Nur vor Allah werfe ich mich nieder

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IM ISLAM GIBT ES DAS SCHEIDUNGSRECHT FÜR FRAUEN

2005 fehlte mir zu meinem Studienabschluss in Turkologie nur noch die Diplomarbeit, aber ich musste mein Studium für eine längere Zeit unterbrechen. Ich ließ mich scheiden und musste mit meinen beiden Söhnen, die damals neun und sieben Jahre alt waren, ein neues Leben aufbauen. Mein Mann erlaubte mir zwar zu studieren, er rechnete aber nicht damit, dass ich nicht nur studieren, sondern mich auf der Uni auch sozial engagieren würde. Alle meine Veranstaltungen, meine Fortschritte waren für ihn zu viel. Natürlich war das nicht das einzige Problem. Zusammenfassend kann ich sagen, wenn ich nach den zwölf Jahren nicht Schluss gemacht hätte, hätten meine Kinder wahrscheinlich entweder keine Mutter oder keine gesunde Mutter mehr. Viele Jahre lang hielt ich meine Ehe für meine Kinder aus. Nicht nur wegen meinem Mann selbst, sondern auch wegen seiner Familie in der Türkei, die mich beharrlich zu unterdrücken versuchte.

Meine Familie wollte nicht, dass meine Ehe zerbrach und war dagegen, als ich nach acht Jahren Ehe bereits sagte, ich wolle mich scheiden lassen. Sobald meine Eltern allerdings sahen, wie schlecht es mir in der Ehe ging, empfahlen auch sie mir die Scheidung. Nach islamischem Recht darf eine Frau sich scheiden lassen.

Für einige Verwandte galt Scheidung dennoch als eine Schande. Hätte ich mich damals mit dem Koran ausgekannt, hätte ich meine Verwandten gefragt, warum Allah die Scheidung im Koran erlaubt, sie aber nicht. Hat Allah etwa eine Schande vorgeschrieben? Ich hätte gefragt: Steht etwa die Ehre der Menschen und der Familie über Gott?

Aus meiner Scheidung ging ich gestärkt hervor. Nie wieder würde ich mich einem Mann so unterwerfen.

In der muslimischen Gesellschaft herrscht die Meinung vor, dass Ehen und Familien nicht zerbrechen dürfen. Auch ich glaube, dass die Familien den Kern der Gesellschaft bilden und halten sollten. Aber um welche Ehen geht es hier? Ist etwas, bei dem nur der Mann das Sagen hat, aber die ganze Last auf den Schultern der Frauen liegt, wirklich eine Ehe?

Das Leben, das ich führte, das Millionen von muslimischen Frauen zwangsweise führen, ist eine Form der Sklaverei. Bis heute halten solche »Ehen« nur aufgrund der Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft der Frauen.

Neuerdings beobachten wir den Trend, dass junge Leute heiraten und sich bereits nach Monaten, manchmal sogar schon nach ein paar Wochen wieder scheiden lassen. Das tut mir leid. Allerdings ist es falsch, die Schuld für diese Scheidungen nur den Frauen zu geben. In der Türkei gibt es fundamentalistische Gruppen, religiöse Sekten, die ohne Scheu zu behaupten wagen, je stärker und gebildeter Frauen seien, umso eher würden sie die Ehen zerstören.

Meiner Meinung nach scheitern diese Ehen zunehmend an ihrem Anachronismus. Diese Ehen gehen auseinander, weil die sogenannten »Gelehrten« im 21. Jahrhundert noch immer dieses verkrustete, alte Weltbild vertreten und von den Jungen erwarten, dass sie die patriarchale Tradition fortsetzen. Es ist diese Mentalität, die die Frauen versklavt und den Männern alles Mögliche erlaubt. Es ist diese Mentalität, die wir ändern müssen.

In den letzten Jahren hat sich schon vieles geändert und verbessert. Inzwischen gibt es genug Männer, die auch für ihre Frauen Glück wollen, damit es die ganze Familie erfasst. Es gibt Männer, die auf Geschlechtergerechtigkeit Wert legen.

Ich war jedenfalls mit meinen beiden Söhnen glücklich, denn ich traf jede Entscheidung in Absprache mit ihnen. Ich liebte die Stille und Gelassenheit bei uns zu Hause.

DAS SCHICKSAL NIMMT EINE NEUE WENDUNG

Weitere Heiratsanträge, die mich über meine Mutter erreichten, lehnte ich ab. Ich wollte nie wieder heiraten. Nach diesen schwierigen Zeiten wollte ich zunächst mit meinen Kindern auf Urlaub fahren. Ich wollte etwas Abwechslung, mich ein bisschen erholen und mich auf mein neues Leben konzentrieren. Ich hatte schon alles gebucht, um mit einer Gruppe von Freunden die türkischen Strände zu genießen. Einen Monat vor dem Urlaub erlitt ich einen leichten Schlaganfall, der mein Gesicht halbseitig lähmte. »Willst du den Urlaub wirklich mit diesem schiefen Gesicht machen?«, fragten meine Freundinnen.

»Fahre ich auf Urlaub, um mich zu erholen oder um mich in Szene zu setzen?«, lautete meine Gegenfrage.

Mit meinem schiefen Gesicht und meinen beiden Söhnen kam ich im Sommer 2008 in Izmir an, nicht ahnend, dass sich mein Leben nach diesem Urlaub wieder nicht so entwickeln würde, wie ich es geplant hatte. Dieses Mal nahm es allerdings eine positive Wendung.

In der Gruppe von Freunden, mit denen ich den Urlaub machte, war auch Türker. Wir unterhielten uns oft stundenlang.

»Ich will dich heiraten«, sagte er nach zehn Tagen zu mir.

Ich fragte ihn, ob er verrückt geworden sei.

»Bin ich nicht,« sagte er ungerührt. »Ich will dich heiraten.«

»Kommt nicht infrage«, sagte ich.

»Warum?«, fragte er verwundert.

»Siehst du nicht, wie groß meine Kinder sind?«, erwiderte ich. »Du bist noch ledig, du kannst noch jedes Mädchen haben.«

»Ich heirate entweder dich oder niemanden«, sagte er.

»Ein türkischer Mann kann mich nicht ertragen«, erklärte ich ihm. Ich zählte Hunderte Gegenargumente auf, aber nichts brachte ihn von seinem Vorhaben ab. Ich erklärte ihm, dass ich offen und frei denke, lebe und bin. Dass es für mich keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern gibt und dass ich nur auf die Menschlichkeit achte. Dass ich überall hingehe, wann und mit wem ich will. Dass ich mein Studium fortsetzen werde und dass das alles zu viel für einen Mann sei.

»Mich beeindruckt gerade deine starke und aufrichtige Persönlichkeit«, sagte er. »Wenn du nicht zwei, sondern zehn Kinder hättest, würde ich dich trotzdem heiraten wollen. Mach so viele Fortschritte, wie du willst. Ich kann nur stolz auf dich sein und ich werde dich immer unterstützen.«

Ich konnte nicht glauben, dass es auch solche Männer gab. So einen Mann hatte ich weder in der Familie noch im Bekanntenkreis je kennengelernt. Er beharrte darauf, ich sollte seinen Antrag auch mit meinen Kindern besprechen.

Ganz verschämt sagte ich zu meinen Söhnen, ich hätte etwas mit ihnen zu besprechen. Ich nannte nur Türkers Namen und schwieg. Mein älterer Sohn fragte: »Ist er verliebt in dich?«

»Ja«, sagte ich, während ich meinen Blick senkte und ganz rot wurde.

»Bist du auch in ihn verliebt?«, fragte er.

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, sagte ich.

Türker kam dazu.

»Wann heiratet ihr?«, fragten meine Söhne. Diesmal wurde er rot.

Noch bevor ich etwas sagen konnte, stimmten meine Söhne zu.

Eine meiner besten Freundinnen aus der Volksschule meinte dazu: »Fatma, vertraue deinen Kindern, denn die Kinder spüren die wahre Liebe.«

Einen Monat später heirateten wir.

DAS LEBEN IN DER TÜRKEI

Zunächst wollten wir in der Türkei leben. Meine Söhne, die die Türkei nur aus dem Urlaub kannten, zogen mit Freude hin. Ich dachte, das sei meine Heimat, die ich vor 19 Jahren verlassen hatte. Aber es war alles anders. Die Mentalität des Landes war mir fremd geworden. Ich konnte in der Türkei nirgends zurechtkommen, nichts erledigen und keine Arbeit finden. Es wurde mir klar, dass Sprachkenntnisse alleine nicht ausreichten, um in einem Land zurechtzukommen.

Meine Kinder waren auch nicht glücklich. Dank der Gülenisten war das Bildungssystem in der Türkei zerstört. Die Gülenisten hatten damals im Jahr 2008 ihre Ziele gemeinsam mit der AKP verwirklicht. Von 2002 bis 2013 regierten sie gemeinsam. Kein Vogel konnte ohne ihre Erlaubnis fliegen, wie ein türkisches Sprichwort besagt. Alle Schülerinnen und Schüler mussten ab der Volksschule Nachhilfe an Instituten nehmen, die mehrheitlich unter der Kontrolle der Gülenisten waren. Obwohl die Schullaufbahn so anstrengend war, schafften die besten Schülerinnen und Schüler nicht die Aufnahme an den Universitäten. Die Fragen bei den Aufnahmeprüfungen wurden den Gülen-Anhängern vor der Prüfung ausgeteilt. Sehr viele Studenten haben darunter gelitten.

Meine Söhne waren von neun bis 15 Uhr in der Schule. Wenn sie nach Hause kamen, durften sie eine halbe Stunde Pause machen und mussten dann bis um 22 Uhr abends lernen, mit nur einer Stunde Pause für das Abendessen. Auch am Wochenende stand Nachhilfe am Institut auf dem Programm. Sie hatten keine Freizeit mehr.

Arbeit konnte ich deswegen nicht finden, weil alles unter der Kontrolle der Gülenisten war. Bekannte empfahlen mir, ich sollte mich entweder den Gülenisten oder der AKP, der Partei des derzeitigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, anschließen. Sonst hätte ich keine Chance. Ich wusste, was das bedeutet. Sich anschließen heißt, die Treue halten und sich unterordnen. Das hatte ich mein Leben lang noch nicht getan und ich hatte es auch in Zukunft nicht vor.

Nach zwei Jahren lösten wir unsere Wohnung in der Türkei auf und zogen alle wieder nach Österreich.

ISLAMLEHRERIN IN ÖSTERREICH

Heimat ist das Land, wo man sich in Sicherheit fühlt.

Bis dahin glaubte ich, die Türkei sei meine Heimat und Österreich meine zweite Heimat. Mir wurde klar, dass sich das schon längst geändert hatte. Immer, wenn ich am Flughafen Wien Schwechat ankam, fühlte ich mich wohl und in Sicherheit.

Diesmal musste ich mein Leben nicht von Null an beginnen, sondern von unter Null. Wir mussten vier Monate lang bei meinen Eltern leben, weil wir uns noch keine Wohnung leisten konnten.

 

Als Erstes nahm ich meinen Beruf als Türkischlehrerin beim BFI Wien wieder auf. Dort hatte ich schon während meines Studiums gearbeitet. Parallel dazu unterrichtete ich auch an der Volkshochschule.

Außerdem tauchte zu dieser Zeit eine Idee wieder auf. Vor mehr als einem Jahrzehnt, ich war damals 22 Jahre alt, hatten Bekannte mir empfohlen, Islamlehrerin zu werden. »Du kennst dich mit der Religion sehr gut aus, warum machst du das nicht beruflich?«, fragten sie.

»Das ist eine große Verantwortung«, antwortete ich damals. »Eine Islamlehrerin muss in jeder Hinsicht gut gebildet, hoch qualifiziert und ein Vorbild sein.«

Viele Jahre lang fühlte ich mich diesem Beruf nicht gewachsen. Damals glaubte ich, sowohl alle Islamlehrer als auch die Imame wären sehr kompetent.

Erst nach meiner Rückkehr nach Österreich, im Jahr 2011, als ich 35 war, bewarb ich mich als Islamlehrerin.

Diese Prüfung organisiert und überwacht die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ). Das Recht, islamische Religionslehrer und -lehrerinnen zu bestellen, gibt der IGGÖ eine bundesweite Monopolstellung.

Der Sitz der IGGÖ in der Wiener Bernardgasse wirkt nicht gerade wie eine muslimische Machtzentrale. In einem alten dreistöckigen Haus mit einem begrünten Innenhof und ein paar Parkplätzen belegt die IGGÖ auf mehreren Etagen mehrere Räume. Im ersten Stock befindet sich ein Empfang mit dem Arbeitsplatz der Sekretärin, dahinter zwei weitere Büroräume und das Zimmer des Präsidenten, das mit orientalischen Bänken ausgestattet ist.

Im Untergeschoss befinden sich ein Gebetsraum und ein kleiner Sitzungsraum, der für Versammlungen ab einer Anzahl von zehn Personen zu eng wird. Daher finden auch die meisten Sitzungen und kleineren Veranstaltungen der IGGÖ an anderen Orten, insbesondere in der nahegelegenen Islamischen Fachschule für Soziale Bildung statt. In dieser Schule absolvierte ich den schriftlichen Teil der Prüfung noch 2011 und trat kurz danach zur mündlichen Prüfung an.

Als ich das Klassenzimmer betrat, in dem die Kommission zur Abnahme der Prüfung saß, ärgerte ich mich. Die Prüfungskommission bestand nur aus Männern. Ich hätte mir zumindest eine weibliche Ansprechperson gewünscht. Denn ausgerechnet an diesem Tag hatte ich die Periode und damals glaubte ich gemäß der traditionellen Lehre des Islam, eine menstruierende Frau sei unrein und dürfe den Koran nicht anfassen. Es galt zudem als Schande, wenn Männer davon erfuhren, dass eine Frau menstruiert.

Als die Fachinspektoren in der Jury sagten, dass ich den Koran rezitieren soll, wollte ich im Boden versinken. In Schweiß gebadet sagte ich, ich dürfe nicht lesen. Ich schaffte die Aufnahmeprüfung trotzdem und wurde aufgenommen.

Als ich von der Prüfung nach Hause kam, schrieb ich eine E-Mail an den Schulamtsleiter und kritisierte, dass es bei der IGGÖ keine Fachinspektorinnen gab. Ich fragte, warum alles von Männern besetzt war.

Drei Monate später fand ich eine Wohnung in Wien und brauchte für den Mietvertrag eine Arbeitsbestätigung. Weil mein Fachinspektor auf meine E-Mails nicht reagierte, ging ich persönlich zur IGGÖ. Ich sagte dem damaligen Schulamtsleiter, mein Fachinspektor hätte nicht reagiert.

Er erwiderte: »Sie haben sich doch beschwert, dass es bei uns keine Fachinspektorinnen gibt? Wir haben eine Fachinspektorin aufgenommen und sie ist für Sie zuständig, nicht Ihr ehemaliger Fachinspektor.«

Ich freute mich. Meine erste Kritik an der IGGÖ hatte etwas bewirkt.

Dass eine menstruierende Frau nicht unrein ist und nicht eingeschränkt ist, erfuhr ich erst fünf Jahre später, als ich mich mit dem Koran eingehend beschäftigte. In der christlichen Tradition galt die Menstruation seit jeher als göttliche Bestrafung der Frauen für die Erbsünde. Obwohl davon nichts im Koran steht, haben die Traditionalisten im Islam diesen Glauben übernommen. Auch ich hatte diesen Glauben noch in meinen Anfangsjahren als Religionslehrerin nie infrage gestellt.

Dabei liegt es nahe, diesen Glauben infrage zu stellen. Wieso sollte eine Frau für einen Zustand beschuldigt oder verachtet werden, der eine von Gott bestimmte ontologische Eigenschaft ist und den sie nicht ändern kann?

MEINE LIEBE NOT MIT DEM KOPFTUCH

Als islamische Religionslehrerin war ich von Beginn an durchaus selbstbewusst. Ich kannte mich in der traditionellen Lehre sehr gut aus. Ohne zu wissen, was auf mich zukam und welche Herausforderungen auf mich warteten, schärfte ich meinen Schülerinnen und Schülern ein, nie mit Fragezeichen im Kopf meinen Unterricht zu verlassen. »Ihr könnt mich alles fragen«, sagte ich zu ihnen. »Wenn ich etwas nicht weiß, dann recherchiere ich und sage es euch danach.«

In meinen Anfangsjahren als Islamlehrerin war ich natürlich auch mit der Kopftuchdebatte konfrontiert. Seit Jahrzehnten führen wir Debatten über das Kopftuch, als ob Kopftuch gleich Islam wäre. Als ob der Islam eine Symbolreligion wäre. Ich hatte diese Debatten schon damals satt. Allerdings konfrontierten mich meine Schülerinnen mit der Kopftuchfrage. Sie waren sehr hartnäckig.

»Frau Professor, müssen die Frauen Kopftuch tragen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil es im Koran so vorgeschrieben ist.«

»Müssen Männer Kopftuch tragen?«

»Nein!«

»Ist Gott so ungerecht, Frau Professor?«

Das war einer der schwierigsten Momente in meiner Tätigkeit als Islamlehrerin. Zunächst wich ich aus: »Nein! Gott ist nicht ungerecht! Gott ist der Allergerechteste.«

Andererseits war auch mir nicht klar, warum muslimische Männer in Europa so unauffällig wie Europäer herumliefen, während wir, die kopftuchtragenden Frauen, überall als Erste auffielen, obwohl uns doch explizit beigebracht wurde, dass wir unauffällig sein sollten. Aber das hatte ich niemals laut ausgesprochen. Ich hatte mich nicht getraut. Die Jugendlichen hingegen waren sehr mutig.

Die Schülerinnen wollten und suchten eine Logik dahinter und begnügten sich nicht mit meinen traditionellen Antworten. Ja, meine Antworten waren traditionell, da ich mich damals – wie auch alle anderen – mit dem Thema nicht wirklich auseinandergesetzt hatte.

Die Diskussion ging weiter.

»Wenn Gott so gerecht ist, warum müssen die Männer keine Kopfbedeckung tragen, sondern nur die Frauen?«

»Die Frauen sollen nicht auffällig sein und bei den Männern keine Begierde wecken«, antwortete ich ganz automatisch im Sinne der traditionalistischen Diktion. Auch ich dachte damals nicht über das nach, was ich da sagte.

Eine 17-jährige Schülerin, die bei einer Sekte aufwuchs, meinte: »Bei den Männern interessieren mich auch als Erstes die Haare. Wenn wir Ihre letzte Aussage akzeptieren sollen, dann sollten auch die Männer nicht auffällig sein und ihre Haare bedecken.«

Diese Aussage traf mich wie ein Hammer auf den Kopf. So hatte ich niemals gedacht oder hinterfragt. Denn ich war in diese Religion gleichsam hineingeboren und praktizierte alles so, wie ich es bei den Vorahnen gesehen und gehört hatte, wie auch die meisten anderen das taten.

Die Schülerinnen ließen nicht locker. Im Unterricht der nächsten Woche legten sie mir zwei abgeschnittene Haarsträhnen vor und sagten: »Frau Professor, können Sie uns den Unterschied zwischen diesen beiden Haarsträhnen zeigen?«

»Was für ein Unterschied soll da sein?«, fragte ich. »Beides sind Haare.«

»Eben, das meinen wir auch, Frau Professor. Wenn es keinen Unterschied gibt, warum müssen die Frauen Kopftuch tragen und die Männer nicht?«

Ich war richtig überfordert.

Umso mehr sehnte ich mich nach der Universität und der Wissenschaft. So hob ich 2012 meine Beurlaubung an der Universität auf und schrieb meine Diplomarbeit in Turkologie. Ich hatte inzwischen drei Kinder, musste arbeiten und mich um den Haushalt kümmern. Ich konnte nur in den Nächten schreiben. Das tat ich jede Nacht unermüdlich bis zum frühen Morgen.

Als ich im April 2013 fertig war und von der Diplomprüfung nach Hause kam, fühlte ich eine innere Leere. Lesen, Schreiben und Forschen waren untrennbar mit meinem Leben verbunden. Zwei Monate später inskribierte ich mich für das Doktoratsstudium der Turkologie auf der Uni Wien.

Ich hatte mir immer zwei Kinder gewünscht, aber Gott gab mir zweimal zwei. Ich wurde zum vierten Mal schwanger und musste mein Studium ein weiteres Mal unterbrechen.

MEIN EINTRITT IN EINE RELIGIÖSE SEKTE

Mittlerweile war ich seit mehr als drei Jahren Religionslehrerin. Dennoch stieß ich in der Schule immer noch laufend an meine Grenzen. Vor allem in der AHS spürte ich, dass die Jugendlichen mit meinen traditionellen Antworten nichts anfangen konnten. Die junge Generation war mir weit voraus. Also musste ich noch mehr über den Islam in Erfahrung bringen. Ich hatte bereits sehr viel über den Islam gelesen und dachte, jetzt könne mir nur noch eines helfen. Ich wollte mich einer Sekte anschließen. Im Islam gibt es keine Organisation, die mit der katholischen Kirche vergleichbar wäre. Es gibt eine größere Vielfalt an Sekten, eher vergleichbar mit den vielen verschiedenen protestantischen und evangelikalen Religionsgemeinschaften in den USA. Einige Sekten konzentrieren sich auf die Spiritualität, wie es eigentlich sein sollte, andere mischen sich in die Politik ein.

Wegen dem Fokus auf spirituelle Fragen suchte ich mir die größte Sekte in der Türkei aus. In den Medien trat meistens Cübbeli Ahmet als Vertreter dieser Sekte auf. Damals fand ich ihn sehr sympathisch und hörte ihm gerne zu. Wenn man keine Ahnung vom Koran hat, glaubt man alles, was man hört.

Mich dieser Sekte anzuschließen war allerdings nicht ganz einfach. Ich musste istihare machen. Das heißt, vor dem Schlafengehen ein Gebet verrichten und in einem Traum Allah fragen, ob es gut oder schlecht ist. Wenn man weiß oder grün träumt, ist es gut, wenn man schwarz oder rot träumt, ist es schlecht.

Also befragte ich Allah im Traum und erzählte den Sektenangehörigen von dem Traum. Obwohl ich mich in meinem Traum in der Finsternis in einem Basar befand, stuften sie ihn als gut ein. Vielleicht haben dabei auch Freunde in der Türkei mitgewirkt, die auch unbedingt wollten, dass ich mich der Sekte anschließe. Aber das reichte nicht aus. Ich musste auf einen sogenannten »Gegentraum« warten. Binnen 48 Stunden musste auch in der Zentrale in Istanbul jemand mit seinem Traum bestätigen, dass ich die Richtige für eine Aufnahme wäre. Nach den 48 Stunden musste ich bei der Zentrale anrufen. Dort sollte ich die Traum-Nummer nennen, die sie mir gegeben hatten und fragen, ob ich aufgenommen werde.

Ich war so aufgeregt, ich konnte es kaum erwarten, dass diese 48 Stunden vergingen. Endlich war die Zeit um. Am Dienstag in der Früh um sieben Uhr fing ich an, anzurufen. Ich weiß nicht, wie viele Dutzend Male ich es probierte. Erst um 9.30 Uhr hob jemand ab. Als ich die Zustimmung bekam, sprang ich in die Luft vor Freude. Dann musste ich bis Sonntag warten, bis der europäische Vertreter nach Wien kam. Das war eine meiner aufregendsten Wochen. Einerseits war ich froh, erleichtert und dankbar, dass die Sekte mich akzeptierte, andererseits war ich sehr ungeduldig. Der Tag kam. Freudig fuhr ich hin.

Es waren ungefähr fünfzig Frauen versammelt in der Dergah, das ist der heilige Ort der Sekte. Der Vertreter des Scheichs, des religiösen Führers der Sekte, saß in einem anderen Zimmer. Es gab stufenweise Strukturen, die höheren Stufen durften bei den Anfängern mithören, aber umgekehrt war das nicht möglich. Der Vertreter des Scheichs hatte die Augen geschlossen, damit er die Frauen nicht sah. Er erzählte, was wir zu tun hätten und welche Vorgehensweisen wir befolgen sollten.

Während er erzählte, fühlte ich mich beengt und beklemmt. Als er sagte, wir sollten die Burka anziehen und auf die Geschlechtertrennung achten, konnte ich nicht schweigen. »Bei allem Respekt, Hodscha, ich glaube nicht, dass die Burka notwendig ist. Steht das überhaupt im Koran?«, fragte ich ihn.

»Die Burka liebt dein Gott, dein Prophet und dein Scheich!«, antwortete er empört.

»Hodscha, ich kann auf die Geschlechtertrennung nicht achten, weil ich arbeite«, sagte ich.

»Allah möge dich retten!«, empörte er sich noch mehr.

»Sie wissen ja gar nicht, welchen Beruf ich ausübe?«, hielt ich ihm entgegen.

»Es ist egal, welchen Beruf du ausübst, du darfst nicht arbeiten!«, entgegnete er.

 

»Ich bin aber Religionslehrerin und erkläre den ganzen Tag meine Religion.«

»Es ist nicht deine Aufgabe, Religion zu erklären!«, erwiderte er. Er erkannte, dass ich mit meinen Fragen nicht aufhören würde und hatte wohl Angst bekommen, dass auch andere auf solche Ideen kommen könnten. »Wir können später mit dir reden«, sagte er. »Jetzt möchte ich euch euer Zertifikat austeilen. Nehmt es mit der rechten Hand. Heute ist euer zweiter Geburtstag. Mit dem heutigen Datum wurden dank der Gnade unseres Scheichs alle eure vergangenen Sünden erlassen. Vergesst nicht, ihr könnt euch Allah nicht in einer Gestalt vorstellen, aber Allahs heiliges Licht ist zwischen den zwei Augenbrauen unseres Scheichs. Ihr müsst beim Gebet an ihn denken und von diesem Antlitz zehren.«

Als ich diese letzten Sätze hörte, stockte mir der Atem. Das war doch Schirk, Beigesellung, die einzige Sünde, die Allah niemals vergeben würde. Sofort verließ ich den Raum und fuhr nach Hause. Im Auto versuchte ich mich zu beruhigen. Im Gebet an den Scheich zu denken … wie konnte diese Sekte nur so etwas vertreten? Damit stellte sich der Scheich als Mittler zwischen die Menschen und Gott.

Die Sure 4:48 war diesbezüglich eindeutig: »Allah vergibt gewiss nicht, dass man Ihm (etwas) beigesellt. Doch was außer diesem ist, vergibt Er, wem Er will. Wer Allah (etwas) beigesellt, der hat fürwahr eine gewaltige Sünde ersonnen.« Ähnliches kam auch in der gleichen Sure im 116. Vers vor. Sonst gab es im Koran keine einzige Stelle, die besagte, Allah würde etwas nicht vergeben. Der Prophet Muhammed hatte in den 23 Jahren von der ersten bis zur letzten Offenbarung die Tauhid-Lehre gepredigt, den Glauben an den einzigen Gott.

Wenn man beim Gebet an jemand anderen denkt, dann ist dieses Gebet nicht für Allah, sondern für denjenigen, an den man denkt.

Als ich zu Hause war, dankte ich Allah, dass er mich bis dahin davor bewahrt hatte, auf einen Irrweg zu geraten. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass alles, was ich beim Besuch der Sekte erfahren hatte, wahr sein konnte. Was der Vertreter des Scheichs mit den neuen Mitgliedern gemacht hatte, war letztendlich eine Beichte, etwas, das im Islam absolut nicht vorgesehen war.

Meinen Traum konnte ich erst dann richtig deuten. Ich hatte geträumt, dass ich in einem finsteren Basar mit ein paar Begleitern einkaufte. Alle meine Einkäufe wurden wie ein Schneeball am Boden aufgerollt. Zum Schluss waren sie zu drei glänzenden Stahlbällen geworden. Jemand sagte, dies wären meine Taten. Wenn ich das als Zeichen deuten sollte, dann wollte Allah mir wohl mitteilen, ich hätte doch einen festen Glauben und könnte glänzende Taten vorweisen. Warum suchte ich Ihn also auf finsteren Wegen?

Es dauerte einige Monate, bis ich dieses Sekten-Erlebnis verarbeitet hatte. In dieser Zeit begann eine neue Ära in meinem Leben.

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