Die NATO

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3.1.1 Neorealismus

Der NeorealisRealismus (Neo-)mus ist eine Strukturtheorie1 internationaler Politik und zielt daher zunächst nicht auf die spezifische Erklärung konkreter außenpolitischer Entscheidungen, sondern auf das Verstehen von Gesamtdynamiken im System internationaler Politik, denen Staaten in ihrem Handeln unterworfen sind (Waltz 1996; Feng und Ruizhuang 2006, 117ff.).2 Begründet wurde die Theorieschule 1979 durch Kenneth Waltz mit seiner Theory of International Politics (Waltz 1979). Hauptvertreter sind heute der Chicagoer Professor John Mearsheimer und sein Harvard-Kollege Stephen M. Walt, der auch maßgeblich zur Theorisierung von Allianzen beigetragen hat (s. u.). In Deutschland gilt Carlo Masala, der in einem Dialog mit Waltz stand (Masala 2014), als bekanntester Verfechter des neorealistischen Erklärungsansatzes.

NeorealisRealismus (Neo-)t*innen sind MaterialisMaterialismust*innen und RationaliRationalismusst*innen. D.h., dass sie ausschließlich beobachtbare materielleMaterialismus KapazitätenKapazitäten (militärische) – das relative Verhältnis ökonomischer und militärischer FähigkeitenKapazitäten (militärische) von Staaten – als Erklärungsvariablen für internationale Politik anerkennen. Zum einen wollte Waltz mit seiner Theorie maßgeblich zu einer Verwissenschaftlichung der realistischen Schule beitragen, während es im Klassischen RealismusRealismus, Klassischer rein induktive Annahmen, z. B. zum schlechten Charakter der menschlichen Natur, gibt (Feng und Ruizhuang 2006, 6; Morgenthau 1948, Kap. 1). Daher wollte Waltz Aussagen lediglich auf Basis theoretisch fundierter Annahmen und beobachtbarer Tatsachen treffen (Waltz 1979, Kap. 1, 2; Masala 2017, 151f.). Zum anderen liegt dem NeorealisRealismus (Neo-)mus die Annahme zugrunde, dass sich Staaten als zentrale (und nach orthodoxer Meinung einzige) Akteure internationaler Politik in ihrem Handeln und ihrer Existenz in einer unabänderlichen Unsicherheitssituation begegnen. Diese Unsicherheitsbedingung internationaler Politik erwächst aus dem Fehlen einer dem Nationalstaat übergeordneten Autorität, die das Einhalten von Regelungen und Vereinbarungen verbindlich durchsetzen könnte. Daher ist das Beziehungsgeflecht dieser Staatseinheiten grundsätzlich anarchischAnarchie, anarchisch (Waltz 1979, 66ff.). Staaten sind in ihrem Handeln somit zuerst System getrieben, ohne in ihrem Handeln vom System determiniert zu sein. Das heißt, dass sie primär auf Anreize des Systems (AnarchieAnarchie, anarchisch und MachtMachtverteilung) reagieren und nicht etwa auf innenpolitische Gemengelagen oder außenpolitische Präfenzen von Parteien. Akteure können sich nach realistischer Überzeugung nie den Intentionen eines Gegners (oder zeitweiligen Partners) sicher sein. Selbst in kooperativen Interaktionen besteht die Gefahr des Hintergehens, was in existenziellen Situationen wie der Frage von FriedenFrieden oder Krieg verheerend sein könnte. Gegen diese Gefahren können sich Staaten nach realistischer Auffassung nur schützen, indem sie sich in einer auf ihren Gegner bezogenen ökonomischen und militärischen MachtMachtüberlegenheit befinden, um sich im Falle des Betrugs oder Angriffs selbst helfen (self-help mentality) zu können (Mearsheimer 1994, 9ff.; 2001, 17ff.; Masala 2017, 151). Das Handeln des Gegners muss rational erfasst werden, um das eigene Überleben zu sichern (ibid.). Durch den anarchischAnarchie, anarchischen Charakter des Systems sind Staaten somit dazu angehalten, stets machtbasiert und auf Unsicherheit reagierend zu handeln, um ihr Überleben zu sichern und ihre Interessen realisieren zu können.

Der Interessenbegriff ist im NeorealisRealismus (Neo-)mus uneinheitlich besetzt. Durch den Fokus auf AnarchieAnarchie, anarchisch und Unsicherheit besteht eine Tendenz, Staatsinteressen zu versicherheitlichen. Das heißt, dass das erste Interesse des Staates zunächst das Sichern seines Überlebens sein muss und erst danach sekundäre Ziele wie wirtschaftliche Interessen stehen sollten. Umgekehrt werden wirtschaftliche Interessen, z. B. im Rohstoffbereich, schnell unter dem Aspekt der Sicherheit gesehen, weil wirtschaftliche eine Vorbedingung für militärische Stärke darstellt. Somit sind Interaktionen zwischen Staaten stets auf relative Vorteile bezogen (Mearsheimer 1994, 20; Masala 2017, 143).3 Der NeorealisRealismus (Neo-)mus ist sich aber nicht vollends einig, welche generellen Handlungsimperative hieraus für Staaten erwachsen. Es wird daher zwischen defensivem Realismusdefensiver RealismusRealismus (Neo-) und offensivoffensiver RealismusRealismus (Neo-)em Realismus unterschieden. Joseph M. Grieco (1990) und Stephen Walt gelten als Verfechter des defensive structural realism, und Kenneth Waltz’ struktureller Realismusstruktureller RealismusRealismus (Neo-) wird ebenfalls defensiv charakterisiert (Masala 2017, 159). Defensive Realist*innen unterstreichen die Gefahren von (zu) offener Konfrontation und MachtMachtprojektion, die zu mehr Unsicherheit führen können, da Konfrontationen stets mit einem Unvorhersagbarkeitsmoment einhergehen. Daher ziehen sie ein Status quo-orientiertes Handeln von Staaten vor, bei dem Akteure Gefahren neutralisieren (balance of threatbalance of threat) und relative MachtMacht erhalten, ohne sie notwendigerweise zu maximieren (Walt 1987, 5; Elman 2008, 20ff.). MachtMacht ist dabei nur Mittel zum Zweck. Dem halten Vertreter des offensive structural realism wie Mearsheimer oder Randall Schweller (1994) entgegen, dass es im internationalen System revisionistische Staaten gibt, die mehr MachtMacht wollen, um sich selbst in eine bessere Position zu bringen. Gegen solche Akteure, die die ursprüngliche, oben beschriebene Unsicherheit erst erzeugen, helfe nur MachtMachtexpansionismus (Schweller 1994; Masala 2017, 159). Für sie balancieren Staaten nicht Gefahren, sondern MachtMacht (balance of powerbalance of power), weil hohe relative MachtMacht das Aufkommen von Gefahren im Keim erstickt. Im offensivRealismus (Neo-)en Realismus ist also die Maximierung von MachtMacht gleichbedeutend mit der Sicherung des Überlebens – MachtMacht ist ein Ziel an sich (ibid., 22ff.; s. auch Mearsheimer 2001, 21; Feng und Ruizhuang 2006, 123f.). Diese Überlegungen verdeutlichen, dass NeorealisRealismus (Neo-)t*innen – vor allem die offensiven – in ihrer Theorie besonders das Verhalten von GroßmächteGroßmacht(konfrontation)n (ChinaChina, Russland, USA) thematisieren, während die Entscheidungen von weniger mächtigen Staaten stets von der Polarität des Systems (unipolarunipolarPolarität, bipolarPolarität oder multipolar) und somit von der Anzahl der GroßmächteGroßmacht(konfrontation) bestimmt werden.4 In offensiv-realistischer Lesart ist es deshalb die beste Versicherung des Überlebens, ein regionaler HegemonHegemonie (USA) zu werden, der anderen Staaten in seinem Umfeld ihre Politiken diktieren oder zumindest sicherstellen kann, dass diese aufgrund des MachtMachtgefälles nicht gegen ihn gerichtet sind. Den mit weniger MachtMacht ausgestatteten Staaten bleibt manchmal nur die schlechtere Handlungsstrategie des bandwagoningbandwagoning, sich einem größeren Staat zur Herstellung der eigenen Sicherheit anzuschließen, was sie aber mit Freiheitseinbußen bezahlen. Daher ist bandwagoningbandwagoning niemals die bevorzugte Strategie, sondern stets die Fähigkeit zum balancingbalancing (Walt 1987, 17) – entweder von Gefahren (defensiv) oder von MachtMachtansprüchen (offensiv).

3.1.2 Neorealistische Allianztheorie und die NATO

InRealismus (Neo-) ihrer SkepsisAllianztheorie gegenüber der Relevanz von Institutionen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben Realist*innen dennoch die Rolle von Allianzen theorisiert, die Staaten zum Zweck der Abwehr eines Feindes gründen. Stephen M. Walt hat mit seinem 1987er Buch The Origins of Alliances eine umfassende Studie vorgelegt, die das Zustandekommen, Bestehen und die Auflösung von Allianzen in historischer Perspektive betrachtet. Walt definiert Allianzen als formelle oder informelle Sicherheitsarrangements zwischen Staaten, die auf Gegenseitigkeit beruhen und exklusiv gegen andere Akteure gerichtet sind, von denen eine Gefahr für die Mitglieder ausgeht (Walt 1987, 12; 1997; s. auch Wallander und Keohane 1999, 23ff.). Walt führt fünf Erklärungen für das Zustandekommen von Allianzen an:

balancingbalancing: Staaten verbündeten sich gegen eine Gefahrenquelle;

bandwagoningbandwagoning: Ein Staat verbündet sich mit der Gefahrenquelle, um Appeasement zu betreiben oder als Sieger dazustehen;

ideologiIdeologiesche Gemeinsamkeiten: eine Allianz wird auf Basis gemeinsamer Prinzipien gegründet, um die Legitimität des eigenen Handelns zu steigern;

Bereitstellung von Gütern: Allianzgründung erfolgt, weil ein Staat gemeinsame Güter bereitstellt (z. B. militärische FähigkeitenKapazitäten (militärische)), die ein anderer Staat nicht hat. Abhängigkeitsbeziehungen (Dankbarkeit, Gefolgschaft) werden geschaffen oder gute Absichten kommuniziert;

Einflussnahme von außen verändert die öffentliche Meinung (z. B. durch Propaganda) oder politische Positionen von Personen in einem anderen Land (Walt 1987, Kap. 2).

In seinen ursprünglichen Überlegungen sah Walt vor allem die balancingbalancing- und bandwagoningbandwagoning-Logiken als bestimmend für Allianzgründungen an, während er den anderen drei Erklärungen nur eingeschränkte Gültigkeit attestierte. Im Bereich der IdeologiIdeologiee gäbe es sowohl trennende als auch einende Aspekte (z. B. würde die Zusammenarbeit mit oder unter autoritären Staaten eher konfliktiv, die unter liberalLiberalismusen Republiken eher einend verlaufen). Die Bereitstellung von Gütern als Grund, eine Allianz einzugehen, funktioniere nur, wenn der Anbieter des Gutes (z. B. Sicherheit) ein Monopol innehabe (nur er kann Sicherheit für den Käufer garantieren) und der annehmende Staat bedroht sei, der Anbieter jedoch nicht. Und schließlich sah er den Grund der innenpolitischen Beeinflussung von vielen gesellschaftlichen Kontextfaktoren im Zielland abhängig. Insgesamt wies Walt somit den Erklärungen 3-5 nur einen mittelbaren, intervenierenden Einfluss auf Allianzgründungen zu. Niemals sei das ideologiIdeologiesche Argument wichtiger als die Sicherheit eines Staates. Der primäre Grund, in eine Allianz einzutreten, sei daher immer in der Herstellung von Sicherheit und Überleben zu suchen (Walt 1987, 33ff.). Gemein ist den verschiedenen Ansätzen der AllianztheorieAllianztheorie die Betonung des nichtdauerhaften Charakters von Allianzen. Sie sehen auf militärischen Beistand zielende Bündnisse als spezifische Antworten auf konkrete Probleme, die beim Wegfall dieser Probleme erhebliche Kosten, vor allem für den HegemonHegemonie (USA), erzeugen können (buck-passing, s. Mearsheimer 1990, 15f.; Mearsheimer und Walt 2016).

 

Der Wandel internationaler Politik nach dem Ende des Kalten Krieges hat zu Anpassungen der realistischen AllianztheorieAllianztheorie geführt. Mearsheimer hat der NATO im Jahr 1990 den Untergang prophezeit, weil die Bedrohung durch die Sowjetunion nicht mehr bestand und das wiedervereinigteWiedervereinigung (deutsche) Deutschland bald seine neuen MachtMachtmöglichkeiten ausspielen würde (Mearsheimer 1990). Bekanntlich ist weder das eine noch das andere eingetreten: Die NATO feierte im Jahr 2019 ihren 70. Geburtstag und Deutschland setzte seine zurückhaltende ZivilmachtZivilmacht (Deutschland)-Außenpolitik unbeeindruckt von der Verbesserung seiner MachtMachtposition fort (Duffield 1999; Maull 2007). Walt überdachte daraufhin seine Theorie und räumte vier Aspekten größere Bedeutung ein: Erstens müsse man die identitäIdentitättsstiftende Rolle von gleichgerichteter IdeologiIdeologiee zwischen Staaten höher bewerten. Mit dieser Neubewertung bezieht er sich u.a. auf die Forschung zu Sicherheitsgemeinschaften von Karl W. Deutsch (Deutsch et al. 1968 [1957]; Deutsch 1970 [1954]; Adler und Barnett 1998).1 Politische Debatten wie die um ein globales Concert of DemocraciesConcert of Democracies (Alessandri 2008; Balladur 2008) oder eine Global NATOGlobal NATO (Adam 2007; Daalder und Goldgeier 2006; Bunde und Noetzel 2010; Clarke 2009; McCain 2008; Müller 2008, 45f.; Alessandri 2008) spiegeln letztlich die Rolle und Bedeutung von IdeologiIdeologiee für die Allianz wider. Zweitens wirke sich ein hoher InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)ierungsgrad – also das Vorhandensein von Gremien, Bürokratie und Prozessen – auf das Fortbestehen von Bündnissen aus. Drittens könnten mächtige innenpolitische Eliten ein Interesse an der Aufrechterhaltung einer Allianz haben. Viertens könnte eine stark ungleiche Kostenverteilung zu Ungunsten eines wohlwollenden HegemonHegemonie (USA)en (Layne 2006, 17, mit Bezug zu Ikenberry), der daraus Vorteile zieht, ein stabilisierender Faktor sein (Walt 1997, 164ff.; ähnlich McCalla 1996, 456ff.). Die USA nehmen die Rolle des wohlwollenden HegemonHegemonie (USA) seit 1949 ein und haben sie trotz alle Konflikte in der Allianz um die Lastenverteilungburden-sharing aufrechterhalten. Erst unter TrumpTrump, Donald J. ist die NATO in einen manifesten Konflikt hierüber geraten, ohne die Rolle völlig abzulegen (s. Kap. 7.4). Auch Mearsheimer (1994, 13) unterstreicht die Relevanz von HegemonHegemonie (USA)ie für Allianzen, zieht daraus aber im Gegensatz zu Walt den Schluss, dass Allianzen immer auf einer balance of powerbalance of power-Logik beruhten, die in diesem Fall dem stärkeren Partner die Möglichkeit gibt, die Allianz in seinem Sinne zu prägen, wenn er bereit ist, dafür die Kosten zu tragen. Walts 2009er Aufsatz zu Alliances in a Unipolar World (Walt 2009) geht noch stärker auf die Folgen eines extrem übermächtigen HegemonHegemonie (USA)en wie den USA ein – eine Situation, die es so bisher in der Weltpolitik noch nicht gab. Er streicht heraus, dass Allianzen unter unipolarPolaritäten Bedingungen einerseits dem Unipol/ HegemonHegemonie (USA)en selbst quasi unbeschränkte Freiheit in seinen Politiken ermöglichen (s. auch Rösch 2016) und alliierte wie andere Staaten gleichzeitig dieser Übermacht kritischer gegenüberstehen. Gleichzeitig wird Gegenmachtbildung schwieriger. Auch intra-Allianzdynamiken seien kompliziert, weil Mitgliedstaaten weniger Verhandlungsgewicht als zu bipolarPolaritäten Bedingungen haben, in denen der HegemonHegemonie (USA) auf Kooperation angewiesen ist.

Diese Tendenzen und Probleme der NATO sind unserer Tage erkennbar, reichen aber bis zu ihrer Gründung zurück. Die für den BeistandsfallBündnisfall des NordatlantikvertragNordatlantikvertrags (Art. 5Bündnisfall) gefundenen Formulierungen stellen einen Kompromiss zwischen einer von europäischen Staaten gesuchten militärischen Beistandspflicht und einer nordamerikanischen Vorsicht gegenüber Beistandsautomatismen dar (Grosser 1986, 96f.; Ismay 1955, Kap. 2; Raflik 2011, 210). Der BeistandsartikelBündnisfall bewegt sich somit auf einer feinen Linie zwischen impliziter Verpflichtung zur Hilfe und Wahrung nationaler Selbstbestimmung. Er ist daher im Endeffekt ein im Vertrauen gegebenes Versprechen. Es lässt sich aus neorealistischer Sicht somit eine gewisse Vorsicht erkennen, sich zu fest an andere Staaten und ihre Handlungen zu binden, die den eigenen Interessen entgegenlaufen könnten. Die Formulierungen des NordatlantikvertragNordatlantikvertrags schützen die Verbündeten vor militärischen Abenteuern einzelner Mitglieder, indem sie durch die theoretische Möglichkeit der Nichtausrufung des BündnisfallBündnisfalls zur Vorsicht anhalten. Die geografischen Einschränkungen der Vertragsgültigkeit gehen in eine ähnliche Richtung. Praktisch bleibt dadurch vor allem der HegemonHegemonie (USA)ialmacht USA als militärisch eigenständigem Akteur ein größerer Freiheitsraum erhalten. Dieser Raum führt zu Situationen, in denen US-amerikanische Strategien mehr oder weniger unverändert auf die Allianz übertragen werden, z. B. bei Diskussionen um nukleare oder konventionelle Verteidigungsstrategien während des Kalten KriegsKalter Krieg (s. Kap. 3.4). Vor allem Frankreich kritisierte deshalb US-Paternalismus scharf (s. Exkurse). Diese historischen Ereignisse und Debatten legen Zeugnis davon ab, dass die starke Rolle der USA in der Allianz gleichzeitig unabdingbar, notwendig und problematisch war. So beobachtete Kugler im Jahr 1991:

„The United States made many tactical errors in Alliance management and perhaps a few strategic blunders. Often it behaved too unilaterally, without due regard for Allied sensitivities and the need for advance consultation. Sometimes, it sought too much, too quickly. And its larger visions for West European integration and transatlantic relations often were curiously blind to the goals of key allies, especially France. In later years, the United States was able to correct many of these shortcomings by behaving more patiently within NATO and by treating France with greater respect.“ (Kugler 1991, 141).

NATO-Handlungen gingen also häufig von US-Initiativen aus bzw. waren durch die überlegenen US-amerikanischen militärischen FähigkeitenKapazitäten (militärische) geprägt, die der Allianz ihren Stempel aufdrückten (Nötzel und Schreer 2009, 212f.). Die vertraglichen Regelungen und die Allianzpraxis sind also nicht völlig frei von relativen MachtMachtverhältnissen zwischen den Partnern. Aber vor allem während des Kalten KriegsKalter Krieg war die Kehrseite der Medaille stets auch die Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses, die klar im Blick der USA stand und im Interesse der europäischen Alliierten lag (Kugler 1991, 143; Nötzel und Schreer 2009, 212f.). Somit kann die Zusammenarbeit in der Atlantischen Allianz auch als ein Fall gesehen werden, in dem im Feld Sicherheit kompatible, wenngleich nicht immer konfliktfreie Interessen vorliegen (Keohane 1988, 380ff.; 1984, Kap. 6), die gleichzeitig durch MachtMachtbeziehungen beeinflusst werden. Die USA sind durch ihre militärisch wie institutionell herausgehobene Position in der NATO zwar in der Lage, eine Agenda entlang ihren Vorstellungen zu verfolgen, die Akzeptanz dieser Agenda und ihre Umsetzung sind aber von der Kooperation der Alliierten und dem Konsensprinzip abhängig. Dies macht deutlich, dass wahrscheinlich mehr Wirkmechanismen am Entstehen (und dem Ende) von Allianzen beteiligt sind, als Mearsheimer einräumt, und sich somit die revidierte, dem InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus und LiberalisLiberalismusmus annähernde Version der Walt’schen AllianztheorieAllianztheorie als besseres Erklärungsgerüst anbietet (McCalla 1996). Die neorealistische AllianztheorieAllianztheorie hält uns aber zur Vorsicht an, in IdeologiIdeologieen und InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)ierung nicht die einzigen Triebfedern von Militärbündnissen zu sehen.

3.2 Die Anfänge 1949-1955: Allianzbildung und Aufbau einer gemeinsamen Verteidigung

Nach dem Rückzug der UdSSR aus dem Alliierten KontrollratAlliierter Kontrollrat 1948, der Berlinblockade (1948-1949) sowie der MachtMachtübernahme der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei waren die hegemonialen Absichten der Sowjetunion in Deutschland und Europa deutlich (Kaplan 1984, 63f.; Grosser 1986, 95ff.; Georgantzis 1998, 27ff.). Die NATO-Alliierten mussten nun das Bündnisversprechen in die Praxis einer gemeinsamen Verteidigung umsetzen. Dafür wurden die bereits oben genannten institutionellen Schritte umgesetzt (s. 2.3). In Anbetracht der starken und einheitlich organisierten sowjetischen Militärpräsenz östlich der Elbe war aber vor allem der Aufbau einer echten militärischen Verteidigungsfähigkeit zentral. Amerikanische Waffenlieferungen (und natürlich der Marshall-PlanMarshall-Plan) bildeten bereits seit 1950 einen materielleMaterialismusn Anfang, der in Anbetracht des durch den Krieg zerstörten Europas enorm wichtig war (Ismay 1955, 24). Die USA verlegten bis 1952 400.000 US-amerikanische Soldat*innen nach Westeuropa (Ismay 1955, 40). Wichtig waren ebenfalls ein Voranschreiten bei der gemeinsamen VerteidigungsplanungVerteidigungsplanung, der Etablierung gemeinsamer Prozeduren, einer Kommandokette und einer militärischen Strategie (Ismay 1955, Kap. 2; NATO 1949b, 6, Art. 8). Dies stellte eine enorme Hürde dar, weil große Uneinigkeit über den Verlauf der Verteidigungslinien bestand (weiter im Osten und somit schwerer zu verteidigen oder tiefer im Westen?) – eine Frage, die durch den Beitritt der BRD im Jahr 1955 noch zentraler wurde, da die Strategiewahl das bundesdeutsche Territorium als Kriegsschauplatz direkt betraf (Kaplan 1984, 142ff.). Letztlich ist in einer Allianz die Entwicklung einer Strategie immer ein Ausgleich zwischen den Interessen aller Mitglieder (Strachan 2005, 40).

Die strategischen Konzeptestrategische Konzepte der Jahre 1949 und 1952 setzten wegen der Realität sowjetischer konventioneller Überlegenheit auf die Garantie nuklearer AbschreckungAbschreckung (nuklear) durch die USA. Das Konzept vom 1. Dezember 1949 (DC 6/1) stellt daher zu Beginn der Auflistung der militärischen Maßnahmen klar, dass Verteidigungspläne „die Fähigkeit zu strategischen Bombardements mit allen möglichen Mitteln und allen Waffentypen, ohne Ausnahme, garantieren“ müssen (NATO 1949c, 5, Art. 7a).1 Die europäischen Mitgliedstaaten sollten konventionelle Mittel bereitstellen, bis Hilfe aus den USA und Kanada eintreffen konnte (ibid., Art. 7b). Des Weiteren seien die USA und das Vereinigte Königreich für die Sicherung der transatlantischen Luft-, Schifffahrts- und Kommunikationslinien verantwortlich, während die anderen Partner ihre Häfen oder Luftbasen und andere Infrastruktureinrichtungen schützen müssten (ibid., Art. 7d, e). Die zahlenmäßige, konventionelle Unterlegenheit sollte durch technischen Fortschritt der alliierten Kräfte ausgeglichen werden. Fünf regionale Planungsgruppen (USA, Kanada, Nordatlantik, Westeuropa, Nordeuropa, Südeuropa und westliches Mittelmeer) arbeiteten für ihre Bereiche Streitkräfteplanungen aus. Dies war bei allen Mängeln ein Fortschritt gegenüber individuellen oder nur durch die USA verantworteten Plänen (Kaplan 1984, 142f.; Pedlow 1997, XIff.). Teil dieser Pläne war im zunehmenden Maße das Konzept der Forward DefenceForward DefenceVorneverteidigung (VorneverteidigungVorneverteidigung, später auch Vorwärtsverteidigung), wonach die Staaten der drei kontinentaleuropäischen Planungsregionen versuchen sollten, sowjetische Angriffe so weit wie möglich im Osten aufzuhalten oder zu verzögern, um die Zeit bis zum Eintreffen weiterer Truppen von Westen her zu überbrücken und der Luftverteidigung Zeit zu geben, der Sowjetunion empfindliche Schäden zuzufügen (s. Abb. 7). Allerdings kam das Prinzip der VorneverteidigungVorneverteidigung erst mit dem Beitritt der BRD zur NATO und dem darauffolgenden Aufbau der BundeswehrBundeswehr zur Geltung, da die neuen westdeutschen Streitkräfte hierbei eine zentrale Rolle spielten. Bis dahin konzentrierten sich die alliierten Planungen stärker auf weiter westlich gelegene Verteidigungslinien, die militärisch mit den vorhandenen Kräften der westeuropäischen Bündnismitglieder besser haltbar waren (Kugler 1991, 112f.; NATO 2013).

 

Abbildung 7:

Vorwärtsverteidigung 1960 (Grafik 05181-08; Quelle: ZMSBw (o. J.)).

Um die Strategie des ersten Konzepts von 1949 umzusetzen, plante die NATO für 1954 mit 90 Divisionen, ca. 8.000 Kampfflugzeugen, 2.300 Schiffen und 3.200 Marinefliegern (Ismay 1955, Kap. 9; Pedlow 1997, XIV). Diese Zahlen sollte die NATO allerdings nie erreichen. Im Mai 1950 konnten die NATO-Alliierten gemeinsam nur ca. 14 stehende Divisionen (d.h. sofort verfügbare, ohne Mobilisierung von Reservisten) und weniger als 1.000 Kampfflugzeuge in Westeuropa aufbieten, denen direkt 25 sowjetische Divisionen in Ostdeutschland (weitere 60-75 weiter im Osten) und 6.000 Flugzeuge unter einheitlichem Kommando gegenüberstanden (Ismay 1955, 29, Annex B; Bitzinger 1989, 4f.). 1959 verfügte die NATO in Westeuropa über ca. 644.000 Soldaten (ca. 17 Divisionsäquivalente), 2.300 Panzer und 1.800 Jäger, denen 1.530.000 Soldaten des Warschauer PaktWarschauer Pakts, 23.000 Panzer, und 4.000 Jäger gegenüberstanden (Kugler 1990, 102; 1991, 127, 131f.). An diesem grundsätzlichen Ungleichgewicht sollte sich lange nichts ändern (Canby 1972). Im Jahr 1974 weist die NATO die Existenz von 27 Divisionen aus, denen 43-58 Divisionen des Warschauer PaktWarschauer Pakts in Mitteleuropa gegenüberstanden (NATO o. J.-b; ähnlich Bitzinger 1989, 26; Kugler 1991, viii). Diese Zahlen verdeutlichen, wie groß die Bedeutung der nuklearen AbschreckungAbschreckung (nuklear) in der Verteidigungsstrategie der Allianz war (Kaplan 1984, 142f.). Durch ihre Existenz sollte schon der gegnerische Gedanke an einen konventionellen Krieg als zu teuer und gefährlich erscheinen.2

Das Strategische Konzept vom 3. Dezember 1952 enthielt wenig substantielle Änderungen. Es zementierte die 1949 etablierten Verteidigungsstrategien und spiegelte im Wesentlichen die Konsequenzen aus dem Beitritt Griechenlands und der Türkei am 18. Februar desselben Jahres wider, die das zu verteidigende Territorium der Allianz veränderten und praktisch über das gesamte Mittelmeer ausdehnten. Eine Überarbeitung wurde aber als notwendig angesehen, weil sich in der Zwischenzeit mit der Einführung des alliierten Oberbefehlshabers – des SACEURSACEUR in erster Besetzung durch Dwight D. EisenhowerEisenhower, Dwight D. – und des NATO-GeneralsekretGeneralsekretär/ -sekretariatärs die Planungsstrukturen erheblich verändert hatten. Mit der Einführung des SACEURSACEUR wurden die Streitkräfte der Mitgliedstaaten unter ein einheitliches Kommando gestellt. Dies verbesserte die notwendigen Planungs- und Angleichungsprozesse sowie die Kampfkraft der Alliierten erheblich (Ismay 1955, 35f.). Bedeutender als die leichten Veränderungen am Strategischen Konzept stuft Pedlow die Anpassungen der Strategischen Richtlinien (Strategic Guidelines) ein, die das Konzept erläutern und operationalisieren. Die Strategic Guidelines ziehen aus der Betrachtung der weit hinter Plan liegenden konventionellen Kräfte den Schluss, dass die Rolle der nuklearen AbschreckungAbschreckung (nuklear) nach wie vor zentral sei, zumal der Warschauer PaktWarschauer Pakt im Kriegsfall mehr Soldaten mobilisieren kann als die Atlantische Allianz (NATO 1952, 9ff.; Pedlow 1997, 12ff.). Somit waren konventionelle Aufrüstung als auch technologische Fortentwicklung der nuklearen KapazitätenKapazitäten (militärische) wichtige Ziele des Bündnisses, und die NATO sah dies gleichzeitig als Sicherung des FriedenFriedens und Versicherung für den Kriegsfall (NATO 1952, 6). Vor diesem Hintergrund basierte ein nicht zu unterschätzender Teil der NATO-Strategie auf der Androhung und im Zweifelsfall auch der Nutzung von NuklearwaffenAtomwaffen, um eventuelle sowjetische Vorstöße aufhalten zu können (s. 3.4).

Exkurs: Die Suezkrise oder das Versagen alliierter Solidarität

Der NordatlantikvertragNordatlantikvertrag zielte nichtSuez(krise) nur auf die Errichtung einer gemeinsamen Verteidigung, sondern er sah sowohl im Geiste als auch im Text (Art. 2, 4) vor, dass sich die Alliierten in grundlegenden Fragen der Außenpolitik konsultieren sollten. Er etablierte eine NormNormen der Zusammenarbeit (Risse-Kappen 1996, 379ff.). Diese Vereinbarungen haben im Falle der sogenannten SuezSuez(krise)krise (Oktober 1956 bis März 1957) noch nicht gut funktioniert.

Der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser hatte durch die Verstaatlichung der britisch-französischen SuezSuez(krise)kanalgesellschaft, die den Verkehr durch den Kanal zwischen Rotem Meer und Mittelmeer regelte und Gebühren für die Abgeltung der Baukosten einnahm, eine Intervention israelischer, französischer und britischer Streitkräfte ausgelöst. Während Nasser Ägypten aus dem Einflussbereich Großbritanniens entfernen und Gelder für den Bau des Assuan-Staudamms einnehmen wollte, hatte der Kanal für Frankreich und Großbritannien geostrategische und wirtschaftliche Bedeutung. Israel bemühte sich darum, die Oberhand im Konflikt mit der arabischen Welt und den Palästinenser*innen zu gewinnen und sich durch die Intervention auf der Sinai-Halbinsel geostrategisch zu entlasten (Combs 2012, 241f.; Moharram 1999, 197, 208ff.).

Durch die Annäherung Nassers an die Sowjetunion hatten die SuezSuez(krise)krise und der gesamte NahostkonfliktNahostkonflikt/ Naher Osten geopolitische Züge (Orlow 1999). Da die NATO-Alliierten durch Frankreich und Großbritannien allerdings nicht konsultiert worden waren, bevor sie militärisch losschlugen, und die USA eine Verschlechterung der Beziehungen mit Dritte Welt-Staaten in der Blockkonfrontation als wenig vorteilhaft ansahen, verweigerten sie ihre Unterstützung und strebten stattdessen zusammen mit der Sowjetunion eine friedlichFriedene Lösung in der UNO und damit letztlich den Abzug der israelischen, britischen und französischen Truppen an. Die USA stellten dabei ebenfalls Hilfszahlungen an die Verbündeten ein. Anfang November wurde der politische Druck auf die drei intervenierenden Staaten so groß, dass zunächst Großbritannien, Frankreich und später auch Israel die Kampfhandlungen einstellten und von Dezember 1956 bis März 1957 ihre Truppen abzogen. Nasser entschädigte die Kanalaktionäre im Zuge von FriedenFriedensverhandlungen. Die Stationierung von UN-FriedenFriedenstruppen auf dem Sinai und an der Grenze zu Gaza sicherte zudem Israels Sicherheit gegen Angriffe ab (Combs 2012, 242; Moharram 1999, 214f.; Risse-Kappen 1996, 384).

Das offensichtlich neokoloniale Vorgehen Großbritanniens und Frankreichs zeigte einerseits gewisse Grenzen alliierter Solidarität auf. Andererseits wurde deutlich, dass es zur Realisierung der Werte- und Verteidigungsgemeinschaft der NATO mehr als nur des Aufbaus einer gemeinsamen Verteidigung bedurfte, sondern auch der Koordination und Konsultation über andere Außenpolitiken, die bis heute nicht immer funktioniert, aber trotzdem ein permanenter Prozess ist (Raflik 2011, 216). Es ging in SuezSuez(krise) letztlich nicht um die Allianz an sich, sondern um andere außenpolitische Interessen (Thies 2009, 203ff., 299).