Nur vor Allah werfe ich mich nieder

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

MEINE ENTSCHEIDUNG FÜR DAS KOPFTUCH

Wenn ein Mädchen zwölf oder 13 wurde, deutete seine Umgebung schon an, es sollte allmählich ein Kopftuch tragen. Je älter das Mädchen wurde, desto mehr erhöhte sich der gesellschaftliche Druck. Meinem Vater war das nicht so wichtig, aber meine Mutter hielt dem Druck nicht stand. Ich stellte mich bei diesem Thema immer taub. »Warum trägst du kein Kopftuch?«, fragte meine Mutter schon, als ich 15 Jahre alt war.

»Nur, weil ihr das so wollt, werde ich sicher kein Kopftuch tragen. Wenn ich eines Tages Kopftuch trage, dann mache ich das allein für Allah und nicht für euch«, sagte ich.

Ende 1993, kurz bevor ich 18 Jahre alt wurde und als alle bereits die Hoffnung aufgegeben hatten, stand ich in der Früh auf und setzte ein Kopftuch auf. Alle waren erstaunt, darunter auch meine Mutter. Ich war glücklich, weil das meine freie Entscheidung war.

Aber wie frei war diese Entscheidung wirklich?

Die Traditionalisten propagierten stets: »Wenn eine Frau auch nur eine Strähne ihres Haares zeigt, wird sie siebzig Jahre in der Hölle brennen. Wenn man drei Haarsträhnen sieht, dann ist das, als wäre die Frau fremdgegangen.«

Nicht nur das. Es gab auch Sprichwörter wie etwa: »Eine nicht-kopftuchtragende Frau ist wie eine Wohnung ohne Vorhänge. Da kommen Mieter und Käufer vorbei in der Annahme, sie sei frei.«

Wenn eine Frau kein Kopftuch trug, bekam sie in der muslimischen Gesellschaft keine Anerkennung. Frauen ohne Kopftuch galten als schlechte Musliminnen. Die Fundamentalisten stuften sie gar nicht als Musliminnen ein. Unter diesen Bedingungen entschied ich »frei«, Kopftuch zu tragen.

TRADITIONELLE EHE

Als ich 15 Jahre alt war, fingen die Heiratsanträge an. Die Männer machten sie natürlich nicht mir, sondern traditionell organisierten die Eltern das untereinander. »Sie ist noch zu jung«, sagte mein Vater den Anwärtern jedes Mal. »Erst muss sie die Berufsschule fertig machen.«

Ich freute mich, aber mein Vater hielt dem Ansturm nur ein Jahr lang stand. Im Urlaub in der Türkei setzte ihn die gesamte Verwandtschaft unter Druck. Es kamen sowohl von väterlicher Seite als auch von mütterlicher Seite Anträge. Das Ganze drohte in eine Familienfehde auszuarten. In der letzten Woche wurde es ernst. Ich weinte eine Woche lang und sagte, ich wolle nicht heiraten. Meine Mutter hielt dagegen: »Wenn diese Rivalität noch mehr hochkocht, dann wird es zu einer Familienauflösung kommen.«

Zwei Tage vor dem Ende unseres Urlaubs fragte mich mein Vater, ob ich den Großneffen meiner Großmutter heiraten wolle.

Ich schwieg, und das bedeutete Zustimmung.

Am nächsten Tag besuchte uns die Familie mit dem Bräutigam. Sie schlugen vor, er und ich sollten uns kennenlernen. Also setzten wir uns zusammen in einen Raum. »Willst du mich heiraten?«, fragte er. Ich schwieg wieder.

Anschließend fand eine kleine Verlobungsfeier statt. Ich war 16 Jahre alt. Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Zug zurück nach Österreich. Während der ganzen Reise weinte ich. Ich hatte mich für meine Familie und vor allem für meine Mutter geopfert.

Mein Vater hatte eigentlich nur unter der Bedingung zugesagt, sie sollten warten, bis ich mit der Schule fertig war. Ich hatte noch zwei Jahre. Als wir aber im darauffolgenden Jahr wieder in der Türkei auf Urlaub waren, machten wieder alle Druck, die Hochzeit solle schon stattfinden.

Mein Vater konnte sich wieder nicht durchsetzen. Eine Woche vor der Rückkehr nach Österreich fand die Hochzeit statt. Weil ich laut Geburtsurkunde ein Jahr älter war, durfte ich mit 17 heiraten. Er war sechs Jahre älter als ich.

Ich wog damals gerade einmal 46 Kilo, bekam ein Hochzeitskleid, das drei Nummern zu groß für mich war, und die »guten« Ratschläge der älteren Frauen des Dorfes.

»Du gehst jetzt mit diesem weißen Hochzeitskleid hinein und kommst nur mit einem weißen Leichentuch wieder heraus«, sagte eine. »Dein Mann und seine Familie sind jetzt deine neue Familie, vergiss auf uns und konzentriere dich auf die neue Familie«, meinte eine andere. »Gittiğin yer kör ise, bir gözünü kırpta bak« war ein bekanntes türkisches Sprichwort und bedeutete: »Wenn sie blind sind, dann musst auch du ein Auge schließen.« Das hieß, ich musste mich anpassen. Es gab auch dringliche Ermahnungen wie »Mach uns keine Schande!« und »Vergiss nicht, wenn du dich nicht benehmen kannst, nicht gut kochen und putzen kannst, wird man in erster Linie nicht dich beschimpfen, sondern deine Mutter und deine Familie.« Ich hörte Gebote wie »Eine Frau muss dem Mann gehorchen!«, und Philosophisches wie »Eine Frau muss immer geduldig sein und still wie ein See, während der Mann wie ein strömender Fluss ist.«

Vor allem die Frauen gaben diese Verhaltensregeln von Generation zu Generation weiter. Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Frauen wurden und werden auf diese Weise unterdrückt und entmenschlicht. »Gott hat das so vorherbestimmt!«, sagten alle immer wieder. Anders hätten sie die Unterdrückung der Frauen nicht so lange aufrechterhalten können.

Jahrzehntelang fragte ich mich, warum Menschen für ihr Unglück Gott verantwortlich machten. Wie konnte Allah sowohl für das Heiraten als auch für die Scheidung verantwortlich sein? Hatte Allah etwa etwas falsch vorgeschrieben? Wenn alles vorherbestimmt war, welche Rolle hatten wir in dieser Welt? Oder anders gesagt: Wenn Allah alles vorherbestimmt hatte, welchen Sinn ergab dann die Prüfung, der wir uns im Jenseits stellen mussten?

SCHICKSAL?

Erst viel später, mit einem Wissensstand, wie ich ihn heute habe, konnte ich mir diese Fragen rund um unser vorherbestimmtes Schicksal beantworten.

Alles als Schicksal zu betrachten würde bedeuten, selbst keine Verantwortung für das eigene Handeln und die eigenen Entscheidungen zu übernehmen. Mit einer solchen Einstellung gäbe es keine Konsequenzen des eigenen Handelns, weil ohnehin alles vorherbestimmt ist. Eine solche Einstellung zu Schicksal oder Vorhersehung hat keine Begründung im Koran. Im Gegenteil. Wir müssen die Konsequenzen unserer Handlungen verantworten. Alles andere hieße, den Jüngsten Tag, an dem Allah über unsere Taten richtet, zu verleugnen. Allah ist zwar allwissend, Ihm ist nichts verborgen. Dennoch mischt Er sich nicht in unsere Entscheidungen. Denn Er will sehen, wie wir handeln. Dementsprechend hat Allah uns alle Rollen im Koran beschrieben, aber die Rollen nicht verteilt. Er hat zum Beispiel anhand von Teufel und Adam, Pharao und Moses, Prophet Muhammed und Abu Cehl beschrieben, was Er als eine gute und eine schlechte Rolle bewertet, und mit welchen Konsequenzen.

Alles, was wir unmöglich ändern können, ist Schicksal, also vorherbestimmt. Das heißt, ob wir als Frau oder Mann auf die Welt kommen, wo wir zur Welt kommen, wer unsere Eltern sind, welcher Ethnie wir zunächst angehören, alles, was wir beim Start in die Welt mitbekommen, all das ist unser Schicksal.

Alles, was wir selbst in unserem Einflussbereich und mit unserem Willen ändern können, ist definitiv kein Schicksal. Entscheidend wird die Schicksalsfrage an den Grenzen unseres Einflussbereiches. Denn an diesen Grenzen übernehmen wir unsere Verantwortung für diese Welt, nicht nur für uns selbst. Hier finden wir den Sinn des Lebens. Unser Gottesbewusstsein, unser Bewusstsein für das Gute, bestimmt, wie wir in Bezug auf diese Welt handeln. Was können wir möglicherweise doch ändern, wenn wir uns bemühen? Was sollten wir zumindest versuchen und beginnen, damit sich vielleicht irgendwann eine Veränderung ergibt? Wir können entsprechende Entscheidungen treffen oder diese Entscheidungen ändern. Wen wir heiraten oder warum wir uns scheiden lassen, ist jedenfalls kein Schicksal.

So bringt uns das aber leider niemand bei. Allgemein anerkannt sind nur die patriarchalen Regeln, deren Erfüllungsgehilfinnen die Frauen selbst sind. Dazu muss ich erwähnen, dass diese Art, Ehen zu schließen, nur in der Tradition begründet ist. Im Islam braucht es eindeutig die Zustimmung der Frau, damit eine Ehe zustande kommen kann.

DER WEG DER EHEFRAU INS PARADIES

Schon in Jugendjahren hatte ich viel gelesen. Als Jugendliche kritisierte ich die erwachsenen Frauen nicht nur, sondern stellte ihnen auch viele Fragen. Keine der Frauen war in der Lage, meine Fragen zu beantworten. Ich besuchte ein paar Moscheen und stellte dort den Hodschas diese Fragen.

»Hodscha« ist eine respektsbekundende Form, Lehrende an Schulen und Universitäten sowie Gelehrte oder belesene Persönlichkeiten anzusprechen. Als Hodscha anzusprechen sind auch die Imame, die in den Moscheen als Vorbeter, Prediger und Berater in religiösen Angelegenheiten angestellt sind. Es gibt auch weibliche Hodschas, die die Frauen beraten, allerdings keine Gebete leiten. In der Türkei gilt das als höchst respektlos, Angehörige dieser Gruppen nicht als Hodscha anzusprechen.

Die Hodschas in den Moscheen konnten mir keine Antworten geben. Sie gaben nicht zu, dass sie ahnungslos waren, sondern sagten stattdessen, dass man nicht so viele Fragen stellen sollte. Das reichte mir als Antwort nicht. Deshalb distanzierte ich mich von den Moscheen. Ich ging nicht mehr hin und vertiefte mich stattdessen noch mehr in die Bücher. Ich wollte mehr wissen und verstehen und nicht selbst so wie die Frauen werden, die ich ständig kritisierte.

Nun hatte mich dasselbe Schicksal ereilt. Damals nahm ich meine Ehe tatsächlich als mein Schicksal hin. Ein Schicksal, das mich bedrückte. Ich fühlte die ganze Last der Welt auf meinen Schultern.

Zwölf Jahre lang war ich verheiratet. In diesen zwölf Jahren entwickelten sich mein Mann und ich diametral auseinander. Oder besser gesagt, ich entwickelte mich, er sich aber kaum. Als ich ihn nach Abschluss meiner Lehre nach Österreich holte, war ich berufstätig und er noch nicht. Weil es seine männliche Ehre verletzt hätte, von seiner Frau Geld zu nehmen, ließ ich ihm gleich eine zweite Bankkarte machen. Das tat ich aus freien Stücken, weil ich das so gelernt hatte. Irgendwann hatte er beide Karten und ich musste das Geld von ihm erbitten.

 

Als ich kurz vor meinem zwanzigsten Geburtstag mein erstes Kind zur Welt brachte und nur mehr zu Hause war, dachte ich, mein Leben sei zu Ende. Ja, ich fügte mich langsam in das Schicksal all der Frauen ein, die ich immer kritisiert hatte. Denn er erlaubte mir nichts. Ich musste ihn um jede Kleinigkeit bitten, fast immer erfolglos.

Wie konnte ich trotz meiner Einstellungen zum Leben, zum Islam und zu den gelebten Unterschieden zwischen den Geschlechtern in diese Lage geraten? Das hatte ich den Büchern zu verdanken, die ich seit meinem 14. Lebensjahr las. Im »Ilmihal«, dem islamischen Katechismus, also einem Handbuch zur Unterweisung in Grundfragen des Glaubens, und in anderen Büchern über den Islam stand, eine Frau könne nur dann ins Paradies kommen, wenn der Ehemann mit ihr zufrieden war.

In den Hadith-Büchern, in denen die Hadithe, die Worte und Taten des Propheten Muhammed, gesammelt sind, hieß es: Wenn eine Frau ohne Erlaubnis ihres Mannes irgendwo hingeht, dann verfluchen alle Engel sie für jeden ihrer Schritte.

In vier anderen Hadith-Büchern zitierten die Autoren den Propheten mit folgenden Worten: »Wenn ich die Unterwerfung verordnet hätte, hätte ich die Unterwerfung der Frauen gegenüber ihren Männern verordnet.«

Das waren nur ein paar Beispiele. Diese Hadithe galten in der Islamwissenschaft als schwache Hadithe, also als nicht authentisch. Die Fundamentalisten jedoch verwendeten oft genau diese Hadithe, um die Frauen unter Kontrolle zu halten.

Ich war immer gläubig und bin es auch heute noch. Aber ich stütze mich heute hauptsächlich auf den Koran. Alle anderen Quellen betrachte ich als Nebenquellen, in denen ich immer wieder nachschlage, um frühere Sichtweisen, Sozialisationen und Traditionen zu verstehen.

Hadithe akzeptiere ich, solange sie nicht im Widerspruch zum Koran stehen. Denn anhand der Beispiele oben wird ersichtlich, wer diese Bücher geschrieben hat. Männer, die das seit Jahrtausenden fortwährende Patriarchat aufrechterhalten wollen. Dementsprechend sehe ich manche Hadithe als Unterstellungen, die Allah, seinen Propheten und den Koran verleumden.

Wie kann ein Prophet völlig Widersprüchliches zum Koran gesprochen haben, wenn im Koran in der Sure 35:18 Folgendes steht: »Keine lasttragende (Seele) nimmt die Last einer anderen auf sich. Und wenn eine Schwerbeladene (zum Mittragen) ihrer Last aufruft, wird nichts davon (für sie) getragen, (…)« Es gibt mehrere ähnliche Verse im Koran. Das heißt, im Islam herrscht völlige Eigenverantwortung. Das Seelenheil einer Person ist nie von einer anderen Person abhängig, sondern nur von Gott allein. Ob eine Frau ins Paradies kommt oder nicht, liegt nicht in den Händen des Ehemanns. Prophet Muhammed wusste das am besten. Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass der Prophet so über Frauen sprach, wie oben zitiert.

DIE KRAFT DES WISSENS

»Wissen zu erwerben ist für Frauen und Männer,

sprich für jedermann, eine Pflicht.«

– Hadith des Propheten Muhammed, Friede sei mit ihm.

Als ich mit meinem ersten Sohn schwanger war und nicht mehr zur Arbeit ging, hatte ich noch mehr Zeit zum Lesen. Ich war 19. In einem Buch las ich den oben zitierten Hadith des Propheten und noch weitere Hadithe wie diesen: »Weisheit ist das verlorene Gut eines Gläubigen. Sie sollen es sich aneignen, wo immer sie es finden.«

Noch berührender für mich war folgender Hadith: »Allah erteilt den Reichtum, wem er will, das Wissen erteilt er aber jedem, der sich das wünscht.«

Ab diesem Moment war mir klar, dass Wissenserwerb auch für mich eine Pflicht war. Ich schloss die Augen und dachte stundenlang darüber nach. Dann sprach ich aus vollem Herzen mein größtes Bittgebet aus: »Mein Allah, ich wünsche mir nur eines: den Zugang zu Wissen und Wissenschaft.«

Ich konnte mich nicht damit zufriedengeben, nur mein Kind großzuziehen und den Haushalt zu führen. Aber ich hielt es für unmöglich, dass mein Mann meinen wissenschaftlichen Ambitionen je zustimmen würde. Ich hingegen drängte ihn ständig dazu, Deutsch zu lernen und sein Studium, das er in der Türkei begonnen hatte, hier abzuschließen. Ich dachte, er würde dann vielleicht weniger mürrisch sein. Doch er wollte von alldem nichts wissen.

Eines Tages tat ich dann doch den Schritt. Noch in dem Moment, in dem ich es laut aussprach, war ich schon ohne Hoffnung. »Wenn du nicht studierst, dann studiere ich«, sagte ich zu ihm.

Bis heute kann ich nicht glauben, was er darauf antwortete. »Okay, tue es«, sagte er leichthin. Das war alles.

Noch in meiner Babypause trat ich 1996 zu den Studienberechtigungsprüfungen an.

Als die Bekannten und Nachbarn davon erfuhren, rieten mir alle davon ab. »Du bist schon verheiratet und hast ein Kind, was willst du mit dem Studium machen? Konzentriere dich auf deine Familie«, sagten einige.

Andere sahen überhaupt keine Erfolgschancen. Manche meinten, das Geld für die Studienberechtigungskurse auszugeben sei Verschwendung. Wieder hörte ich das Argument, selbst in Österreich geborene Kinder von Türken hätten es nicht geschafft, zu studieren.

Dennoch schaffte ich den ersten Teil der Prüfungen beim ersten Mal und inskribierte mich als außerordentliche Studentin für Turkologie. Ich war die glücklichste Frau der Welt und zum ersten Mal froh, in Österreich zu sein. Für mich begann eine neue Ära. Bis dahin hatte ich mich immer nach der Türkei gesehnt. Denn mein Leben, meine Zukunftsperspektive, meine Wünsche und meinen Erfolg hatte ich dort, in meinem Heimatland, zurückgelassen. In Österreich waren wir Menschen aus der untersten Schicht.

Die Österreicherinnen und Österreicher in der Umgebung waren auch nicht gerade aus der Oberschicht. Durch ihre Blicke und ihre Arroganz vermittelten sie uns, dass wir hier nicht willkommen waren. Bis ich mit der Uni anfing, war ich hoffnungslos, traurig und unglücklich gewesen. Ich hatte meinen Eltern nicht verziehen, dass sie mich nach Österreich geholt hatten – bis zu meinem ersten Tag an der Universität, an dem sich alles änderte.

Der historische Campus der Hauptuniversität Wien war prächtig und die Menschen dort so ganz anders als diejenigen, denen ich bisher begegnet war. Ich fühlte mich zum ersten Mal zu Hause. Niemand beachtete mein Kopftuch. Es herrschten Offenheit und Toleranz. Ich schloss schöne Freundschaften mit Menschen aus aller Welt. Zum ersten Mal nach sieben Jahren fühlte ich mich in Österreich als Mensch. Ich war froh und dankbar, mit Kopftuch studieren zu dürfen, noch dazu in einem nicht-muslimischen Land. Das Studieren mit Kopftuch war selbst in einigen islamischen Ländern nicht möglich.

Ein Jahr später, im Jahr 1997, musste ich zurück ins Arbeitsleben, um den weiteren Aufenthalt meines Mannes in Österreich rechtlich abzusichern. Daher arbeitete ich ein paar Monate bei den Supermarktketten Billa und Zielpunkt als stellvertretende Filialleiterin.

Bald darauf wurde ich wieder schwanger. 1998 bekam ich mein zweites Kind. Deswegen musste ich auch mein Studium unterbrechen, was mir sehr leidtat. Allerdings arbeitete ich weiterhin daran, Wissen anzusammeln. In dieser Zeit interessierte mich vor allem der Umgang mit dem Computer. Ich besuchte alle möglichen Kurse. Ich lernte Maschinschreiben, machte den Europäischen Computerführerschein und absolvierte den Systemadministrator-Kurs bis zur EDV-Trainer-Ausbildung. Aber ich sehnte mich nach dem Studium. 2002 konnte ich endlich den zweiten Teil der notwendigen Studienberechtigungsprüfungen ablegen und als ordentliche Studentin Turkologie belegen.

Als ich zur Studienrichtungsvertreterin gewählt wurde, organisierte ich als Erstes ein Picknick für Studierende, Professorinnen und Professoren der Turkologie auf der Donauinsel. Dort waren wir wie eine Familie. Den ganzen Tag unterhielten wir uns, grillten, aßen und spielten Volleyball. Professorin Claudia Römer war besonders beeindruckt. »Ihr seid anders«, sagte sie. »Wir hatten bisher schon muslimische Studentinnen und Studenten, aber sie waren meistens distanziert und abweisend. Ihr seid viel offener, ihr seid fröhlich, spielt Ball und ihr macht weder einen Unterschied zwischen Männern und Frauen noch zwischen Muslimen und Nichtmuslimen.«

Die Haltung, die sie schilderte, war für mich selbstverständlich. Aber in der Form, wie sie über diese Haltung sprach, hörte ich das zum ersten Mal.

Vom Feminismus hörte ich das erste Mal von Gizela Prochazka-Eisl, ebenfalls Professorin für Turkologie. Ich schätzte sie als starke Frau. Ich beobachtete sie und hörte ihr gut zu. »Sie haben sich für fünf Seminare angemeldet«, sagte sie eines Tages zu mir. »In einem Semester sind ein bis zwei Seminare zu schaffen. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie schnell fertig, aber verrückt dabei.«

Sie wusste nicht, dass für mich genau das Gegenteil galt. Die Uni war meine Rettung, mein Zufluchtsort. Ohne das Studium hätte ich alle anderen Probleme nicht ertragen und verkraften können.

Auf der Uni organisierte ich auch große Veranstaltungen mit Musik, Volkstanzgruppen und großem Buffet, die ich gemeinsam mit der zweiten Studienrichtungsvertreterin moderierte. Die historischen Gedichte, die wir auf der Turkologie lernten, trugen wir auf Türkisch und Deutsch vor und gingen auf die Geschichte der Texte ein. Danach spielte die Musikgruppe diese Gedichte. Diese Veranstaltungen waren neben den Studenten und Professoren der Orientalistik auch für andere Studenten zugänglich, weil wir durch Plakate auf der Hauptuniversität darauf aufmerksam machten.

INDOKTRINIERUNGSVERSUCH: DIE GÜLENISTEN

Meine Organisationstätigkeit am Institut für Turkologie machte die Gülenisten auf mich aufmerksam. Sie suchten immer die Leute aus, die entweder reich oder intelligent waren. Reich war ich nicht.

Gülenisten sind Anhänger der Gülen-Bewegung, gegründet von Fethullah Gülen. Er spaltete diese Organisation von der Sekte Nurcular ab, deren religiöser Führer Said Nursi im 20. Jahrhundert in der Türkei wirkte. Beide Gruppen sind also nach deren Führer benannt.

Durch gemeinsame Freundinnen baten sie mehrmals darum, einen Hausbesuch bei mir machen zu dürfen. Letztendlich stimmte ich zu und dachte, es würde ein einmaliger Besuch sein. Da irrte ich mich. Sie ließen nicht locker. Vor allem die Vorsitzende der Gülen-Jugendgruppe besuchte mich fast drei Jahre lang gelegentlich.

Sie erzählte mir öfters von ihren Treffen mit Fethullah Gülen in den USA, wie weise er sei, und dass sie auf all ihre Fragen überzeugende Antworten bekäme. Sie brachte mir Literatur und lud mich zu Jugendtreffen in die Privatwohnungen anderer Studentinnen ein.

Es war und ist mein Prinzip, dass ich ohne Vorurteile Menschen, Gruppen oder Organisationen selbst direkt kennenlerne, nicht durch Dritte. Deswegen ging ich zu zwei oder drei Treffen.

Die Gülenisten waren weltweit sehr gut organisiert, sahen anständig und fromm aus, sie hatten Bildungseinrichtungen und Büchereien. Das war von außen gesehen bewunderns- und schätzenswert.

Bei den Jugend- und Frauentreffen fiel mir negativ auf, dass sie sich nicht auf den Koran, sondern auf die Bücher von Said Nursi oder Fethullah Gülen beriefen. Diese Bücher kannten manche auswendig. Dem Koran schenkten sie keine gleichermaßen intensive Aufmerksamkeit. Daher war ich ohnehin schon eher negativ gegenüber den Gülenisten eingestellt.

Trotzdem hätte ich nicht erwartet, was dann kam. Die Leiterin der Jugendgruppe erzählte, ihre Bewegung lege sehr viel Wert auf Bildung und hätte in der Türkei den Bildungsbereich unter Kontrolle. »Jetzt ist das Militär an der Reihe«, sagte sie. Das machte mich stutzig. Bis dahin hatte ich die Gülenisten als eine gut organisierte religiöse Organisation betrachtet. Wieso sollte eine religiöse Organisation sich im Militär engagieren? »Was heißt das?«, fragte ich nach. »Was möchtet ihr im Militär machen?«

»Das Militär ist zu stark«, antwortete sie. »Ohne das Militär können wir keinen neuen islamischen Staat errichten. Deswegen hat Fethullah Gülen befohlen, dass unsere Leute sich im Militär engagieren. Um nicht aufzufallen, sollen sie nicht beten. Wenn es notwendig ist, sollen sie Alkohol trinken und die Frauen sollen die Kopftücher ablegen, bis wir einen islamischen Staat gegründet haben.«

 

Das fand ich in höchstem Maße bedenklich. Nach meiner Auffassung des Koran ist die Demokratie das beste Modell der Organisation von Gesellschaft und Führung. Die Sure 39 besagt in den Versen 17 und 18: »So verkünde die frohe Botschaft Meinen Dienern, die (aufmerksam) auf alles hören, was gesagt wird und dem besten davon folgen.« Diese Zeilen besagen, die Menschen sollen die Vielfalt der Meinungen beachten, um der besten zu folgen. Dieses Prinzip ist derzeit nur in den Demokratien verwirklicht.

Deswegen sollten sich meiner Meinung nach die religiösen Organisationen aus den staatlichen oder politischen Angelegenheiten heraushalten. Umgekehrt sollte der Staat sich nicht in das Privatleben und den Glauben der Menschen einmischen. Ein Staat sollte keine Religion haben. Die Religion ist für die Menschen. Der Staat sollte nur der Gerechtigkeit verpflichtet sein. Wenn der Staat eine Religion annimmt, wird er totalitär. Er nimmt sich damit die Möglichkeit, die Vielfalt der Meinungen zu beachten und der besten zu folgen, um alle Menschen gleich und gerecht zu behandeln.

Nun wollte ich wissen, warum der Gründer der Bewegung Fethullah Gülen in den USA lebte.

Immerhin war die Jugendgruppenleiterin bereit, alle meine Fragen offen zu beantworten, um mich zu überzeugen. »Bevor er in die Türkei zurückkehren kann«, erklärte sie, »müssen wir die Justiz unter Kontrolle haben, sonst wird er von Richtern der ungläubigen Türkei verurteilt und dann im Gefängnis ermordet.«

Mein Entsetzen wurde noch größer, aber ich fragte weiter, was das Ziel der Bewegung sei.

»Der türkische Staat ist laizistisch, also kafir (ungläubig)«, sagte sie. »Die Muslime leiden darunter. Deswegen müssen wir einen islamischen Staat gründen.«

Diese Aussagen enthüllten mir das eigentliche Ziel der Gülenisten. Ich sah, dass es ihnen nicht wirklich um die Religion, sondern um die politische Macht ging. Das passte auch damit zusammen, dass sie den Aussagen von Gülen offensichtlich mehr Beachtung schenkten als Allahs Aussagen im Koran. Sie wollten den laizistischen Staat auflösen und einen islamischen Staat gründen. Gülen, den sie als Messias sahen, wollten sie dann als Staatsoberhaupt in die Türkei zurückholen. Sie lehnten die Republik ab. Damit reihten sie sich ein in die Reihe der fundamentalistischen Sekten und der religiös-konservativen Gruppen in der Türkei, die Atatürk hassten, weil er einen laizistischen, demokratischen und säkularen Staat gegründet hatte.

Dementsprechend war ich enttäuscht und wütend. »Ich will mit euch absolut nichts zu tun haben!«, sagte ich zu der Jugendgruppenleiterin und brach den Kontakt zu ihr ab.

Viel später erfuhr ich, dass Gülen, den sie als großen Gelehrten proklamierten, nur einen Volksschulabschluss hatte.

Die Gülenisten engagierten sich nicht nur in Bildung, Justiz und Militär, sondern auch in der Regierung mit der türkischen Partei AKP. Bis 2013, so heißt es, waren sie Verbündete, dann trennten sich ihre Wege im Streben um die Macht. Am 16. Juli 2016 kam es zu einem Putschversuch in der Türkei, ausgeführt von gülenistischen Teilen des Militärs, die das Parlament, das Urlaubsdomizil von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und andere wichtige Ziele bombardierten. Rund 290 Menschen starben und mehrere Tausend wurden verletzt.

Der Coup misslang, was wiederum der AKP die Möglichkeit gab, die Gülenisten systematisch zu verfolgen und aus den Positionen in Bildung, Justiz und Militär zu vertreiben. Dabei landeten auch viele wahrscheinlich unschuldige Menschen im Gefängnis.

Da die Gülenisten als eine der weltweit größten politisch-islamischen Organisationen viele Jahrzehnte lang eine Strategie der Unterwanderung betrieben hatten und stets darauf achteten, nicht als Gülenisten erkannt zu werden, ist anzunehmen, dass ihr politischer Arm in der Türkei trotz dieses Rückschlags immer noch aktiv ist, vor allem in den politischen Parteien, auch in der AKP, sowie in mehreren Sekten.