Station 27 A

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Station 27 A
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Evi Behrendt

STATION 27 A

Das Leben ist kein

ruhiger Fluss

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Die Personen, Orte und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Orten sind rein zufällig.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelbild © Regina E. Wittenbecher

Lunikorn@t-online.de

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH

www.engelsdorfer-verlag.de

„Versuche stets,

ein Stückchen Himmel

über deinem Leben freizuhalten.“

Marcel Proust

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Textbeginn

Nachwort der Autorin

Nachbemerkungen der Autorin zur Thematik psychischer Erkrankungen

Die Frau im Krankenzimmer starrte bereits minutenlang auf die gelb gestrichene Wand neben ihrem Bett. Ihre Augen verfolgten einen kleinen Marienkäfer, der beschwerlich seitwärts zum Fenster krabbelte. Er war heller als die Marienkäfer, die sie aus ihrer Kindheit kannte. Nicht so rot, eher hellbraun und deshalb gefiel er ihr nicht. Im Zimmer standen zwei Betten hintereinander. Sie hatte sich für das am Fenster entschieden. So konnte sie den Himmel sehen und die hohen Baumkronen. Ihr Blick wanderte langsam durch den Raum. An der gegenüberliegenden Wand standen ein quadratischer Tisch mit zwei hellen Stühlen und daneben ein grauer Schrank. Gleich hinter der Tür befand sich ein kleines Waschbecken, weder Radio noch Fernseher konnte sie entdecken. Die blasse, dunkelhaarige Frau betrachtete mit leeren Augen ein kleines Bild, das über dem Tisch hing. Unbewusst nahm sie die Farben wahr. Es war ihr egal, was das Bild darstellte. Nun spürte sie wieder diese elende Müdigkeit und nichts war ihr jetzt lieber als auf diesem Bett zu liegen und die gelbe Wand anzustarren. Noch vor ein paar Stunden hatte sie im Arztzimmer gesessen und gewissenhaft die Fragen des Stationsarztes beantwortet. Name: Eva Herzfeld, Alter: neunundvierzig, Beruf: Lehrerin, Diagnose: Depression und Angststörungen. So stand es auf der Überweisung ihrer Hausärztin.

Dr. Fink beobachtete sie aufmerksam und während er sich Notizen machte, hatte sie Zeit, ihre Tränen zu trocknen. Der Arzt wirkte auf sie freundlich und konzentriert. Obwohl er eine Brille trug, benutzte er zum Lesen zusätzlich eine Lupe. Nun war sie also stationär aufgenommen und sollte sechs Wochen hierbleiben. Sie suchte den Marienkäfer an der Wand, aber er war verschwunden.

Als Eva die Augen öffnete, hörte sie auf dem Flur mehrere Stimmen und das Geklapper von Geschirr. Der breite Korridor vor ihrem Zimmer führte direkt zum Aufenthaltsraum. Dort nahmen die Patienten ihre Mahlzeiten ein.

Eine hübsche, junge Frau mit langen, dunklen Haaren kam lächelnd auf sie zu und begrüßte sie herzlich: „Hallo, ich bin Dana. Du kannst dich zu uns setzen.“

An den einzelnen Vierertischen wurde leise erzählt und laut gelacht. Eva aß schweigend ihr Mittagessen und beobachtete die anderen Patienten. Viele junge Leute, stellte sie fest, und die Mehrzahl waren Frauen. Nach dem Essen erklärte Dana der neuen Patientin den wöchentlichen Therapieplan, der neben dem Schwesternzimmer an der Wand hing.

„Du kommst sicher zu uns in die Gruppe zwei, wir sind auch erst ein paar Tage hier“, sagte sie lächelnd und dabei sprudelten die Worte schnell aus ihr heraus.

Eva starrte auf den Plan und versuchte sich den Ablauf einzuprägen. Welcher Wochentag war heute? Sie wusste es nicht. Es fiel ihr unheimlich schwer, sich zu konzentrieren und so ging sie gleich wieder in ihr Zimmer. Bloß schlafen, schlafen, an nichts denken, es wird schon alles. Wie die meisten Patienten bekam sie ein Antidepressivum und Beruhigungsmittel. Den Rest des Tages verbrachte sie im Bett. Evas Einweisungstag war ein Dienstag.

Der nächste Morgen begann für sie im Schwesternzimmer mit dem Ausfüllen von Formularen und verschiedenen Routineuntersuchungen. Ihr Kopf dröhnte und alle Bewegungen fielen ihr schwer.

Jeden Mittwoch fand auf der Station 27A ein gemeinsamer Gruppenabend statt. Heute standen Schach und Brettspiele auf dem Programm.

Wie originell, dachte Eva gequält.

An ihrem Tisch saßen bereits Dana, die gerade einen Würfelbecher auspackte und eine Frau mit kurzen, blonden Haaren und einer modischen Brille. Anke war etwa in ihrem Alter, groß und kräftig gebaut, mit einer warmen, sympathischen Stimme. Nach jeder Spielrunde wäre Eva am liebsten wieder zurück ins Zimmer gegangen. Ihr Körper fühlte sich so schwer an und sie musste ständig gähnen. Nur Ankes freundliche Unterhaltung lenkte sie auf angenehme Weise von ihrer Müdigkeit ab.

Am Nachbartisch spielten zwei Männer schweigend Schach. Der Ältere von ihnen machte einen konzentrierten Gesichtsausdruck, während er seine Schachfigur langsam auf ein neues Feld setzte. Der etwas Jüngere von beiden war ihr schon am ersten Tag aufgefallen. Er hieß Stefan und Eva schätzte sein Alter auf Mitte oder Ende vierzig. Das unrasierte Gesicht wirkte müde und in seinen dunklen Haaren entdeckte sie schon zahlreiche graue Fäden. Der dritte männliche Patient saß mit zwei jüngeren Frauen zusammen. Während sie auf ihren Handys tippelten, lachten sie gelegentlich und tuschelten miteinander.

Und wieder fragte Eva sich, warum so viele junge Menschen auf dieser Station landeten.

Am Tisch in der Ecke ging es am lautesten zu. Drei Frauen unterhielten sich lebhaft miteinander und ihr Gelächter störte scheinbar niemanden. Eigentlich redete nur die Frau im orangefarbenen Sweatshirt und die anderen hörten amüsiert zu. Luisa unterhielt die gesamte Gruppe mit privaten Geschichten über verflossene Lebenspartner, Ärger mit den erwachsenen Töchtern und anderen Katastrophen. Während sie erzählte, stupste sie ständig ihren Zeigefinger in die Luft oder strich hastig ihre glatten Haare aus dem Gesicht. Dann schaute Eva wieder zur Uhr über der Eingangstür und war froh, dass dieser Mittwochabend gleich vorbei war.

Dank der Beruhigungstablette hatte sie die folgende Nacht durchgeschlafen, erwachte aber am nächsten Morgen mit starkem Kopfdruck und Herzklopfen. Mehrmals am Tag musste sie ins Schwesternzimmer, um ihren Blutdruck messen zu lassen. Sie machte sich Sorgen, denn die Werte waren viel zu hoch.

Am späten Abend kam dann auch prompt die nächste Panikattacke. Und diese war heftiger als jene, die sie zu Hause erlebt hatte. Brennende Hitze stieg in ihr hoch, ihr wurde so schrecklich heiß im Brustkorb. „Mein Gott, was ist das jetzt?“, fragte sie sich. Eva atmete fiel zu schnell, sprang panisch aus dem Bett und rannte völlig aufgeregt ins Schwesternzimmer.

„Was ist denn los, Frau Herzfeld? Versuchen Sie entspannter zu atmen. Ich komme gleich noch mal zum Blutdruckmessen.“ Nachtschwester Judith führte Eva zurück zum Bett und bemühte sich, sie zu beruhigen. „Sie bekommen keinen Herzinfarkt, das ist nur die seelische Anspannung.“

Ihre Worte klangen fürsorglich und energisch zugleich. Mit ihren kurz geschnittenen Haaren und den schnellen, sicheren Handgriffen wirkte die Nachtschwester burschikos und streng. Eva beobachtete ihr besorgtes Gesicht beim Ablesen der Blutdruckwerte. Später bekam sie ein Spray, das ihr auf die Zunge gesprüht wurde und eine farbige, kleine Pille. Endlich spürte sie, wie sich die Anspannung allmählich löste und die Angst von ihr wich. Völlig erschöpft schlief sie ein.

Die nächsten Tage nahm Eva wie in einer nebligen Wolke war. Wenn sie morgens in den Spiegel schaute, blickte sie in ein trauriges Gesicht mit geschwollenen Augen und fahler Hautfarbe. Zum Frühstück konnte sie kaum etwas essen, ihr war oft übel und sie bekam schon nach der kleinsten Anstrengung kalten Schweiß auf der Haut. Was hatte sie nur so aus der Bahn geworfen? Nach ihrer Scheidung vor vielen Jahren musste Eva lernen, nur sich selbst zu vertrauen. Das funktionierte doch die ganze Zeit hervorragend. Die Arbeit, der Haushalt und die beiden Kinder, da war immer Bewegung und der Tag füllte sich von selbst. Es blieb nicht viel Zeit, über die eigene Befindlichkeit nachzudenken.

Inzwischen war auch das zweite Bett in ihrem Zimmer belegt. Als Katja an einem Vormittag plötzlich in der Tür stand, freute sie sich sofort über die sympathische Frau, mit der sie die kommenden Wochen das Zimmer teilen würde. Katja war sehr schlank und ihre großen, hellen Augen hatten diesen madonnenhaften Blick, der die Männer so anzog. Sie wirkte jünger als Ende vierzig und ihre erwachsenen Söhne waren etwa im gleichen Alter wie Evas Kinder.

 

Ja, die Kinder, sie nahmen die Tatsache, dass ihre Mutter sich zu einer stationären Therapie entschlossen hatte, recht unterschiedlich auf. Evas Tochter Anna war wie immer sehr besorgt und wollte gleich von Berlin losfahren und Urlaub nehmen. Ihr Sohn Mathias reagierte zurückhaltender und wie erwartet rationaler. Eine Gruppentherapie wäre nichts für seine Mutter, bemerkte er nur knapp.

Mathias war Evas Erstgeborener. Er kam an einem kalten Januartag per Kaiserschnitt auf die Welt, eine Woche nach dem errechneten Geburtstermin. „So, als wollte er nicht in dieses Leben“, dachte Eva manchmal, wenn sie traurig war und über seine Krankheit grübelte. Als sie mit Mathias schwanger wurde, wohnte Eva noch in Berlin und hatte sich bereits vor der Geburt von dessen Vater getrennt. Sie kannten sich nicht lange und Eva spürte ziemlich schnell, dass er nicht der Richtige war. Aber dieses Kind wollte sie unbedingt bekommen. Vom ersten Tag an freute sie sich auf das Baby und in der DDR war es nicht so schwierig wie heute, ein Kind allein großzuziehen. Also beschloss sie, das Baby zu bekommen, stellte beim zuständigen Schulamt einen Versetzungsantrag in ihre Heimatstadt und zog vorerst zu ihren Eltern. Die Geburt war kompliziert, in der Nacht bekam sie Fieber und gegen Morgen musste man den kleinen Jungen holen. Als Eva nach der Narkose erwachte, legte ihr eine Schwester das kleine, weiße Bündel in die Arme. Wie ein Geschenk betrachtete sie ihr Baby. Es hatte so eine zarte, rosa Haut und winzige kleine weiße Pünktchen auf seiner Nase.

Damals fand sie es gar nicht schlimm, dass am Babybettchen kein Vater stand. Darauf hatte Eva sich neun Monate lang eingestellt und so konnte sie ihr ganzes Mutterglück ungeteilt genießen.

Gern dachte sie an die Zeit zurück, als sie mit Mathias in die kleine Neubauwohnung zog, ganz in die Nähe ihrer Eltern. Zwei Zimmer, Küche, Bad und Balkon, welch ein Luxus! Von nun an brauchte sie keine Kohlen mehr schleppen und in aller Frühe die Kachelöfen ihrer fußkalten Berliner Wohnung beheizen. Vom Balkon aus konnte sie die Spitze des Fernsehturms sehen, der in den sechziger Jahren errichtet wurde, als es die Plattenbausiedlung hier noch nicht gab.

Eva lebte ihr kleines, bescheidenes Glück und freute sich nach der Babypause auf ihre Arbeit an einer nagelneuen Schule, lernte nette Kollegen kennen und war voller Zuversicht, dass ein größeres Glück irgendwo auf sie wartete. Mathias wuchs zu einem fröhlichen Kind heran. Mit seinen blonden Haaren und einer winzigen Brille auf seiner Stupsnase wirkte er ein wenig sensibler und ängstlicher als andere Kinder. Er konnte sich stundenlang allein in seinem Zimmer beschäftigen, war Erbauer, Zerstörer oder Spielerfinder.

Einmal hatte er den gesamten Teppich mit Gras und kleinen Stöckchen ausgelegt, und überall krabbelten unzählige Weinbergschnecken herum. Mathias hatte Rennbahnen gebaut und wollte herausfinden, welche Schnecke die schnellste war. Wenn er vom Spielen heimkam, streckte er ihr oft an der Wohnungstür sein Ärmchen entgegen und blinzelte gespannt über den Brillenrand. Eva wusste, dass er in seiner kleinen, weichen Hand einen winzigen Strauß Gänseblümchen hielt. Stets achtete er darauf, dass sie die Blumen sofort in eine Vase mit Wasser stellte. Später in der Schule gehörte er zu den ruhigen, unauffälligen Schülern. Als Mathias nach seiner kaufmännischen Ausbildung vom Arbeitgeber nicht übernommen wurde, bekam er seine erste schwere Depression.

Eva erinnerte sich noch an jenen Tag, als ihr Sohn aus der WG in eine eigene Wohnung ziehen wollte. Die Depression hatte ihn so gelähmt, dass er unfähig war, die nötigen Dinge zu organisieren. Als sie am Umzugstag bei ihm erschien, saß er auf dem Fußboden und weinte. Damals war Mathias gerade zwanzig Jahre alt. Danach war er dann sehr lange im Krankenhaus, anschließend noch in einer Spezialklinik, hundert Kilometer entfernt von zu Hause.

„Ich hätte ihn öfter dort besuchen sollen“, dachte Eva, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Die Schuldgefühle sind mit den Jahren größer geworden. Aber wie sollte sie das alles alleine packen ohne Mann, ohne Auto? Dann der anstrengende Beruf, die Arbeit als Klassenlehrerin fraß die Zeit auf. Auch alle finanziellen Belastungen lagen immer allein auf ihren Schultern.

Frau König, die verantwortliche Psychotherapeutin der Station, hatte wirklich recht, wenn sie von einer Lebensleistung sprach. Dennoch würde Eva sich immer einen großen Teil Schuld geben, dass sie nicht früher erkannt hatte, welche tiefgreifenden Störungen Mathias im Laufe der Jahre entwickelte. Woher kamen seine Selbstzweifel, sein mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten? Als Mutter war sie immer anwesend, versuchte so gerecht wie möglich beide Kinder zu behandeln, wie sie es von ihren eigenen Eltern erfahren hatte. Aber Mathias wuchs mit einem Stiefvater auf, seinen leiblichen Vater lernte er erst im Grundschulalter kennen. Eva wollte unbedingt, dass Mathias auch seinen leiblichen Vater kennenlernt. Und nach Annas Geburt war die dann schon die Prinzessin in der Familie, ein hübsches Mädchen, die ihrem Vater zudem sehr ähnlich sah. Vielleicht waren die Weichen da schon gestellt.

Beim Familienfrühstück wurde schnell genörgelt, wenn Mathias das Messer zu lasch in der Hand hielt. Aber dem Töchterchen wurde vieles nachgesehen. Kleinigkeiten, belanglos. Nein, ein Kind betrachtet das feinfühliger, als man glaubt. Hört es oft die gleichen negativen Kritiken, dann prägt es die Person für ein ganzes Leben. Das Kind in dir bleibt.

Wenn Eva manchmal für Gäste kochte, hatte sie stets Befürchtungen, dass es ihnen nicht schmecken könnte. Sie wurde als Kind selten gelobt in der Küche. Und auch Mathias hat kein einziges Wort vergessen, das sein Stiefvater in herablassendem Ton über ihn äußerte.

Katjas Stimme schreckte Eva aus ihren Gedanken. Sie wollte ihre Sachen verstauen und fragte nach den allgemeinen Regeln auf Station und wie die Schwestern so seien. Dann quatschten die beiden Frauen noch eine ganze Weile über ihre Familien und Berufe, über Männer im Allgemeinen und im Besonderen und stellten zufrieden fest, dass die Chemie zwischen ihnen passte, um für ein paar Wochen hier gemeinsam auszuharren.

Die Nachtruhe verlief ohne Zwischenfälle, endete aber jäh mit einem unsanften Wecken durch die Nachtschwester gegen sechs Uhr morgens.

Eva hatte das Gefühl, gerade in ihrer besten Tiefschlafphase gewesen zu sein. Bleischwer richtete sie den Oberkörper auf und torkelte schlaftrunken zur Toilette. In ihrem Bauch spürte sie eine Mischung aus Aufregung, Lampenfieber und nicht greifbarer Angst. Wenn sie morgens gleich Termine hatte, war es am schlimmsten. Mehrmals musste sie aufs Klo und rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn über den Flur. Eva hasste ihre grundlose Nervosität. Noch mehr hasste sie es, dass ihr Verhalten von den anderen Patienten als Wichtigtuerei abgetan wurde. Niemand verstand sie und erkannte ihren Leidensdruck. Eva ging es gar nicht gut, als es hieß: Ab zur Bewegungstherapie in die Turnhalle.

An ihre erste Begegnung mit Frau Steinhöfel, der strengen Sporttherapeutin, erinnerte Eva sich nur ungern. Sie mussten paarweise durch die Halle marschieren, eine Person hielt die Augen geschlossen, die andere führte und erklärte Bewegungen zum Nachmachen. Eva bemühte sich sehr, Katjas Übungen mit geschlossenen Augen zu erfassen und nach zu turnen, was ihr wohl nicht so ganz gelang. Später in der Auswertung interpretierte Frau Steinhöfel es so: Sie würde alles selbst bestimmen wollen, könnte sich nicht unterordnen, bla, bla, bla. Eva war gekränkt, wollte sich rechtfertigen und am Ende weinte sie wie ein kleines Mädchen.

Nachher sagte Stefan zu ihr: „Du bist wenigstens nicht heulend rausgerannt.“

Ja, sie hatte es ausgehalten und reagierte nicht mehr mit Rückzug. Das Eis war aufgebrochen und in den nächsten Therapiestunden hörte Eva besser zu.

Als sie die Sporthalle verließen, ging Helen mit ihr zurück zum Haus: „Das machen sie mit den Neuen immer so, und wir Lehrer sind nicht besonders beliebt bei den Therapeuten. Wahrscheinlich reden wir mehr statt zuzuhören. Sag einfach nichts und warte ab.“

Helen war Grundschullehrerin und unterrichtete Sport und Mathematik. Sie besaß eine schlanke, durchtrainierte Figur, aber ihr fehlten ein wenig die weichen, weiblichen Formen. So wirkte sie auf Eva anfangs kühl und recht streng. Wenn man sie etwas näher kennenlernte, verlor sich dieser Eindruck und man konnte prima mit ihr auskommen.

Bald schon hatte Eva herausgefunden, welche Kurse sie gar nicht mochte. Sie hasste Ergotherapie-Handwerk. Schon als Kind war sie ungeschickt und überließ die praktischen Arbeiten lieber ihrer Zwillingsschwester Tina.

Und Eva erinnerte sich nur zu gut an den oft gehörten Satz ihrer Mutter: „Lass das mal die Tina machen.“

Das ließ sie dann auch, setzte sich draußen auf eine Bank im Hof und las ein Buch. Beim Handwerk konnte man sich ausprobieren, entweder Seidentücher bemalen, Tongefäße formen oder Körbe flechten. In der allerersten Handwerksstunde ging es Eva noch richtig schlecht, sie fühlte sich hilflos und unsicher und planlos begann sie rosa und lila Bögen auf ein Seidentuch zu pinseln. Je mehr Farben sie übereinander malte, desto dunkler wurde das Tuch und zum Schluss war es ein unansehnlicher, grauer Lappen geworden. Das Seidentuch ist mein derzeitiger Gemütszustand. Es musste so hässlich werden, beschloss sie einfach und warf es kurzerhand in den Mülleimer. Ja, sie hasste Handwerk.

Herr Paul, ein cooler Typ mit langen Haaren, leitete auch die Gestaltungstherapie. Eva mochte seine tiefe Stimme, die sie an einen deutschen Rocksänger erinnerte.

Einmal eröffnete Herr Paul die Sitzung mit folgender Aufgabe: „Zeichnen Sie bitte ein Bild über eine Situation, in der Sie einen großen Vertrauensverlust erlitten haben.“

Dann verteilte er weiße Blätter und schaute gespannt in die Runde.

Eva musste nicht lange nachdenken, nahm einen Stift und zeichnete los. Auch die anderen Frauen malten mit Buntstiften Menschen, Häuser oder einfach nur Strichmännchen. Im Raum war es so still, dass man die Geräusche der Stifte auf dem weißen Papier hören konnte. Nur Sebastian und Stefan starrten immer noch auf ihr leeres Blatt und hatten überhaupt keine Idee. Während Eva ein Babybettchen zeichnete, in der gerade ihre frisch geborene Tochter lag, kullerten Tränen über ihre Wangen und ihr Herz pochte plötzlich stärker. Anna wurde an einem Sommertag im Juni geboren, ganz ohne Komplikationen. Als sie in den Wehen lag, mähte draußen gerade jemand den Rasen und sie wünschte sich für einen Moment ein Mann zu sein, um diese Schmerzen nicht aushalten zu müssen. Als Anna dann in ihren Armen lag und Eva ihr süßes Gesichtchen mit den dunklen Haaren betrachtete, erkannte sie sofort die Ähnlichkeit mit Michael, Annas Vater. Abends besuchte Micha sie im Krankenhaus und brachte einen großen Strauß bunter Gartenblumen mit.

Damals war es noch nicht üblich, dass die Männer bei der Entbindung dabei waren. Auch besser so, fand Eva. Micha war so glücklich über die hübsche Tochter und seine braunen Augen strahlten über das ganze Gesicht. Er wischte sich den Schweiß von der Nase und sagte zu Eva: „Du siehst ja gar nicht erschöpft aus.“

Micha blieb nicht lange, und als er am nächsten Tag kam, hatte er wieder getrunken, wie so oft, wenn er allein war.

Plötzlich stieg sie wieder hoch diese schreckliche Angst, das beklemmende Gefühl, dass etwas Bedrohliches auf sie zukam. Nein, nein, dieses Gefühl gehörte hier nicht hin, nicht in dieses Zimmer, wo nur glückliche Mütter mit ihren Babys liegen sollten. Eva kämpfte mit den Tränen. Sie war besorgt um ihren kleinen Mathias.

Wenn die Kindergärtnerin merkt, dass Micha getrunken hat, wird er das Kind nicht mitnehmen dürfen. Eilig lief sie über den Flur der Station, um Michas Mutter anzurufen. Sie wird sich um den Kleinen kümmern, da war sie sich sicher.

Beim Wickeln des Babys hantierte Eva so nervös, dass sie die Puderdose mit der Desinfektionsflasche verwechselte. Anna schrie entsetzlich, aber die Hebamme beruhigte schnell Mutter und Kind.

Micha besuchte sie dann nicht mehr und trank jeden Tag, sodass ihr Bruder Ole auch Evas zweites Kind aus der Klinik abholen musste.

Die Stimme des Therapeuten riss sie aus ihren Gedanken: „Wer möchte anfangen?“

Eva meldete sich als Erste, weil ihre Nervosität immer anstieg, wenn sie erst zuletzt reden durfte. Als sie den anderen Patienten am großen Tisch ihre Zeichnung erklärte, klang ihre Stimme weinerlich und anschließend fühlte sie sich so erschöpft, dass sie keinem aus der Gruppe mehr richtig zuhören konnte.

 

Die Tage vergingen nun in einem gleichmäßigen Rhythmus. Alle hatten sich an den Klinikalltag gewöhnt und an die Menschen um sie herum. Die Wege, die sie täglich gemeinsam gingen, die Gebäude und der herrliche Park mit seinen hohen, alten Bäumen, alles wirkte schon ein wenig vertraut. Eva schaute aus dem Fenster ihres Zimmers im ersten Stock. Von hier konnte sie den gesamten Park überblicken. Zwischen den hohen, alten Tannen sah man das Ufer des angrenzenden Sees.

Inzwischen war es Dezember geworden, aber in diesem Jahr wurde es einfach nicht kalt. Ein feiner Herbstregen fiel auf die kahle, graue Landschaft. Eigentlich war Eva froh über diesen schneelosen Winter. Dann musste sie nicht so wehmütig an das bevorstehende Weihnachtsfest denken. Was hatte sie sonst schon in der Adventszeit alles erledigt, die Wohnung geputzt, Unmengen an Vorräten eingekauft und alle Räume dekoriert. Zum Glück waren die Weihnachtsgeschenke für die Kinder bereits besorgt. Anna würde sich um alles kümmern, hatte sie am Telefon versprochen. Fast jeden Abend rief sie an und klang immer sehr traurig, wenn sie sich nach Evas Befinden erkundigte.

Mathias hatte sie schon zwei Mal in der Klinik besucht und Blumen mitgebracht. Sie wollte seine Hand gar nicht mehr loslassen, als er sich von ihr verabschiedete.

„Mama, mach dir keine Sorgen wegen Weihnachten. Anna und ich kriegen das schon auf die Reihe.“

Wie gut sich das anfühlte, erwachsene Kinder zu haben.

Normalerweise, wenn die Station mit Patienten ausgelastet war, erfolgten die Behandlungen in zwei Gruppen. Jeweils eine Patientengruppe durfte am Wochenende nach Hause, die andere musste für den Samstagnachmittag eine Veranstaltung organisieren. Die Begeisterung der Patienten hielt sich in Grenzen, denn die sogenannte geschützte Zone des Klinikgeländes zu verlassen, löste doch gemischte Gefühle aus.

Den ersten Samstag fand Eva schrecklich. Mit der Straßenbahn fahren, Horror, ins Kino gehen, furchtbar. Zu allem Übel wurde sie im Foyer des Kinos noch von zwei Mädchen ihrer Schule gesehen. Nanu, da ist ja Frau Herzfeld! Wieso ist die denn hier? Die ist doch eigentlich krank. Genauso schauten die beiden Schülerinnen, grüßten höflich und verschwanden in der Menge.

Die Gruppe hatte sich für einen amerikanischen Animationsfilm entschieden. Im Kinosaal setzte Eva sich auf einen Randplatz in eine der letzten Reihen, schön dicht am Ausgang. Die Handlung des Films verfolgte sie nur oberflächlich, denn sie war viel zu sehr mit sich und ihren Ängsten beschäftigt.

Als sie endlich zurück in die Klinik fuhren, fiel die Anspannung von ihr ab. Sie schaute aus dem Fenster der Straßenbahn und betrachtete die weihnachtlich geschmückten Schaufenster, die vorbeieilenden Leute mit ihren großen Einkaufstüten und die schlendernden Paare, die ihre Wochenendgesichter spazieren führten. Eva hatte den Eindruck, durch eine riesige Glasscheibe das Leben zu betrachten, aber selbst nicht hineinzugehören.

„Vergiss nicht, wir haben heute Tischdienst“, hörte sie Katja sagen.

Eva stand immer noch gedankenversunken am Fenster und beobachtete einen kleinen bräunlichen Marienkäfer, der langsam an der Fensterscheibe hochkrabbelte. Sie hatte Katjas Kommen nicht bemerkt. Im Essenraum erstrahlte jetzt jeden Abend ein künstlicher Tannenbaum, den Helen und Anke festlich geschmückt hatten. Sein warmes Licht und die selbstgemachten Adventssträuße auf den Tischen verliehen dem Aufenthaltsraum eine gemütliche Atmosphäre. So kurz vor Weihnachten leerte sich die Station und auch vom Pflegepersonal waren bereits einige im Urlaub. Zu den Festtagen würden sie nur noch zu siebt sein. Stefans Schachpartner war gestern verabschiedet worden. Stolz zeigte er der Gruppe noch seinen prachtvollen Obstkorb, den er für seine Frau geflochten hatte. Bald würde auch Helen gehen.

„Juhu, übermorgen habe ich noch das Abschlussgespräch und dann kann ich endlich meine Katze aus der Pension holen“, freute sie sich und knapperte weiter an ihrem Salat.

„Was haltet ihr davon, wenn wir die beiden Tische zusammenstellen. Dann ist es doch gemütlicher, oder?“ Luisa strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und warf einen fragenden Blick in die Runde.

„Dann sollten wir aber erst die Schwestern um Erlaubnis bitten. Die Regeln sind hier ziemlich streng“, entgegnete Katja eifrig, „oder besser, wir fragen einfach den Pfleger. Der hat morgen Frühdienst und sieht das etwas lockerer. Ich mach das schon.“

Anschließend berieten sie noch über die wöchentliche Mittwochabendgestaltung und die meisten entschieden sich wieder für das Ratespiel. Dazu musste man vorher Begriffe auf kleine Zettel schreiben, die dann reihum gezogen wurden. Der jeweilige Spieler sollte das Wort dann pantomimisch erklären. Beim letzten Mal hatten sie Tränen gelacht. Je umständlicher man den Begriff vorspielte, desto mehr feierten alle ab.

Katja wackelte mit den Hüften und alle riefen durcheinander: „Bordsteinschwalbe, Edelnutte, Puffmutter!“

Luisa hampelte durch den Raum, in der Hoffnung, dass jemand ihre Märchenfigur erraten würde. Dana jaulte mit hoher Stimme: „Ich mach mir gleich in die Hosen“, bis Anke endlich „Rumpelstilzchen“ schrie.

Ausgerechnet der zurückhaltende Stefan zog das Wort Frauenheld und kniete mit verwirrtem Gesichtsausdruck und verdrehten Augen vor Eva nieder, während Dana erneut losgackerte: „Oh Gott, ich mach mir gleich in die Hosen.“

Bei allen Patienten stieg die Stimmungskurve am Abend steil an. Die Medikamente hatten ihren Job für diesen Tag erledigt und das Gehirn mit den nötigen Botenstoffen versorgt. Die gemütliche Couchecke mit dem Fernseher, der immer erst abends eingeschaltet wurde, war der gemeinsame Treffpunkt für alle.

Oft saßen sie dort, um einfach nur zu quatschen oder in einer Zeitschrift zu blättern. Manchmal wurden aber auch Dinge aus den Gruppengesprächen aufgegriffen und weiterverarbeitet. Wie unterschiedlich die Menschen sich mit ihren Problemen und Ängsten durch das Leben quälen. Die einen entwickeln Phobien, Zwänge oder Katastrophengedanken, andere haben übergroße Verlustängste oder können den Tod von Angehörigen überhaupt nicht verarbeiten. So verschiedenartig die Schicksale auch waren, eines verband sie alle. Ihr Leidensdruck war mit der Zeit so groß geworden, dass sie hier gemeinsam auf professionelle Hilfe hofften. Deshalb wurden sie in diesen sechs Wochen eine vertraute Gemeinschaft Gleichgesinnter, in der jeder bereit war, nicht nur sich wichtig zu nehmen, sondern auch dem anderen zuzuhören.

Anfangs glaubte Eva nicht an diese Gruppendynamik. „Wie soll mir das helfen, wenn ich mir täglich auch noch das Elend der anderen anhören soll“, dachte sie störrisch. Aber nun musste sie überrascht feststellen, dass es funktionierte und auch sie ihren Platz in der Gruppe gefunden hatte. Das Klinikpersonal war ein eingespieltes Team von Ärzten, Therapeuten, Schwestern und Pflegern. Bei aller Berufserfahrung und Routine herrschte hier ein respektvoller Umgang mit den Patienten und das ehrliche Engagement, die tagesaktuellen Anforderungen dieser Station bestens zu erfüllen. Eva nahm ihre Erkrankung an und war bereit zu lernen, wie man damit lebt, ohne schlechtes Gewissen, so lange der Arbeit fernzubleiben.

Das Leben ist kein ruhiger Fluss.

„Hey Leute, unsere ganze Gruppe darf am Wochenende nach Hause fahren.“ Luisa kam gerade mit den Formularen aus dem Schwesternzimmer und setzte sich zu den anderen an den Kaffeetisch.

Anke nahm sich ein zweites Stück Zitronenkuchen und sagte: „Super, endlich wieder im eigenen Bett schlafen. Auf jeden Fall nehme ich mein großes Kopfkissen von zu Hause mit.“

Eva gab ihr recht: „Stimmt, mir kommt es auch vor, als ob die Dinger jede Nacht ein bisschen mehr zusammenschrumpfen.“

Wie an den meisten Nachmittagen saßen sie nach dem Kaffee noch eine Weile zusammen. Ihre Gruppe bestand nur noch aus sieben, sehr unterschiedlichen Leuten. Von den Männern waren Sebastian und Stefan übriggeblieben. Die quirlige Dana und Sebastian waren die Jüngsten, Eva mit neunundvierzig Jahren die Älteste und das Mittelalter bildeten Katja, Anke und Luisa, alles berufstätige Mütter und Ehefrauen. Stefan war zwei Jahre jünger als Eva, lebte allein und hatte eine Tochter aus seiner geschiedenen Ehe. Jeder redete über das bevorstehende Wochenende, das für manche Patienten wirklich zur Belastungsprobe werden konnte, wenn man Angst vor dem Alleinsein hatte. Natürlich war Eva am Samstagmorgen wieder aufgeregt und ließ sich nach dem Frühstück gleich eine Pille geben, die sogenannte Bedarfsmedizin.

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