einige Teile der Erinnerung frisch und intensiv, da sie schon so oft vor seinem geistigen Augen abgelaufen waren. Vor allem in der letzten Zeit.

Neun Jahre war es mittlerweile her, dass Skal sich des Schicksals eines jungen Kriegers angenommen hatte, der die Grundausbildung zum Iatas beinahe schon mit Leichtigkeit gemeistert zu haben schien.

Cedryk war aus jeder Sicht ein wahrhaft talentierter junger Mann, in dem Skal mehr gesehen hatte, als nur einen Schüler. Für ihn war er wie ein Sohn gewesen. Ein Sohn, mit dem er die Welt bereist und beobachtet hatte, wie er an seinen Aufgaben wuchs; wie er stetig reifer wurde und ihm schlussendlich sogar ebenbürtig war. Während ihrer vielen Abenteuer hatten sie sich nicht nur Freunde gemacht, und waren dem Tod auch mehr als einmal nur knapp von der Schippe gesprungen. Aber obwohl Krieg und Zerstörung ihre dunklen Schatten auf die beiden Freunde geworfen hatten, war es dennoch die schönste Zeit, die Skal jemals erlebt hatte. Viel mehr als die Erinnerungen daran, war ihm davon nun jedoch nicht mehr geblieben. Denn der Schüler, welchen man ihm guten Gewissens anvertraut hatte, war tot. Cedryk war durch Skals Verschulden gestorben. Noch immer sah er vor sich das Bild des blutbesudelten Körpers und den anklagenden Blick in seinen toten, kalten Augen.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und der alte Krieger wurde urplötzlich aus seinen trüben Gedanken gerissen. Noch vor Kurzem wäre Skals natürlicher Reflex der Griff zum Schwert gewesen, wenn ein Unbekannter die Tür öffnete, doch er hatte sich aufgegeben und ließ inzwischen jede Schutzmaßnahme fahren. Sein Leben war ihm nichts mehr wert.

»Mein Herr ... mein Herr.« Der dicke Wirt war ins Zimmer getreten und versuchte nun umsichtig auf sich aufmerksam zu machen. »Mein Herr, Euer Essen ist fertig, wünscht Ihr hier zu speisen oder ...«

»Nein, lass es unten. Ich komme sofort«, meinte Skal tonlos, nahm seinen Rucksack, das Schwert und den Mantel und folgte dem Wirt aus dem dunklen Raum. Er hatte nicht vor, noch einmal in das Zimmer zurückzukehren. Skal brauchte jetzt Gesellschaft, auch wenn sie nur aus dem Gesindel bestand, welches sich um diese Zeit in einem so abgelegenen Gasthaus herumtrieb.

Im Schankraum angekommen, der vor einer halben Stunde noch fast leer gewesen war, tummelten sich jetzt, außer Skal, dem Wirt und seiner Kellnerin, erstaunlich viele Leute. Eine Handvoll zerlumpter Söldner aus der nördlichen Tundra saßen nahe der Tür und spielten mit unbemalten, grobgeschnitzten Würfeln an einem der Ecktische. In beinahe schon regelmäßigen Abständen johlten sie immer wieder auf, wenn ihre Münzen reihum den Besitzer wechselten. Einer von ihnen, ein alter Haudegen mit warzigem Gesicht, und einer ledernen Augenklappe, blickte kurz zu Skal auf, als dieser die Treppe herabschritt. Doch schien er seinen braunen Mantel nicht als die Auszeichnung und Uniform zu erkennen, welche sie darstellte. Bereits einen Lidschlag später war die Aufmerksamkeit des Mannes wieder bei seinen düsteren Begleitern und den fallenden Würfeln.

Genau wie für Skal war es für die meisten hier sicher die letzte Übernachtungsmöglichkeit vor der noch einen halben Tagesritt entfernten Hafenstadt Lerm. Von dort aus würde er dann mit der Fähre nach Baknakaï, dem Hauptsitz seines Ordens, übersetzen.

Flüchtig und dennoch mit unverhohlener Neugier ließ der Iatas seinen Blick weiter durch den Raum schweifen. Neben einem Kaufmann – man erkannte ihn an der für seine Zunft üblichen grünen Mütze, die ihn als neutralen Händler kennzeichnete und auch in Kriegszeiten freies Geleit versprach – saßen zwei Zwerge, sowie ein vornehm gekleideter Herr mit seinem Reisegefolge in der Stube. Wahrscheinlich hatte der Adlige nicht ohne Grund die am weitesten von den Nordmännern entfernten Tische in Beschlag genommen. Mit gerümpfter Nase saß er demonstrativ mit dem Rücken zu ihnen auf seinem Stuhl und starrte übertrieben konzentriert auf seinen Teller.

»Hier ist noch ein freier Platz, mein Herr«, sprach der Wirt dienstbeflissen und führte Skal zu einem Stuhl direkt am Tresen. Einen Moment später stellte ihm die Kellnerin die Reste von dem, was wohl mal ein Kaninchen gewesen war, in einem halbrunden Napf auf die zerkratze Holzvertäfelung.

»Darf ich mir die Frage erlauben, was ein hoher Iatas wie Ihr in meiner kleinen Schänke will?«, fragte der Wirt vorsichtig, während er einen schmutzigen Becher mit einem noch schmutzigeren Lappen zu säubern versuchte. »Nicht, dass es mich stören würde, aber die meisten Leute nutzen die Hauptstraße südlich von hier, um nach Lerm zu gelangen.«

»Ich ... hatte es nicht so eilig«, entgegnete Skal ausweichend und stocherte unzufrieden in seiner Mahlzeit, wobei er es tunlichst vermied, dem Mann in die trüben Augen zu sehen. Cedryks Tod machte ihm immer noch schwer zu schaffen, und es brannte ihm auf der Zunge, darüber zu reden, obwohl er wusste, dass es gefährlich für ihn war. Doch wem sollte der alte Wirt es denn schon weitererzählen? Skal musste sich einfach jemandem mitteilen, viel zu lange hatte er schon geschwiegen und den Kummer in sich hineingefressen.

»Weißt du, bis vor Kurzem erstrahlte die Welt für mich noch in einem wunderbaren Glanz, und man hat großes Vertrauen in meine Fähigkeiten gesteckt. Aber das Leben holt einen schlussendlich doch immer wieder ein.« Skal atmete schwer. »Ich habe versagt. Mein Schüler, Cedryk war sein Name, ist tot.

Wäre er doch bloß nicht so sturköpfig gewesen.« Die letzten Worte murmelte der alte Krieger unverständlich und an sich selbst gewandt in seinen ungepflegten Bart. »Nun hat man mich in den Hauptsitz meines Ordens berufen. Einen neuen Schüler werden sie mir wohl kaum noch einmal anvertrauen – würde ich an ihrer Stelle auch nicht. Außerdem bin ich dafür ohnehin schon viel zu alt. Gleichzeitig bin ich für den Stand eines Großmeisters im Hohen Rat aber noch zu jung. Vielleicht werde ich hingerichtet. Mir ist es ehrlich gesagt egal.«

Der Wirt staunte nicht schlecht und hielt betroffen mit dem Reinigen seines Bechers inne. »Das tut mir sehr leid. Darf ich fragen, wie Euer werter Schüler verstorben ist, mein Herr?«

»NEIN, verdammt! Das darfst du nicht. Und hör endlich auf, mich Mein Herr zu nennen, das bin ich nicht!«, schrie Skal, dem augenblicklich die Zornesröte ins Gesicht stieg. Sogleich drehten sich alle Köpfe im Raum nach ihm um.

»Das bin ich nicht«, flüsterte er jetzt nur noch, wobei ihm eine einzelne Träne über die Wange rollte.

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