Taube in der Tanne

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Taube in der Tanne
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Eva Tanner

Taube in der Tanne

Kindheit im Nachkriegsdeutschland. Ein autobiografischer Roman.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG: DU BIST NICHT DABEI GEWESEN

BILDER UND GESCHICHTEN

DER BREITE UND DER SCHMALE WEG

SCHLOSS PICHELSDORF

EINE ROLLE GROSCHEN

DAS LEDERLAGER

TAUBE IN DER TANNE

ES GEHEN ÜBER DIE ERDE DER STRASSEN UND WEGE SO VIEL

NUR DIE DUMMEN MÜSSEN LESEN

Impressum neobooks

PROLOG: DU BIST NICHT DABEI GEWESEN

Ein bewölkter Sommertag im August neunzehnhundertachtundachtzig. Brieselang, ein kleiner Ort im Bezirk Potsdam in der DDR, nordwestlich von Berlin, nur etwa fünfzehn Kilometer von West-Berlin entfernt. Ein Tagesvisum ist unser Eintritt in dieses ferne Land, in dem sich auch unsere Vergangenheit versteckt.

Die kleine Gruppe klettert aus einem alten Saab und schleppt Picknickkörbe und Decken durch eine Schneise, die von der Nauener Chaussee aus durchs Unterholz führt.

"Ja,“ sagt meine Mutter, "hier war es". Sie marschiert vorneweg und schwingt ihren Plastikkorb mit den frischen Erdbeeren, den Servietten und dem Zucker. Sie ist klein, ein Meter sechzig, vierundsiebzig Jahre alt und für einen Ausflug in hüfthohes Unkraut elegant in schwarz-weiß gekleidet: Enger Pepitarock, schwarzer Sommerpullover und eine lange, weiße Perlenkette. Mit von der Partie sind Gerd, ihr Lebensgefährte, und mein Mann Peter, die das nötige Geschirr und Decken tragen.

"Wenn die Bäume damals schon so groß gewesen wären, hätten die Russen uns nie gefunden" sagt Mutter nun. "Aber damals sah man die Dachspitze von der Straße aus." Damals war das Jahr neunzehnhundertfünfundvierzig.

Am Ende der Schneise öffnet sich der Wald zu endlosen Feldern und einer Ruine. Ein Haus, das abgebrannt ist, dessen Außenwände und Schornstein aber noch stehen.

Für einen Moment stehen wir still und versuchen uns zu orientieren. Dann zeigt Mutter auf den Kellereingang, von außen zugänglich: "Da habe ich die letzte Kuh, die uns geblieben war, immer reingeführt, wenn ich sie von der Weide holte. Wir brauchten die Milch für dich und Hans-Peter. Aber die Russen haben sie doch gefunden. Sie sind ja jede Nacht gekommen. Und da oben, im ersten Stock, da haben Sparvins gewohnt, sie waren russische Zwangsarbeiter und haben uns bei der Ernte geholfen. Die Küche im Erdgeschoß haben wir uns geteilt. Und oben unter dem Dach haben wir alle geschlafen. Vom Kinderzimmerfenster hat Oma einmal ihren vollen Nachttopf über russische Soldaten ausgekippt.“

Wir breiten unsere Decken unter alten Birnenbäumen aus, dahinter vier riesige Pappeln. Diese Bäume hat mein Vater gepflanzt! Ich beiße fast euphorisch in eine noch unreife Birne, egal, es sind doch eigentlich meine Birnen, auch fast ein halbes Jahrhundert später!

Wo jetzt nur Unkraut wächst und eine verkohlte Ruine steht, waren früher ein Haus und eine große Scheune. In der Tür der Scheune hing meine Schaukel, und ich habe mit dem Gesicht in die Scheune hinein geschaukelt, weil drinnen der Bulle war. Ich behielt ihn immer ängstlich im Auge.

Mutter erinnert sich und erzählt. Auch Geschichten, die schon lange ein Teil meiner eigenen Geschichte geworden sind.

Sparvins hatten einen kleinen Sohn, den sie meiner Oma tagsüber in die Obhut gaben, während die anderen Erwachsenen auf dem Feld oder in Berlin arbeiteten.

Da, im Erdgeschoß, in der Küche saßen wir an einem großen Tisch zum Essen und Spielen. Waren die Wände nicht hellgrün? Wenn der Junge mal musste, verzog er sein Gesicht und schaukelte auf seinem Kindersitz hin und her. Oma wusste, was es bedeutete. Dann noch ein Weilchen warten, damit sie sicher sein konnte, dass das Kind in die Windeln gemacht hatte. Nun konnte sie loslegen. Schreien und Schimpfen und dann auf den blanken Po mit dem Kochlöffel hauen, bis das Schreien das ganze Haus durchdrang. Aber nur mein Bruder Hans-Peter und ich, Marie-Luise, damals noch Püppi, hörten es. Der Hof lag am Ende dieser Schneise mitten durch den Wald. Dahinter die Felder, die sich bis zum Niederneuendorfer Kanal zogen. Ein einsamer, kleiner Hof, der in seinen Mauern die Angst vor der Brandbombe, die durch das Dach ins Kinderzimmer gefallen war, beherbergte, das Flehen der Eltern, als die russischen Soldaten uns erschießen wollten. Herr Sparvin hatte sich vor die Gewehrläufe gestellt und um das Leben dieser Deutschen gebettelt: „Sie haben nie die Hand zum Hitlergruß gehoben!“

Und um den Hof, in den Wäldern, ein Teppich zarter, weiße Buschwindröschen, wie in jedem Frühjahr, auch im April neunzehnhundertfünfundvierzig.

Auf unseren Decken unter den Birnenbäumen wird es kühl. Die Erdbeeren sind aufgegessen, der Kaffee getrunken. Es wird Zeit wieder in Richtung Grenze zu fahren, vielleicht noch einen Abstecher in den Ort Brieselang zu machen.

Ich biege mit dem Saab vor einem Bahnübergang nach rechts Richtung Brieselang ab. Die Straße ist wie überall von Bäumen gesäumt, und ein trockener Graben verläuft parallel dazu. "Hier hab ich mich in den Graben geworfen!" schreit Mutter plötzlich.

Ich fahre langsamer. Und sie erzählt, wie sie Hans-Peter an der Hand hatte, mich im Kinderwagen vor sich her schob und am Ende der Straße eine Fahrzeugkolonne der Roten Armee kommen sah. Sie warf sich mit ihren Kindern und dem Kinderwagen in den Graben und hielt mir den Mund zu, bis die Fahrzeuge vorbeigefahren waren.

"Das muss für uns entsetzlich gewesen sein,“ sage ich, "ein richtiges Trauma.“

"Sei nicht albern! Du hast davon nichts gemerkt!"

"Wieso habe ich nichts gemerkt? Ich bin doch dabei gewesen!"

"Du warst ein Jahr alt, du erinnerst dich doch gar nicht. Du bist gar nicht dabei gewesen!"

Stille im Auto. Dann versuchen unsere Männer belanglose Konversation, die bald verstummt. Ich sehe das Gesicht meiner Mutter im Rückspiegel, die Bitterkeit hat tiefe Linien um ihren Mund hinterlassen. Sie fühlt sich in ihrem Leid nicht genügend gewürdigt und sie ist mir so nahe, dass ich ihre Gedanken in mir selbst wiederfinde.

Sie war damals neunundzwanzig Jahre alt gewesen, als Vater diesen Hof neunzehnhundertzweiundvierzig gekauft hatte, nachdem die ersten Bomben auf Lübeck und Köln gefallen waren. Sie hatte so nicht leben wollen - auf dem Land - mitten im Wald, nur den Bauern Reschke in einigen Kilometern Entfernung. Aber Vater meinte, sie wären hier vor den zu erwartenden Bomben auf Berlin sicher.

Im ersten Jahr gab es noch keinen Strom im Haus, weil der Hof zu abseits lag. Hans-Peter, ihr kleiner Sohn, war erst zwei Jahre alt. Nur Oma war da, um mit anzupacken. Und die hatte immer Angst vor den Kühen! Otto war die ganze Woche über in Berlin, im Geschäft. Sie hatten sich gerade mit einem Sanitätshaus selbständig gemacht. Er war selbst behindert, hatte von einer Kinderlähmung ein gelähmtes Bein zurückbehalten und das hieß, dass immer sie die Koffer schleppen musste und das Baby und das Holz, das sie im Wald sammelten, und die Kartoffeln, die sie von den Feldern holten. Als dann Sparvins kamen und die Stromleitungen ihren kleinen Hof erreichten, wurde es besser. Dann wurde ihre Tochter geboren und wieder war es eine schwere Geburt. Als die Fliegeralarme begannen fiel eine Brandbombe durchs Dach, direkt in eines der Kinderbetten, während sie im Keller saßen.

Niedlich war Püppi gewesen, mit großen Kulleraugen und blonden Haaren! "Ach, was haben Sie für eine Käthe Kruse Puppe im Wagen!“ hatte einmal eine fremde Frau gejubelt, als sie den langen Weg vom Hof nach Alt-Brieselang geschafft hatte, um Milch zu kaufen, nachdem die Russen die letzte Kuh vom Hof geholt hatten. Der Jubel der Frau hatte ihr gut getan, denn sie hatte nicht ohne Mühe ihrer kleinen Püppi aus Stoffresten ein Jäckchen genäht und ihr ein buntes Kopftuch umgebunden. Vor allen Dingen war Hans-Peter nun nicht mehr allein, seine Schwester konnte ihm eine Spielkameradin sein.

Im Wald lagen noch Waffen und Munition, und er musste immer über den "Schwarzen Weg" entlang nach Brieselang zur Schule. Einmal hatte sein Vater ihn blutig geschlagen, weil er Waffen ausgegraben hatte. Neunzehnhundertsechsundvierzig war es bitterkalt gewesen und sie hatte für ihn noch nicht einmal einen warmen Mantel gehabt. Und zur Einschulung keine Schultüte! Sie war erst wieder beruhigt als sie neunzehnhundertachtundvierzig nach Hennigsdorf zogen, wo sie an die S-Bahn angeschlossen waren und wo es eine Schule und Geschäfte gab.

Mutter hatte lange uns abgewandt aus dem Fenster geschaut, jetzt sah ich im Rückspiegel sie wieder nach vorn schauen und mich anlächeln. Es wird dunkel und wir nähern uns dem Grenzkontrollpunkt Staaken. Was aber ist meine eigene Geschichte? Meine inneren Bilder von Brieselang sind geprägt von denen meiner Mutter, von ihrer Angst und ihrer Not. Ich muss weiter nach eigenen Bildern suchen, die erst in Hennigsdorf, im Jahr neunzehnhundertachtundvierzig, klare Formen annehmen.

 

Mir fallen Max Liebermanns Worte ein „Was vom Leben übrig bleibt, sind Bilder und Geschichten“.

****

BILDER UND GESCHICHTEN

Vier Kinder, der Größe nach wie die Orgelpfeifen aufgereiht. Bewölkter Himmel, kahle Bäume, der Hühnerstall hat schon lange keine Farbe mehr gesehen.

Es ist Ostern, kurz nach dem Krieg, und die Eierkörbchen sind von herausragender Wichtigkeit. Die Kinder hatten ihre Körbchen bei der Suche gefüllt, und die Kleinste konnte es nicht fassen, dass in ihrem nur Platz für ein einziges Ei war. Das frühe Leid dieser Ungerechtigkeit hatte Tränen ausgelöst, bis der Vater rief „Püppi, nun lächel doch!“ So stehen auf dem nun schon vergilbten Foto nur artige und lächelnde Kinder.

Neben ihr Cousine Angelika, eine Hahnenkammrolle im blonden Haar und zu dem nun schon größeren Eierkörbchen ein liebevolles Lächeln für ihre kleine Cousine.

Dann Cousine Ilschen, das Körbchen wohlgefüllt, aber ihr Blick gilt nicht den Eiern, sondern ihrem Cousin Hans-Peter, der neben ihr steht, seinen Arm um ihre Schulter. Sie strahlen sich an und lassen Körbchen Körbchen sein.

Püppi, Hans-Peter und Ilschen in langen Hosen, die aus Wolldecken genäht sind und immer leicht nach Mottenkugeln riechen; sie werden durch Hosenträger gehalten. Püppi trägt dazu ein schickes Kosakenoberteil auch aus einer Wolldecke. Angelika im karierten Kleid und blank geputzten roten Schuhen, mit einem Riemchen über dem Fußspann.

Nach der Aufnahme bricht die Zwietracht aus! Püppi ist eifersüchtig auf Ilschen, die so einen großen Korb hat und nun auch noch von ihrem, Püppis, großen Bruder Hans-Peter so liebevoll in den Arm genommen wurde!

"Ilse - keiner will´se!" brüllt sie und stürzt in ihrer dicken Wolldeckenhose davon. Raus auf die Straße, hin zu Walthers Haus, einer Wochenendlaube. Den muss sie jetzt ärgern! "Walther, wenn er pupt, dann knallt er!" brüllt sie. "Geht er in den Keller pupt er immer schneller. Geht er auf den Boden schießt er helle Kanonen!"

****

DER BREITE UND DER SCHMALE WEG

Neunzehnhundertneunundvierzig. Hennigsdorf, ein kleiner Ort im Nordwesten von Berlin. Die AEG und ein Stahlwerk sind der Arbeitgeber für viele Einwohner. Aber die meisten fahren nach Berlin zum Geldverdienen. Einfamilienhäuser und zweigeschossige Mehrfamilienhäuser prägen das Straßenbild. Am Ende der Karl-Liebknecht-Straße stehen Hochspannungsmasten, die den Ort mit Strom versorgen. Die Sirenen der beiden Fabriken teilen den Tag in Arbeits- und Freizeit.

Durch die geschlossenen Klappläden dringt das Quietschen eines Handleiterwagens, entfernt sich langsam vom Haus. Das Kind hält die Augen geschlossen, wühlt sich tiefer ins Kissen. Weiß, wie Mutter jetzt den Wagen hinter sich herzieht, auf dem Weg zum Bahnhof. Durch die Siedlung, über den schwarzen Schotterweg, und dann trägt sie die S-Bahn nach Berlin. Für eine ganze Woche.

Es steht auf, zieht die Schublade mit Mutters Wäsche raus, drückt ihr Gesicht in die weichen Pullover - rot und gelb. Sie duften nach ihrer Mutter. Ihre schöne Mama - mit rabenschwarzen Locken, klein und zierlich und in weiten, schwingenden Röcken! "Püppi!" ruft Oma, "komm frühstücken!" Das Frühstück schmeckt nicht. Es gibt Mehlsuppe mit Zucker. Der Zucker reicht nur für Püppi und den großen Bruder Hänschen. Oma isst die Suppe ohne Zucker.

"Iß ordentlich, damit du nächstes Jahr zur Schule gehen kannst!" Das Essen schmeckt überhaupt nie. Immer sind Mehlklumpen im Spinat, der Rosenkohl in Mehlschwitze und dann die ewige Mehlsuppe. "Wenn wir das Mehl nicht hätten, wären wir im Krieg verhungert" erklärt Oma und schiebt den Teller vor Püppis Nase.

Püppis großer Traum ist die Schule. Ein ganzes Jahr noch, und die Zeit vergeht so langsam. Mamas Schultertasche hat lange Riemen. Püppi wickelt sie sich um die Schultern - wie ein richtiger Tornister sieht es aus. ‚Alle werden glauben, dass ich zur Schule gehe’ denkt sie und marschiert singend die Straße runter zu Marlies. "Schia, schia, schia scho! Schrippen jibt’t im HO!"

"Meine Oma pellt Knochen" hat Marlies Püppi neulich erklärt und diese so Ekliges über Marlies Eßgewohnheiten vermuten lassen. Pelle von Knochen konnte auch nicht besser sein als Mehlsuppe.

Marlies schwingt auf dem Gartentor hin und her. "Wollen wir spielen?" ruft sie. Püppi folgt ihr in den Garten. "Wir spielen Friseur" schlägt Marlies vor. "Ich schneide dir die Haare ab und du jibst mir’n Groschen dafür." Püppi betrachtet ihre langen, blonden Haare sorgfältig. "Nee, lieber nicht." "Du hast doch nur dünne Ziepen. Mutti sagt, man muss oft schneiden, und dann werden sie dicker." Püppi ist immer noch nicht überzeugt. Hinter ihnen, im Treppenhaus, schlägt eine Tür zu und Getrappel nähert sich schnell.

"Das ist bestimmt die Hanna" sagt Marlies. " Ihre Mutter ist eine Schlampe".

"Was ist eine Schlampe?" fragt Püppi.

"Na, wenn man mit Russen schläft is’ man ne Schlampe!"

"Meine Mama schläft mit mir, aber nicht mit Russen" erläutert Püppi die häusliche Lage.

Hanna kommt zu ihnen rüber. Sie hat ein verheultes Gesicht und wischt sich mit der Hand unter der Nase lang.

"Na, hat’se dich wieder verdroschen?" fragt Marlies hämisch. Hanna kann nur schlucken und schniefen. Marlies greift nach ihren Zöpfen. "Wir spielen Friseur und du jibst mir ’n Groschen, wenn ich dir die Haare schneide".

Und schwupps zieht sie eine Schere aus ihrer Kittelschürze und säbelt an Hannas Zöpfen rum. Aus dem Schniefen wird Gebrüll. Hanna und Marlies liegen kreischend auf dem Boden. Hanna mit nur noch anderthalb Zöpfen, der eine ausgefranst wie ein kaputtes Elektrokabel. "Meinen Groschen her!" brüllt Marlies der wieder ins Haus flüchtenden Hanna hinterher.

"Jetzt wird die wieder verdroschen. Aber det ist die ja jewohnt!" Sie klopft sich den Sand vom Kleid und lauscht angestrengt zum Treppenhaus hin. Hanna schlägt in der oberen Etage die Tür zu, und es dauert keine zwei Minuten, bis man ihre Mutter kreischen hört.

"Sie ist eine Schlampe" beendet Marlies das Friseurspiel.

****

In Püppis Garten in Hennigsdorf gibt es eine große, alte Scheune, voll gestopft mit spannendem Gerümpel und alten Möbeln. Auch Papas Selbstfahrer steht dort, wenn er ihn nicht braucht. Er ist aus Holz, wie ein Bett auf Rädern. Papa kann darin seine Beine ganz ausstrecken und ihn nur mit den Armen lenken und fahren. Mama hatte ihr erzählt, dass Papa als kleiner Junge an Kinderlähmung erkrankte, aber darunter konnte sich Püppi nichts vorstellen. Sie steigt in den Selbstfahrer und wickelt sich gemütlich in eine Decke. Papa kann nur schlecht laufen. Wenn er sich setzt, dann knackt immer etwas in seinem linken Bein, und beim Laufen stützt er sich auf einen Gehstock. Neulich Abend hatte sie heimlich beobachtet, wie er seinen Gehapparat auszog, und da sah sie, dass das linke Bein dünn und kurz war. Es hing schlaff unter seinem Nachthemd raus.

Auch Papa ist die ganze Woche zum arbeiten in Berlin, und wenn er am Wochenende nachhause kommt, küsst er seine Tochter und sagt "Na, wie geht’s meiner kleinen Püppi?" und sein Schnurrbart kitzelt sie auf der Wange. Für Papa ist sie Püppi, für die anderen meistens Luischen. Hans-Peter ist Mamas Prinz, ansonsten immer Hänschen oder Hans-Peter. Die Großen haben alles geregelt.

Mama hat so ihre Geheimnisse: Unter ihrem Nachthemd wölben sich oben zwei große Rundungen, und dazwischen ist so ein Spalt, der wie ein Gang aussieht. Wo der wohl hinführt, und ob die Rundungen die Pappeier sind, die sie zu Ostern bekommen hatten, mit Zuckereiern drin? Wenn sie sich an die Rundungen schmiegt, ist es aber schön weich. Leider lässt Mama sie nicht in die Öffnung des Nachthemdes gucken, um mehr zu erfahren. Auch wird Püppi nur sehr selten in den Arm genommen.

In dieser Scheunentür hängt eine Schaukel, und so lange der Hahn nicht frei herumläuft, ist sie ihr Lieblingsplatz. Kommt der Hahn und hat es mal wieder auf ihren Kopf abgesehen, heißt es ins Haus flüchten. Aber heute ist er im Hühnergehege mit dem gesamten Federvieh eingesperrt. Sie beäugt ihn widerwillig durch den Maschendraht - die weichen Kücken kann sie nun auch nicht streicheln. Steigt auf ihre Schaukel und denkt an das kuschelige Federkleid. „Das Jesuskind lag auch auf Stroh, so wie ihr“ erzählt sie ihnen. Die Schaukel schwingt höher und höher. „Und weil es immer lieb und artig war, wohnte es im Himmel, beim lieben Gott. Aber der Hahn natürlich nicht.“

Das Jesuskind ist in Püppis frühen Jahren häufig anzutreffen. Im Wohnzimmer hängt ein großes Bild über dem Sofa, da steht das Jesuskind - schon groß und stark und mit langen, braunen Locken - mitten im Kornfeld und hält einen gebogenen Stab in der Hand. Hinter ihm die untergehende Sonne, und da, wo die Wolken sind, ist der Himmel. Wenn Oma doch einmal Zucker in der Mehlsuppe hat, sagt sie "Himmlisch!"

Ihr Haus ist nie fertig gebaut worden, es fehlt noch die obere Etage. Über dem Erdgeschoß ist ein Flachdach mit Dachpappe. Dort regnet es öfter mal durch, und dann bilden sich große Wasserflecken an der Decke. Aber im Treppenhaus führt schon eine Treppe nach oben und hört direkt unter der Decke mit einem Absatz auf. Ein schöner Platz zum Spielen. Und weil im Erdgeschoß nur die Küche, das Wohnzimmer, Mama und Papas Schlafzimmer und das Bad sind, muss auch im Keller gewohnt werden.

Hier gibt es einen großen Raum, in dem Püppi, Oma, Hans-Peter und Dackel Strolchi schlafen. Strolchi hat eine Kiste mit Decken direkt am Ofen. Wenn niemand guckt, springt Strolchi in Püppis Bett. "Schmeiß das Vieh aus dem Bett!" schreit Oma dann. Tiere darf man also nur klammheimlich, hinter dem Rücken der Erwachsenen kuscheln und lieben. Im Bett, im Stroh, wo immer man ein warmes Plätzchen findet. Vor dem Schlafengehen wird gebetet: "Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm." Aber Püppi denkt dabei schon an ihre Flusen, die sie von der Wolldecke rupfen wird: die Flusen werden zu kleinen Bällchen oder Sträußen geformt. In der Dunkelheit wiegt das leise Rupfgeräusch sie in den Schlaf.

Über Omas Bett hängt ein Gemälde, so groß wie das Bett selbst. Es zeigt den schmalen und beschwerlichen Weg in den Himmel und die breite und bequeme Straße in die Hölle. Auf der rechten Seite windet sich der schmale Weg über Stock und Stein und endet an einem Tor, hinter dem sonnenbestrahlte Wolken die Pforte zum Himmel zeigen. Auf der linken Seite sieht man am Ende der breiten Straße ein Feuer lodern und darüber Menschen in großen Kübeln, die gekocht und von kleinen Teufeln mit Gabeln gestochen werden. Das Jesuskind ist nirgends zu sehen. Aber die Sache ist klar: Rechts müssen die Menschen mühsam entlang wandern, immer steil bergauf, gebeugt von Lasten auf den Schultern, bis sie Erlösung an der Himmelspforte finden. Die Straße auf der linken Seite ist bequem und breit und die Menschen tanzen und trinken, bis sie in der Hölle landen.

Im Keller gibt es auch noch eine Waschküche, in der in einem großen Zuber aus Zuckerrüben dunkler Sirup gekocht wird. Püppi hasst den Geruch, der dann durch den Keller zieht: moderige Erde und Schweinefutter. Sie hält den Atem an, wenn sie an der Waschküche vorbei ins Schlafzimmer läuft.

****

"Komm Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast" betet Papa inbrünstig hinter gefalteten Händen. Püppi blinzelt durch die Lider und sieht die gesenkten Köpfe von Mama, Papa, Oma und Hans-Peter. Es muss Sonntag sein, sonst wären Mama und Papa nicht da. Sie sitzen um den großen Tisch herum, die Petroleumlaterne wirft warmes Licht auf ihre Teller. Es ist wieder einmal Stromsperre.

Am Fenster steht ein dickbauchiges Weinfass. Durch seine geschwungenen Glasröhrchen blubbert Kürbiswein. Während der Woche zapft Oma sich immer ein Gläschen ab, damit sie gut schlafen kann. Papa weiß davon nichts. Hans-Peter bekommt auch ein Gläschen: „Mit neun Jahren bist du ja schon ein großer Junge.“ Püppi ist noch zu klein für so etwas. Aber auf die Kürbisse im Garten kratzt sie die Anfangsbuchstaben ihres Namens: ML. Marie-Luise kann sie noch nicht schreiben. ML wächst dann mit den Kürbissen, bis sie groß und dick sind und geerntet werden.

 

Während alle ihre Kohlsuppe löffeln und Papa vom Geschäft in Berlin erzählt, hofft Püppi, dass sie nun, am Wochenende, nicht im Keller schlafen muss, sondern bei Mama im Schlafzimmer. Manchmal holt Mama sie erst spät in der Nacht aus dem Keller und legt sie zwischen sich und Papa. Papa zieht dann immer ins Wohnzimmer, weil er so laut schnarcht. "Er sägt schon wieder dicke Bäume" sagt Mama, und so hat Püppi mit ihrer geliebten Mama das große Bett ganz allein.

In ein paar Tagen hat Marlies Geburtstag, und Mama hat Püppi als Geschenk eine kleine Tafel Schokolade und ein mit Schokolade überzogenes Lebkuchenherz mitgebracht. Sie soll beides bis zum Geburtstag aufbewahren. So liegt das süße Geschenk eingewickelt in Püppis Puppenwagen, neben ihrer Zelluloidpuppe Greta.

Sie riecht an der Puppe, zieht ihr eine Socke aus und nagt und lutscht an den Zehen. Der Puppenfuß ist schon tief verdellt. Wenn etwas gut riecht muss sie es unbedingt in den Mund nehmen. Neulich erst hat sie einen Löffel Sand geschluckt. "Du traust Dich nicht!" hatte Marlies gesagt. "Doch, ich trau mich!" entschied Püppi und gab dann nach einigem Überlegen dem weißen Sand den Vorzug gegenüber Schwarzem. Auch an den Blättern der Hainbuchenhecke am Zaun hat sie sich versucht: schmeckte wie Spinat ohne Mehlklumpen. "Ich bin schon satt" verkündete sie, als Oma zum Essen rief und ohne Zweifel wieder Spinat mit Klumpen gekocht hatte.

Die Schokolade liegt also neben der Zelluloidpuppe. Das erste Stück schmeckt nicht, Schokolade ist nicht so vertraut wie das Puppenbein, aber beim zweiten Happen ist es schon viel besser: klebrig und süß! Die Tage sind lang, Mama weit weg, und täglich bricht Püppi ein Stückchen Schokolade von der kleinen Tafel. Der Geburtstag kommt, und Püppi trägt nur das Lebkuchenherz zu Marlies. Die dreht es in ihren Händen. "Ist das alles?" sagt sie. "Natürlich", sagt Püppi und übt sich im schlechten Gewissen.

Nach der Feier trifft Püppi auf Hanna, die auf dem Gartentor hin und herschwingt. Marlies hatte sie nicht eingeladen. Püppi knufft Hanna ein bisschen. Die landet schräg auf dem Zaunpfosten und wird vom Gartentor eingeklemmt. Püppi schiebt das Tor noch ein wenig mehr Richtung Torpfosten und guckt dabei in Hannas Gesicht.

"Hör auf, du tust mir weh!" klagt Hanna. Es tut ihr weh? Wo sie doch immer so viel Dresche bekommt!? Püppi schaut sich grübelnd die eingeklemmte Hanna an und entschließt sich, nicht weiter zu drücken.

****

Der Winter kommt. Im Kellerschlafzimmer macht die Braunkohle im Ofen dicke Luft und diese legt sich auf die weißen Laken. Morgens ist das Waschen im Bad ein Gräuel. Wenn der Badeofen nicht geheizt ist, gibt es nur kaltes Wasser. Und das Anziehen erst: zuerst das Leibchen mit vielen, kleinen Knöpfen die Brust runter, hinten ein Klappladen, an den Püppi nur mühsam rankommt, wenn sie dringend mal auf die Toilette muss. Vom Leibchen hängen Strumpfhalter, an denen sie lange Wollstrümpfe mit Wäscheknöpfen befestigt. Die Knopflöcher in den Strümpfen hat Mama mit der Hand umsäumt. Selbst ihr großer Bruder trägt noch ein Knopfleibchen und schimpft immer weil es so kratzt!

Beide Kinder haben zu Weihnachten Wollfäustlinge bekommen und Hans-Peter seine ersten Schlittschuhe. Die Kufen werden an den Schuhsohlen festgeschraubt. Am Ende der Siedlung ist ein Weiher, gleich neben dem Friedhof. Püppi geht mit und schaut zu, wie Hans-Peter dort übt. Seine Knöchel kippen immer wieder um, weil er keine Stiefel, sondern nur feste Halbschuhe trägt. Damit er weich landet, hat er sich ein Sofakissen vor den Bauch und eines hinter den Po gebunden. Aber er schafft es und zieht schon seine Kreise.

Die Dunkelheit kommt, und es sind immer weniger Kinder auf dem Eis. Auch Hans-Peter ist irgendwann fort, und Püppi steht plötzlich ganz allein auf der Eisfläche. Vom Weiher führt ein Weg durch den Wald in die Siedlung, mitten durch die Dunkelheit. Sie könnte auch an der großen Eiche vorbei nach Hause gehen, wo eine Straßenlaterne steht. Aber es ist die "Russeneiche". Oma hat ihnen erzählt, dass dort ein Kind von einem russischen Soldaten ermordet wurde. Der Mond scheint auf die Eisfläche, und am Rande des Weihers ist tiefste Dunkelheit.

Steht dort nicht jemand hinter der Eiche?

Als die Russen damals auf ihren Hof in Brieselang kamen, haben sie die Kühe mitgenommen, und Mama musste sich jede Nacht vor ihnen verstecken. Püppi nahm sie manchmal mit: hinter den Bretterverschlag auf dem Heuboden oder in die kleine Kammer unter dem Dach. Es hieß, dass die Russen Kleinkindern nichts antun würden und so bot Püppi ihrer Mutter einen gewissen Schutz. Aber wenn sie nicht still war, gefährdete sie beide. Mutters Hand lag deshalb fest auf ihrem Mund.

Eines Tages gruben Papa und Herr Sparvin eine tiefe Grube hinter der Scheune. Die Sparvins waren eine russische Zwangsarbeiterfamilie, die auf ihrem Hof lebte. Die beiden Männer stützten die Grube mit Brettern an den Wänden ab und ließen Mutter, Oma, Hans-Peter und Püppi hineinsteigen. Hier sollten sie sich vor den Russen verstecken. Sie deckten Bretter über die Öffnung und häufte Erde darüber. Tief in der Erde. Püppi schrie Stunde um Stunde und ließ sich nicht beruhigen. Die Luft war knapp, kein Licht drang zu ihnen, wohl aber Püppis Schreien nach draußen. Dann endlich rief die Mutter durch das Ofenrohr, das der Lüftung diente: „Wir sind hier in unserem eigenen Grab, Otto! Wenn Püppi weiter schreit, finden sie uns doch gleich.“ So schaufelte der Vater sie wieder aus. Die Mutter reichte ihm die weinende Tochter als erste hoch und Hans-Peter, Oma und sie folgten hinterher.

Als es Nacht wurde bahnte sich das Licht der suchenden Scheinwerfer der Militärjeeps ihren Weg durch den Wald zu ihrem Haus. Im Volksempfänger in der Küche wurde Dvoraks "Humoreske" gespielt und der Klang vermischte sich mit den Geräuschen der Stiefel auf dem Hof, den Lauten der angstbesetzten fremden Sprache. Die russischen Soldaten stürmten in die Küche, trieben sie unter vorgehaltenen Gewehren aus dem Haus, stellten sie an die Hauswand und ließen den Motor laufen, damit man die Schüsse und die Schreie nicht hören würde. Hans-Peter hielt seinen Teddy im Arm und Mama trug Püppi.

Herr Sparvin kam aus dem Haus gelaufen und stellte sich vor die Gewehrläufe seiner Landsleute. Er bat um das Leben dieser Deutschen: "Sie sind keine Nazis und sie waren immer gut zu uns.“ So rettete er Püppis Familie.

Durch den Wald kommen Lichter. Aus Brieselang wird wieder Hennigsdorf. Man sucht Püppi: "Luischen, wo steckst du?" Oma aber droht: "Warte, bis du zuhause bist!" Die neuen Handschuhe sind auch weg. Püppi landet auf dem Küchentisch, von Oma festgehalten und mit dem Kochlöffel immer auf den blanken Po! "Nimm die Hand weg! Wirst du dich wohl nicht wehren!

****

Mama und Papa haben Regeln aufgestellt. So gehen Hans-Peter und Püppi immer abends Punkt acht Uhr schlafen.

"Aber ich bin vier Jahre älter!" protestiert Hans-Peter dann. "Der Puhtz kann ja schon mal schlafen gehen!"

Aber die goldene Regel wird nicht durchbrochen. Beide Kinder sollen gleich behandelt werden. Nur zu Silvester dürfen sie beide um Mitternacht wieder aufstehen, und jeder hält eine Wunderkerze aus dem Fenster.

Es gibt noch mehr Regeln: ein Knicks beim Begrüßen und Verabschieden und beim Gratulieren, wenn jemand Geburtstag hat, danken, wenn einem etwas geschenkt wird, und "entschuldige bitte" sagen, wenn die Lage ohnehin schon schlimm ist!

Hans-Peter ist bis mittags in der Schule, und Püppi geht allein ihren Angelegenheiten im Hühnerstall, auf der Schaukel und bei Marlies nach. Und sie beseitigt Hakenkreuze. "Du machst aus jedem Hakenkreuz ein Fenster" hatten ihr Mama und Papa gesagt. Mit

einem Stück Kreide zieht sie ihre Striche, manchmal wird ein Nikolaushaus daraus. Mit Oma geht sie zum Bahnhof, um dort Kohlen einzusammeln, die von den Zügen gefallen sind und die sie in einer Schubkarre nach Hause fahren. Blumenpflücken zählt auch zu ihren Aufgaben. Dabei macht sie auch vor Nachbars Gärten nicht halt. Bis sich einer beschwert und Mama ihre Tochter an der Hand zum Nachbarn zerrt: "Du entschuldigst dich jetzt sofort und sagst, dass du es nie wieder tun wirst!"

"Ich kann nicht, ich kann nicht!" jammert Püppi und fängt sich eine Ohrfeige ein.

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