ÜBERLEBT - Infiziert mit dem Superkeim MRSA

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19. August 2011

Nach der Nacht in der Überwachungsstation und einem Frühstück wurde mir der Befund meiner Krankheit mitgeteilt, von dem ich nicht wusste, was er eigentlich bedeutete. Das Resultat meiner Blutuntersuchung durch das Diagnostiklabor Viollier war eingetroffen und hatte ergeben, dass ich mit dem Bakterium MRSA infiziert war. Ich hatte eine Blutvergiftung!

Vom Zeitpunkt, in dem ich mich in der Notfallstation angemeldet hatte und mir die Blutproben entnommen wurden, hatte es also ganze 48 Stunden gedauert, um diese Diagnose zu stellen. Im Nachhinein frage ich mich, warum dies so lange brauchte, da gemäß dem heutigen Stand der Diagnostik auch ein MRSA-Schnelltest zur Verfügung steht, mit dem die Diagnose in wenigen Stunden gestellt werden kann. Gerade bei dieser Erkrankung ist eine schnelle Diagnose essentiell und unter Umständen lebensrettend. Wo, wann und warum diese Entzündung aufgetreten war, war mir ein Rätsel. Was MRSA überhaupt bedeutete, war mir nicht bekannt. Zugegebenermassen waren meine Kenntnisse zu Infektionskrankheiten sehr beschränkt. Es wurde mir erklärt, dass dies eine Abkürzung für die Bakterienstämme des Typs Methicillin-Resistenter Staphylococcus Aureus war.

Aus meinem Studium der Biochemie schwante mir, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte. Ich konnte mich erinnern, dass damals mein Diplombetreuer, der selbst Mikrobiologe war, erwähnte, dass er für ein Experiment „Staphen“ züchtete und dass diese sehr ansteckend seien. Methicillinresistent hieß, dass das Antibiotikum Methicillin bei diesem Stamm nicht wirkte. War dies etwa einer dieser „Superkeime“, also Bakterien, bei denen viele Antibiotikaklassen wirkungslos waren, von denen man ab und zu in den Medien hörte?

Fragen über Fragen, zu denen ich keine Antwort wusste. Und besser ging es mir in der Zwischenzeit immer noch nicht. Nachdem die Diagnose gestellt war, wurde ich sofort isoliert, d.h. von den anderen Patienten getrennt und in ein Zimmer für Privatpatienten gebracht, obwohl ich allgemein versichert bin. MRSA ist als „Klinikkeim“, der zu den berüchtigten Spitalinfektionen führen kann, in den Krankenhäusern gefürchtet und eine weitere Verbreitung auf andere Patienten und das Personal musste unbedingt verhindert werden. Es erfolgte eine ausführliche Befragung und nachfolgende Instruktionen durch eine Spezialistin für Spitalhygiene und einen Infektionsspezialisten. Ein erster Verdacht kristallisierte sich heraus: hatte ich mich etwa in den Sommerferien in Istrien, Kroatien angesteckt, wo wir zwei Wochen vom 4.-15. Juli 2011 weilten?

Rückblick:

Etwas Sonderbares war in diesen Ferien passiert. Am vierten Tag des Urlaubs hatte meine Frau plötzlich Schmerzen in der Schamgegend. Was zuerst wie ein Mückenstich aussah, begann bald anzuschwellen, zu eitern und entwickelte sich innerhalb weniger Tage zu einem hässlichen Abszess. Auch mein Sohn hatte an der Leiste eine ähnliche, wenn auch kleinere Pustel, die Eiter zu enthalten schien.

Nachdem nach einigen Tagen Selbstbehandlung mit einer milden Kortisonsalbe und später einer Zugsalbe diese Stellen nicht zu heilen schienen, war es dringend Zeit geworden, einen Arzt zu konsultieren. Zum Glück gab es gleich in der Nähe der Feriensiedlung ein Ambulatorium, das wir aufsuchten und in dem wir vom Arzt und seiner Assistentin, auch einer Ärztin, sofort empfangen wurden. Dem Arzt war der Fall offensichtlich sofort klar. Es handelte sich anscheinend um eine bakterielle Infektion, die zuerst zu einer Art eitrigem Pickel führte, welcher sich leicht zu einem Abszess entwickeln konnte. Gemäß dem Arzt war diese Art Hautinfektion in dieser Region bei Touristen ziemlich verbreitet, rief jedoch bei der einheimischen Bevölkerung keine Erkrankung hervor, da diese den Keimen von Kind an ausgesetzt waren und eine Immunität dagegen ausbildeten. Bei Touristen hingegen kamen solche Infektionen recht häufig vor, und verrückterweise hing das Ganze auch noch von der Nationalität ab. Die Touristen in dieser Region Kroatiens waren vor allem aus dem nahen Österreich und Italien, aber auch aus den Niederlanden. Bei Holländern traten solche Hautinfektionen viel häufiger auf als bei italienischen Touristen. Dieser Sachverhalt machte später auch durchaus Sinn.

Unsere Familie war häufig und in vielen Ländern herumgereist, jedoch hatten wir noch nie etwas Ähnliches erlebt. Um die Infektionen zu kurieren, erhielten meine Frau und mein Sohn ein Antibiotikum in Tabletten-, bzw., Sirup- und Salbenform, das sie für den Rest der Ferien, d.h. zehn Tage lang, anwenden mussten. Es war eine starke Medikation, die beide müde machte.

Eine Woche später hatte meine ältere Tochter auch einen kleinen Abszess an der Leiste und musste zum selben Arzt gebracht werden. Auch sie wurde mit einem Antibiotikum behandelt. Einzig bei unserer jüngsten Tochter und mir schienen diese Keime keine Wirkung zu haben. Der Arzt erklärte dies damit, dass wir ein starkes Immunsystem besäßen.

Doch zurück zum Bericht:

Aufgrund der bestehenden Diagnose konnte im Kantonsspital Aarau endlich die korrekte Antibiotikatherapie mit Vancocin begonnen werden, einige der wenigen Antibiotika die gegen MRSA wirken.

Am Abend besuchte mich in Aarau wieder meine Frau Joy. Wir redeten lange. Meine Frau machte damals noch einige Fotos von mir mit meinem Handy, die ich allerdings erst viel später im Dezember 2011 entdeckte.

Es war wieder sehr heiß im Zimmer. Vom vielen Liegen hatte ich Rückenschmerzen und schaute fern, um mich abzulenken.

20. August 2011

Ich hatte eine weitere schlimme Nacht verbracht. In der Nacht werden die Schrecken und Ängste ja meist noch stärker und irrationaler. Ich glaube ich begann zu diesem Zeitpunkt zu verstehen, in welch gefährliche Situation ich geraten war, obwohl ich natürlich nicht ahnen konnte, was noch alles auf mich zukommen würde.

Am Vormittag bat ich eine Pflegerin, ob ich mit einem Seelsorger sprechen könne. Das war möglich, und bald darauf erschien ein jüngerer Herr, der sich als Spitalseelsorger vorstellte. Leider habe ich keine Ahnung mehr, was ich mit ihm besprach. Dies ist Teil einer retrograden Amnesie, also eines Gedächtnisverlustes, der bis zu diesem Datum zurückreichte, wie ich später feststellen musste. Ich hatte jedoch große Angst und besprach vermutlich meine Befürchtungen mit ihm. Im Kontrast dazu war es draußen ein schöner Hochsommertag mit viel Sonnenschein.

Am frühen Nachmittag kam meine Mutter zu Besuch. Wir setzten uns im Zimmer an das kleine Tischchen und unterhielten uns über die letzten Tage. Ich hatte Durst und fragte meine Mutter, ob sie mir ein Bier bestellen könne. Ich dachte zwar nicht unbedingt, dass mir dies erlaubt würde, aber zu meinem Erstaunen gestattete dies die Pflegerin. Es wurden uns vom internen Gastbetrieb zwei kühle Flaschen Bier gebracht. Ich genoss dieses in vollen Zügen. Dies sollte das Letzte für viele Monate sein.

Am Nachmittag verschlechterte sich mein Zustand. Ich hatte Schmerzen auf der Brust. Mein Unterleib war richtig aufgedunsen. Um das Atmen zu erleichtern, erhielt ich zusätzlich Sauerstoff über eine Sauerstoffmaske zugeführt. Es wurde ein zweites Computertomogramm des Schädels erstellt, da der dringende Verdacht bestand, dass Bakterien in die Stirnhöhlen gelangt sein könnten.

Die Durchführung des Computertomogramms war sehr unangenehm, da ich vom vielen Liegen Rückenschmerzen hatte. Ich musste mich auf eine schmale Liege legen. Der Kopf wurde mit Kunstoffkeilen so fixiert, dass ich ihn nicht drehen konnte. Ich wurde gefragt, ob ich an Klaustrophobie leide, da das Liegen in der schmalen Röhre des Tomographen sehr beengend sei. Falls dies der Fall gewesen wäre, hätte ich ein Beruhigungsmittel erhalten. Obwohl ich solch enge Räume beängstigend finde, verzichtete ich darauf. Der Operator versicherte mir, dass er mit mir über ein Mikrofon in Kontakt stehen würde und er die Prozedur auch abbrechen könnte, wenn es unbedingt sein müsste. Zur Ablenkung wurde ein Radiosender eingestellt. Ich wurde bis zur Brust in den engen Tunnel der Apparatur geschoben. Mit kreisender Bewegung drehte sich an der Einstiegsöffnung ein Lichtstrahl, vermutlich der rotierende Magnet, um meine Körperachse. Heftiger Lärm! Es fiel mir schwer, ruhig dazuliegen. Die Prozedur abzubrechen und nochmals zu wiederholen wollte ich jedoch auf keinen Fall.

Nach einer halben Ewigkeit meldete sich die Stimme des Operators, dass die Aufnahme bald zu Ende sein würde. Trotzdem dauerte es sicher nochmals fünfzehn Minuten, um all die Messdaten zu speichern. Endlich wurde die Bahre aus der Röhre gezogen. Die Messung war vorbei. Dieser Tag war der letzte, der mir einigermaßen in der Erinnerung haften blieb. Auch ein Besuch meiner Schwester und des Schwagers wurde vollständig aus der Erinnerung radiert. Ab diesem Zeitpunkt dramatisierte sich die Situation Tag für Tag.

21. August 2011

Da sich mein Zustand dermaßen verschlimmert hatte, wurde ich in die Intensivstation verlegt. Wie der Chefarzt erklärte, brauchten die Antibiotika gegen die MRSA-Bakterien volle drei Tage, um ihre Wirkung zu entfalten. Ich wurden mit zwei verschiedenen Antibiotika, Vancocin und Garamycin, gleichzeitig behandelt, die beide gegen MRSA eingesetzt werden.

Es ging nun um einen Wettlauf gegen die Zeit: würde ich die nächsten Tage durchstehen? Viel Zeit wurde mit der Initialdiagnose verwendet, Zeit, die nun dringend fehlte. Der Angriff der Staphylokokken auf die Lunge, die dazu geführt hatte, dass ich immer mehr Mühe mit der Atmung bekam, führte progressiv auf ein Lungenversagen hin. Auch die ausgeprägte obere Gesichtsschwellung der Nase und des Augenbereiches war nicht zurückgegangen. Die rechte Augenhöhle war rot und komplett entzündet. Der ganze Körper war voll zurückgestautem Wasser, schwer und aufgedunsen.

 

An diesem Tag wurde eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels durchgeführt, um verschiedene Schädelvenen auf das Vorhandensein von septischen Thrombosen, also der Bildung von Gerinnseln, zu untersuchen. Die Bewegungseinschränkung mehrerer Augenmuskeln deutete auch auf ein infektiöses Gerinnsel in den venösen Blutleitern des Gehirns. Das MRI zeigte tatsächlich, dass in einigen Gesichtsvenen durch die eitrige Infektion der Nasennebenhöhlen entstandene Thrombosen vorlagen.

Weiter wurde das Herz mit einer transthorakalen Echokardiographie (TTE) auf einen möglichen Bakterienbefall untersucht und auf Anomalitäten überprüft. Bei diesem Typ von Ultraschalluntersuchung wird der Schallkopf auf dem Brustkorb aufgesetzt und die Schallwellen passieren den Brustkorb. Zu meinem großen Glück war die Herzwand nicht, wie vorher vermutet wurde, von Bakterien befallen.

Mitten in der Nacht telefonierte eine Ärztin der Intensivstation meiner Frau Joy nach Hause und sagte ihr, dass ich in einem sehr kritischen Zustand wäre und ob sie ins Spital kommen könnte. Dies war allerdings nicht möglich, da sie so kurzfristig niemanden hatte, der auf die drei Kinder hätte aufpassen können. Joy erklärte, dass sie am nächsten Morgen sofort kommen würde. Sie war völlig aufgelöst und benachrichtigte meine Mutter, die ihrerseits meiner Schwester und meinem Schwager telefonierte.

Mitten in der Nacht fuhren alle drei von Zürich nach Möhlin zu meiner Frau, um sie zu beruhigen und ihr beizustehen und einen Plan für die folgenden Tage aufzustellen. Alle vermuteten das Schlimmste.

22. August 2011

Es gab eine große Besprechung im Spital, zusammen mit dem Chefarzt und einer Pflegeperson. Alle Familienmitglieder waren anwesend. Mein Vater und seine Ehefrau waren aus dem Tessin angereist, damit sie teilnehmen konnten. Mein Zustand war äußerst kritisch, da die Antibiotika noch keine Wirkung zeigten und sich auch meine Lungenfunktion ständig verschlechterte. Die Atemmuskulatur war erschöpft und konnte ihre Funktion nicht mehr richtig ausüben. Der Chefarzt erklärte, dass sich die Staphylokokken zusätzlich in den Knochenhöhlen und schlecht durchbluteten Körperbereichen einnisten würden, dort Kolonien bilden und sich vermehren würden, um nach und nach in den Blutsstrom zu gelangen. Mit Knochenhöhlen waren die Nasennebenhöhlen, die Siebbeinzellen über der Nase und die normalerweise lufthaltigen Knochenzellen hinter den Ohren, die Warzenfortsätze, gemeint.

Die Vermehrungsgeschwindigkeit dieser Bakterien ist erschreckend. Sie teilen sich alle zwanzig Minuten, und wachsen damit exponentiell mit einer Riesengeschwindigkeit. Es musste ständig mittels verschiedenen Untersuchungen wie Computertomographie und Magnetresonanztomographie (MRT) kontrolliert werden, wo sich solche Bakterienansammlungen befanden, um diese möglichst schnell chirurgisch zu entfernen und die Knochenhöhlen zu reinigen. Dies bedeutete jedes Mal einen chirurgischen Eingriff, bei dem der Eiter und das angegriffene Gewebe manuell entfernt werden mussten. Jede Narkose und Operation barg die Gefahr von zusätzlichen Komplikationen. Trotzdem war dies der einzige Weg, um die sich ständig neu bildenden Bakterienkolonien zu entfernen. Man wollte verhindern, dass die Kolonien sich weiter vermehren konnten und Keime kontinuierlich in den Blutstrom abgegeben wurden und im Körper zirkulierten. Dies bedeutete, dass in kurzer Zeit potentiell viele Operationen auf mich zukommen konnten. Welcher Körperteil wann operiert werden musste war unklar.

Bei den MRSA-Bakterienstämmen existieren verschiedene Subtypen, die sich genetisch unterscheiden. Auftreten von MRSA scheint sich zumindest in der Schweiz hauptsächlich auf den nosokomialen Typ zu beschränken, der in Spitälern anzutreffen ist.

Der Typ MRSA, mit dem ich mich infiziert hatte, war jedoch ein unterschiedlicher Stamm, ein sogenannter „Community acquired“ Bakterienstamm (CA-MRSA), also ein Typus, der in der Öffentlichkeit wie zum Beispiel in Fitnesscentren oder öffentlichen Toiletten auftreten kann. Wie gesagt, ist dieses Bakterium in der Schweiz vermutlich sehr selten und eher in Ländern anzutreffen, wo häufig bis extensiv Antibiotika eingesetzt werden. Dies begünstigt natürlich das Entstehen solcher resistenten Keime oder „Super-Keime“, wie sie auch genannt werden. Das Hauptproblem bei der Behandlung von Patienten mit solchen Keimen ist, dass die Bakterien auf ein oder mehrere Antibiotikagruppen resistent sein können und nur noch wenige und selten eingesetzte Antibiotika helfen können, die unter Umständen ein suboptimales Wirkungsprofil haben. Im allerschlimmsten Fall zeigt gar kein Antibiotikum eine Wirkung und der Patient ist der Infektion hoffnungslos ausgeliefert.

MRSA tritt häufig in südlichen europäischen Staaten wie Italien und Griechenland auf, jedoch auch in ex-jugoslawischen Ländern wie Bosnien, Serbien und Kroatien. England und die USA sind ebenfalls Länder mit hohem Auftreten von MRSA. In vielen dieser Länder führen diese Staphylokokkenstämme zu keinen Erkrankungen, da die lokale Bevölkerung immun dagegen ist.

CA-MRSA ist noch ein anderes Biest. Stämme dieses Typus produzieren ein toxisches Eiweiß, das die Membranen eines der wichtigsten Abwehrmechanismen des Immunsystems, nämlich der Makrophagen oder Fresszellen zerstört, d.h. ein wichtiger Teil des Immunsystems wird somit untergraben. Zudem verbreitet sich CA-MRSA mit der rasanten Geschwindigkeit einer Virusinfektion im Körper.

Wie der Chefarzt meiner Familie erklärte, war die Strategie der Ärzte der Intensivstation wie die der Feuerwehr, nämlich immer dort möglichst schnell einzugreifen, wo ein neues Feuer ausbricht, um es sofort zu löschen. Konkret hieß das, dass viele Operationen auf mich zukommen konnten, um die Bakterienherde auszuräumen. Zum Ausgang der Erkrankung, d.h. der Prognose, konnte er nichts sagen, da dies in diesem Stadium völlig ungewiss war.

In meiner Familie wurde meine Mutter als Erstkontakt bestimmt, da meine Frau wegen den Kindern nicht genug schnell reagieren konnte. Meine Frau hingegen sollte die schriftliche Zustimmung für bevorstehende Operationen geben. Es musste auch geregelt werden, wie mein Geschäft und die Schule meines Sohnes informiert werden sollte. Es wurde vereinbart, dass nur wenige Personen einbezogen und informiert werden sollten, woran ich konkret erkrankt war. Wir wollten eine unnötige Aufregung und Angstmache vermeiden und verhindern dass zum Beispiel andere Kinder den Kontakt mit unseren Kindern vermeiden würden.

Im Unternehmen in dem ich arbeite, einer mittelständischen Pharmafirma, beratschlagten meine Kollegen der Business- Development-Abteilung, wie sie mir helfen könnten. Außer den wenigen Antibiotika, deren Wirksamkeit sich bei mir erst noch zeigen musste, gibt es ja kein anderes Medikament gegen MRSA. Da sich unsere Gruppe mit Einlizenzieren von neuen oder sich noch in der Entwicklung befindenden Arzneimitteln beschäftigt, hat sie gute Kenntnis von potentiell wirksamen, aber noch nicht offiziell zugelassenen Medikamenten sowie die nötigen Firmenkontakte. Es kam die Idee auf, mit einer dieser Firmen Kontakt aufzunehmen, die mir, bzw. der Intensivstation Aarau, eventuell ein solches Entwicklungsmedikament zur Verfügung stellen würde, eine zugegebenermaßen ziemlich heikle Angelegenheit. Die Situation war aber so dramatisch, dass auch eine solche riskante Notlösung in Betracht gezogen wurde. Der Einsatz eines sich in der Entwicklung befindenden Arzneimittels darf man eigentlich nur in den hoffnungslosesten Fällen riskieren.

Es wurde dann doch Abstand von dieser Idee genommen, da gerade solche Vorschläge einer Pharmafirma bei den Ärzten ziemlich sicher nicht gut ankommen und damit Probleme ethischer und rechtlicher Art praktisch vorprogrammiert gewesen wären.

IM KÜNSTLICHEN KOMA
23. August - Anfangs Oktober 2011

Um den Körper nicht noch mit zusätzlichem Stress durch Angst und Schmerzen auszusetzen, wurde ich mit Medikamenten ins medizinisch induzierte Koma überführt, was gleichbedeutend mit einem künstlichen Tiefschlaf ist. Der Körper wurde praktisch heruntergefahren. Das künstliche Koma wurde mit dem Narkotikum Propofol durch eine Dauergabe mittels eines zentralen Venenkatheters aufrechterhalten. Propofol hat in der Allgemeinheit seine Bekanntheit durch die Diskussionen um den Tod von Michael Jackson erreicht. Je nach Dosierung des Propofols ist der Patient in einem Zustand, in dem er weniger sediert ist und die Augen offen hält bis zu einem Zustand, in dem er völlig narkotisiert ist. Eine der Nebenwirkungen des Propofols ist, dass man sich nach dem Aufwachen an die meisten Dinge nicht mehr erinnern kann, also ein Gedächtnisverlust eintritt. Jede Erinnerung wird praktisch fortlaufend ausradiert. Propofol wirkt nicht schmerzlindernd. Zusätzlich wurde mir Fentanyl, ein hochpotentes synthetisches Opioid und Schmerzmittel als Dauermedikation verabreicht.

An die ganze folgende Zeit kann ich mich überhaupt nicht erinnern, was vermutlich auch das Beste war, was mir zu diesem Zeitpunkt passieren konnte. Aus der Krankheitsgeschichte, die ich erst im Dezember las und vielen Gesprächen mit meiner Frau, meiner Mutter und Schwester, sowie Tagebuchaufzeichnungen meiner Mutter konnte ich den Verlauf jedoch einigermaßen rekonstruieren und möchte ihn hier aufzeichnen.

Durch die starke Dauermedikation mit Propofol und Fentanyl war ich wie auf einer Art Drogentrip. Ich hatte solche luzide Träume, reich an Details und intensiv an Gefühlen, dass diese Traumsequenzen zur wahrhaftigen Realität wurden und nicht mehr die Wirklichkeit darstellte, die sich um mich herum abspielte. Tatsächlich sind solche Träume eine Nebenwirkung des Propofols. Wie die Oberärztin meiner Frau erklärte: „Er ist in seiner eigenen Welt“. Dies war die völlig akkurate Bezeichnung.

Impulse von außen führten zu neuen, verrückten Halluzinationen, wie ich sie vorher noch nie erlebt hatte. Die Träume waren jedoch durchaus real. Es spielten darin bekannte Personen aus meinem Umfeld eine Rolle, wie meine Familie, Freunde und sogar meine Großeltern. Die Träume fanden in äußerst realistischen aber meist unbekannten Umgebungen statt und waren insgesamt überhaupt nicht etwa in einer Weise wie ich es beispielsweise von der Beschreibung eines LSD-Trips schon gehört oder gelesen hatte. Eigene Erfahrungen kann ich nicht beisteuern, da ich nie irgendwelche Arten von Drogen konsumiert habe. Es gab keine psychedelischen Farben und verrückte Dimensionen. Die Handlungen bezogen sich teilweise auf Dinge, die ich selbst erlebt hatte und erlebte, und bezogen sich zum Teil auch auf Filme, die ich gesehen und mich beeindruckt hatten. Jedoch war alles mit einer verrückten und erschreckend durchgedrehten Logik verbunden. Das Ganze war so real als wäre es wirklich geschehen und ich kann mich bis heute an vieles im Detail erinnern. Ich weiß noch, dass ich zwischendurch merkte, es gefühlsmäßig spürte, dass etwas sehr Schlimmes und Bedrohliches mit mir geschah. Ich wusste jedoch nicht, was es war und ob ich mittendrin oder ob es schon vorbei war.

Da diese Träume für mich ein Teil des Gefühlslebens des Aufenthaltes in der Intensivstation darstellten, werde ich einige davon beschreiben. Die Träume waren teilweise sehr angenehm, andere jedoch beängstigend und sonderbar. Ich war darin in ohnmächtigen Situationen gefangen und konnte nichts dagegen unternehmen.

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