Mission Zauberwald

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Mission Zauberwald
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Eva Gerth


Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Illustration © Kiba Seasons

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Für meine Töchter

Sophia und Hellena

Großes Dankeschön an meine

Schwester Edith

Verantwortlich für die Illustration

Kiba Seasons

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Dank

Illustrationen

Amanda

Die Onkas

Edwin

Die Onkaburg

Die Brotbäume

Nachtwache

Eine große Verwirrung

Das Zusammentreffen

Die Wachablösung

Die Lichtung

Unerwartete Hilfe

Die Jagd geht weiter

Zwei Missionen

Auf dem Weg zu den Klagehöhlen

Vor den Höhlen

Die Wahrheit

Der Marsch der Tiere

Begegnung in der Dunkelheit

In den Klagehöhlen

Eine Gasse für Wena

Hilfe für Edwin

Der Kampf um die Burg

Nach Hause

Amanda

Amanda ist zehn Jahre alt und wohnt mit ihren Eltern in Reckenfeld. Reckenfeld ist ein kleiner Ort, in dem eigentlich jeder jeden kennt. Amandas Eltern haben vor fünf Jahren ein Haus am Waldrand gekauft. Sie dachten, für Kinder sei es am schönsten, wenn sie viel draußen sein können, um ihre Welt zu entdecken. So ist es dann auch gekommen. Amanda liebt die Natur und die Tiere, sie geht sehr oft in den Wald, um dort Löwenzahn für ihr Kaninchen zu suchen.

„Mama, ich bin mit den Hausaufgaben fertig. Kann ich noch schnell ein wenig Löwenzahn aus dem Wald holen?“, ruft Amanda aus ihrem Zimmer.

„Ja, aber beeil dich ein bisschen, du weißt ja, wir wollen gleich noch einkaufen“, antwortet ihre Mutter aus dem Wohnzimmer, wo sie in ein Buch vertieft ist. „Und mach dir doch bitte Zöpfe, sonst sind deine schönen blonden Haare völlig zerzaust, wenn du wieder nach Hause kommst.“

„Ja, Mama!“

Amanda hat wunderschöne, blond gelockte Haare. Sie reichen ihr bis zum Rücken und brauchen daher viel Pflege. Auch sieht sie richtig niedlich aus mit den vielen Sommersprossen im Gesicht. Ihre Freundinnen sagen deshalb auch oft zu ihr: „Unser Schneewittchen, nur mit blondem Haar.“ Das findet Amanda natürlich total blöd, aber sie hat schon Ähnlichkeit mit Schneewittchen. Allerdings wirkt Amanda moderner. Mit ihrer Lieblingslatzhose kann nichts mithalten.

Diese ausgewaschene Jeanslatzhose mit ihrem karierten Hemd trägt sie auch jetzt. Ihre Mutter findet die Hose allerdings scheußlich, aber sie lässt Amanda, was Klamotten angeht, ziemlich freie Wahl, denn sie meint, jeder Mensch hat ja seinen eigenen Geschmack.

„Also, bis gleich. Ich glaub, ich nehme mir noch schnell ein Trinkpäckchen mit und dann nichts wie los. Tschüss, Mama!“

„Tschüss, Amanda, bis nachher.“

Und schon flitzt Amanda zur Tür hinaus in ihren heiß geliebten Wald. Ja, Amanda ist eigentlich ein ruhiges Kind und manchmal auch ziemlich gedankenverloren. So wie jetzt. Sie denkt über gar nichts nach und schlendert einfach so durch den Wald. Sie riecht die Luft, die so herrlich frisch ist, und hört den Vogelstimmen zu. Deshalb merkt sie auch nicht, wie sich der Wald auf einmal verändert. Amanda läuft einfach immer weiter geradeaus. Sie kann so in ihren Gedanken stundenlang einfach durch den Wald laufen.

Doch plötzlich merkt sie etwas, nämlich, dass sie gar nichts mehr hört. Sie hört keine Vögel mehr und auch die Farben des Waldes haben sich verändert, sie sind viel intensiver geworden. Die Blätter der Bäume sind viel grüner und auch der Weg hat sich verändert. Er ist weicher geworden. Die Pflanzen, die rechts und links neben dem Weg stehen, sind farbenfroher geworden. Die Blumen duften so stark, dass Amanda erst mal stehen bleiben muss, um den Geruch einzuatmen, denn so etwas gut Riechendes hat sie noch nie gerochen.

„Was ist das für ein toller Geruch? Aber wo bin ich?“, fragt sich Amanda. „Das ist doch nicht der Wald, in dem ich gerade noch gewesen bin. Wie bin ich hierhergekommen?“

Da sieht sie auf dem Waldboden jede Menge schöner Steine, die so schön sind, dass sie es kaum glauben kann. Dort vorne an dem Wegrand liegt ein besonders schöner Stein, der leuchtet sogar. Jeder Stein hat eine andere Form, kaum sichtbar, aber doch sieht der eine Stein mehr oval aus, der andere mehr rund und noch andere sehen eher wie kleine Herzen aus.

‚Den nehme ich mit‘, denkt Amanda und will den Stein gerade aufheben.

Doch plötzlich hört sie eine leise Stimme: „Danke, dass du gerade mich ausgesucht hast. Das finde ich total super.“

Was war das denn? Kam das etwa von diesem Stein? Erschrocken sieht Amanda den kleinen Stein an. Der Stein, den Amanda gerade in ihrer Hand hält, hat ein wenig die Form von einem Ei.

„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, kommt es von dem kleinen Stein.

Jetzt kann Amanda auch einen kleinen Mund und winzige Augen, die sie freundlich anstrahlen, auf dem Stein erkennen. „Hab ich aber. Kannst du denn etwa sprechen?“, fragt Amanda etwas überrascht.

„Ja, alles hier im Wald kann sprechen“, antwortet der Stein mit seiner etwas dunklen, aber sehr melodischen Stimme darauf.

„Wie, alles kann hier sprechen? Wie denn das?“, will Amanda nun wissen.

„Hier in unserem Wald kann jedes Lebewesen sprechen, ob es ein Baum, eine Blume, ein Fisch oder ein Stein ist. Wenn man die richtige Begabung dazu hat, kann man uns verstehen. Aber die hat noch lange nicht jeder. Es verirren sich ja auch äußerst selten Menschenkinder in unseren Wald“, endet der Stein etwas traurig. „Ich glaube, das ist schon sehr lange her, als ich zuletzt Menschenkinder gesehen habe.“

„Aber wieso bin ich denn hier und wie bin ich nur hierhergekommen?“, will Amanda wissen.

„Ja, das ist so eine Sache“, sagt der Stein und fragt: „Wieso hast du eigentlich ausgerechnet mich von den ganzen Steinen ausgewählt?“

„Nun, du hast am meisten geglitzert“, erwidert Amanda schüchtern.

„Dann stimmt es also doch, dass nur ich für dich der richtige Beschützerstein bin.“ Der kleine Stein leuchtet noch mehr.

„Wieso Beschützerstein?“

„Na, das ist so: Nur ein ganz bestimmter Stein passt zu einem Menschenkind. Und dieser Stein muss dann ja wohl ich sein und ich habe dann die Aufgabe, dich zu beschützen“, erklärt der Stein.

„Aber wieso solltest du mich beschützen müssen? Ich wollte nur etwas Löwenzahn für mein Kaninchen holen und auf einmal war ich hier und habe dich auf dem Boden leuchten gesehen“, sagt Amanda bestürzt.

 

Auf einmal hören sie ein leises Flattern auf sich zukommen.

„Das muss eine Feenlibelle sein“, flüstert der Glitzerstein.

„Eine was?“ Amanda ist sich nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hat.

„Na, eine Libelle, die eigentlich eine Fee ist. Die fliegen nur noch in dieser Gegend herum“, erklärt der Stein genervt. ‚Das Mädchen weiß ja gar nichts!‘, denkt sich der Stein. „Denn in den anderen Teilen des Waldes ist es zu gefährlich für sie geworden, da leben nämlich die Onkas.“

„Die was leben wo?“, fragt Amanda, die jetzt gar nichts mehr versteht. Und sie bekommt auch darauf keine Antwort, weil sich genau in diesem Moment die Libelle auf den Stein setzt.

„Hallo, Stein, wie ich sehe, hast du jetzt deine Aufgabe bekommen, wurde ja auch mal Zeit“, fiept die Feenlibelle mit ihrer Glöckchenstimme. „Deine schlechte Laune war ja nicht mehr auszuhalten.“ Mit ihren kleinen Händchen fuchtelt sie vor den Augen des Steins hin und her.

„Wieso schlechte Laune?“, entgegnet der Stein beleidigt.

Amanda lauscht voller Staunen einige Zeit dem Wortwechsel zwischen den beiden Fabelwesen. Sie sieht sich die kleine Feenlibelle sehr genau an, denn so ein winziges Wesen hat Amanda noch nie gesehen. Die Libelle hat eigentlich nur Flügel, die wie die einer Libelle aussehen. Der Rest sieht genauso aus, wie man sich Feen so vorstellt, einfach wunderschön mit langen goldenen Haaren und einem wunderschönen glänzenden Kleid. An ihren Füßen trägt sie glitzernde Schuhe, die mit Schleifen verziert sind. Diese schimmern im Sonnenlicht wie rote Diamanten.

„Jetzt streitet euch doch nicht“, versucht Amanda zu schlichten, „ich würde lieber von euch ein paar Fragen beantwortet bekommen.“

„Ich heiße übrigens Lissy“, trillert die Libelle Amanda zu und flattert zu ihrem Gesicht hoch.

„Äh, ich heiße Amanda“, sagt diese und fängt an zu schielen, weil die Fee kurz auf ihrer Nase landet, dann aber wieder schnell zum Stein zurückflattert. „Und wie heißt du?“, will Amanda vom Stein wissen.

„Ich habe keinen Namen“, erwidert der etwas traurig.

„Aber das geht doch nicht, jeder hat doch einen Namen.“ Amanda ist verdutzt und überlegt. Nach kurzer Zeit sagt sie: „Nun, dann gebe ich dir eben einen Namen. Schließlich bist du ja auch mein persönlicher Beschützerstein.“ Amanda kneift die Augen beim Nachdenken zu. „Mal überlegen … Dein Name ist … mhm … ähm, ich hab’s! Ich nenne dich Glitzy, weil du am schönsten von allen Steinen geglitzert hast.“ Amanda strahlt über beide Ohren. „Wie gefällt dir dein Name?“, fragt sie erwartungsvoll.

„Hört sich super an!“ Auch der Stein grinst über beide Ohren. Wenn man es so sagen kann. Denn Steine haben ja eigentlich keine Ohren. Aber es scheint, dass sein Glitzern ein bisschen strahlender geworden ist.

„Also gut, ab jetzt heißt du Glitzy.“ Amanda klatscht vor Freude in ihre Hände.

„Wisst ihr sch …“, beginnt die Libelle. Doch sie verstummt abrupt, als sie durch ein lautes Stampfen unterbrochen wird.

„Schnell weg von hier!“, sagt Glitzy aufgeregt. „Das können nur die Onkas sein.“

„Wer sind denn die Onkas? Und warum müssen wir uns verstecken?“, möchte Amanda wissen und dreht sich im Kreis, um zu schauen, woher das Stampfen kommt.

„Dafür haben wir jetzt keine Zeit“, fiept Lissy ganz aufgeregt.

„Aber wo sollen wir denn hin?“ Amanda sieht sich suchend auf der Lichtung um.

„Lasst uns hier hinter dem Gestrüpp verstecken. Und du, Lissy, fliegst am besten wieder zu deiner Familie, bevor sie dich erwischen und in ihre Höhle zu den anderen sperren“, flüstert Glitzy Lissy zu.

„Okay, dann macht es mal gut. Passt auf euch auf. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.“ Damit verabschiedet sich Lissy, winkt mit ihrer kleinen Hand zum Gruß und schießt dann wie der Blitz zwischen den Bäumen davon.

„Ja, vielleicht bis bald“, flüstert jetzt auch Amanda verwirrt zur Antwort. Sie weiß nun gar nichts mehr. Mit dem Stein in ihrer Hand kriecht sie in das nahe gelegene Gebüsch.

Die Onkas

„Sei ganz still“, flüstert Glitzy Amanda zu. „Ich werde dich jetzt beschützen.“ Amanda starrt gebannt aus ihrem Versteck heraus.

Plötzlich treten die merkwürdigsten Gestalten, die Amanda je gesehen hat, aus dem Wald auf die Lichtung. Im blassen Sonnenlicht kann sie zwei kleine, dicke, grüne Wesen erkennen. Die Gestalten nähern sich nur langsam, denn sie sind recht dick. Amanda glaubt kaum, dass sie jemals Wesen gesehen hat, die so große Nasen und Ohren hatten.

„Was sind das denn für welche?“, fragt Amanda im Flüsterton.

„Das sind Onkas. Ganz üble Gesellen, sag ich dir. Aber jetzt keinen Laut mehr. Die dürfen uns nicht finden.“ Und der Stein verstummt.

Einer der Onkas, der größere von beiden, hält auf einmal seine zuckende Nase in die Luft. „Riechst du das auch, Öhnnes?“, grunzt der größere Onka.

„Nee, was denn, Jonka?“, fragt sein dicker Kumpel Öhnnes.

„Na, Menschenduft. Ich rieche es ganz genau. Kommt von da vorn. Wir gucken mal nach.“ Und damit trottet er in die Richtung, wo sich Amanda und Glitzy versteckt haben.

„Das wär ja ne fette Beute für unseren König“, sagt der große Jonka.

„Ich riech immer noch nix.“

„Vielleicht ist ja deine Nase verstopft“, meckert der große Onka.

„Dass ich nich lach. Dann leidest du an Geruchsverirrung“, meint der dicke Öhnnes und zeigt seinem Kumpel einen Vogel.

„Ich lege jetzt einen Geruchszauber über dich, Amanda, damit die Onkas dich nicht mehr riechen können. Aber sei trotzdem ganz still, damit sie uns nicht hören, obwohl ihre Nasen gefährlicher sind als ihre Ohren“, tuschelt der Stein.

„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“ Amanda blickt den Stein ratlos an.

„Ich erkläre dir das alles später, wenn die Onkas uns nicht vorher finden. Also, sei jetzt bitte still“, zischelt der Stein mit Nachdruck.

Der größere der beiden Onkas nähert sich immer mehr dem Gebüsch, in dem Amanda und Glitzy den Atem anhalten, damit sie sich nicht verraten. Vor lauter Angst schließt Amanda die Augen. Nun hört sie nur wenige Schritte von ihrem Versteck trockenes Holz zerbrechen.


Der Onka bleibt plötzlich abrupt stehen. „Komisch, jetzt brat mir doch einer nen Storch. Ich hätte meine Nase verwetten können, dass hier gerade eben noch Menschenduft war. Komisch, jetzt riech ich keinen Menschen mehr. Das gibt’s doch nicht. Auf meine Nase kann ich mich immer verlassen.“ Jonka schaut sich verwirrt auf der Lichtung um.

„Aber heute wohl nich“, feixt sein Kumpel. „Komm, lass uns nach Haus geh’n. Wir hab’n noch einen weiten Weg vor uns und es wird bestimmt bald dunkel.“

„Hier wird’s doch nie richtig dunkel.“ Der große Onka verdreht seine Augen.

„Ja, für uns wohl nich, aber für die andern doch.“

„Sach nur, du kriegst Schiss.“ Jonka dreht sich belustigt zu seinem dicken Freund Öhnnes um. „Wir sind doch wohl die Herrscher des Waldes und kein andrer.“

„Da haste ja recht, denn lass uns mal geh’n.“

Und so trotten die beiden Onkas mit lautem Stampfen in die andere Richtung über die Lichtung und verschwinden wieder im Wald.

Amanda atmet laut auf: „Gott sei Dank, endlich sind sie wieder weg.“

„Ja, zum Glück, es wäre gar nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie dich erwischt hätten.“

„Wieso mich? Was waren das denn überhaupt für hässliche Gestalten?“, will Amanda wissen. „Und wie bin ich hierhergekommen und wie komme ich wieder heraus? Übrigens muss ich auch bald nach Hause, meine Mutter wartet bestimmt schon auf mich. Wir wollten doch zusammen einkaufen“, erklärt Amanda mit leicht trauriger Stimme.

„Also gut, ich werde dir alles, was ich über die Onkas weiß, erzählen. Sie sind jetzt die Herrscher unseres Waldes. Früher wurde der Wald von der Feenkönigin, dem weißen Nashorn und dem Onkakönig zusammen regiert. Da war der Wald viel, viel schöner“, schwärmt der Stein. „Überall leuchteten die Blumen viel farbenfroher und die Blätter der Bäume waren viel grüner und man konnte sie sogar manchmal singen hören. Hörst du jetzt irgendjemanden singen?“

„Nein.“ Amanda lauscht angestrengt, aber sie hört rein gar nichts.

„Siehst du, das kommt alles von den Onkas. Sie sind böse. Sie nehmen alle gefangen, die für sie nicht gut riechen, und das sind fast alle. Deshalb verstecken sich auch alle Feen vor den Onkas, sie haben nämlich schon jede Menge Feen gefangen genommen und keine dieser Feen hat man jemals wiedergesehen.“

„Das ist ja schrecklich. Wie konnte denn das passieren, dass die Onkas an die Macht kamen?“ Amanda hält sich erschrocken die Hände vor den Mund.

„Nun, sie waren nicht immer so böse, musst du wissen. Früher waren die Onkas für die Waldbewohner einmal hilfreich. Wie du sicher gesehen hast, haben die Onkas riesige Nasen. Sie konnten Gefahren schon meilenweit früher riechen als alle anderen Waldbewohner und haben uns dann alle gewarnt. Früher haben wir uns immer auf die Onkas verlassen können. Mit ihren Nachtsichtaugen war es genauso. Wenn im Wald bei Nacht etwas Gefährliches herumschlich, haben die Onkas es gesehen und uns gewarnt, aber das ist nun leider alles vorbei.“ Der Stein blickt Amanda traurig an. „Irgendwann einmal ist es dann passiert. Die Onkas hatten auf einmal einen König. Keiner weiß, woher er kommt und wie er aussieht. Er ist halt ihr neuer König und seitdem hat sich hier alles zum Schlechten geändert. Er wurde immer machtgieriger und gemeiner. Die Onkas sind nun nicht mehr unsere Freunde. Nein, sie sind unsere Feinde geworden, fast über Nacht. Wenn sie nicht so groß und so stark wären … ja dann, dann würde ich …“ Glitzy springt in Amandas Hand ganz aufgeregt auf und ab, als wolle er kämpfen.

„Wieso kannst du springen? Ich dachte, Steine können sich nicht bewegen?“

„Wenn wir einen Menschen gefunden haben, der zu uns passt, können wir Steine reden, aber wir können uns auch in der Hand dieses Menschen bewegen, frag mich aber bitte nicht, wie das funktioniert, es ist eben so. Ach ja, wo war ich gerade stehen geblieben?“

„Aber so groß sind sie doch gar nicht und so stark sehen sie auch nicht aus.“

„Ja, für dich vielleicht nicht, aber für die Feen, die damals das Land so liebevoll regiert haben, schon.“

„Ja, das sehe ich ein. Und jetzt sind die Feen in Gefahr?“ Amanda muss an die winzige Lissy denken. Sie war wirklich zu klein, um gegen die Onkas zu kämpfen.

„Ja, die Onkas schnappen sich die Feen und sperren sie in ihre Höhle. Da kommt keiner mehr heraus.“

„Und was machen die dann mit den armen Feen?“, will Amanda vom Stein wissen.

„Keine Ahnung. Es konnte ja nie eine Fee von dort fliehen.“

„Was wollt ihr Waldbewohner denn dagegen unternehmen?“

„Wir können gar nichts unternehmen“, antwortet Glitzy verbittert. „Es gibt aber eine Weissagung, die besagt, dass irgendwann der Richtige kommt und uns alle wieder befreien wird. Aber wer das sein wird, weiß ich leider auch nicht.“ Hätte Glitzy Schultern, er hätte ratlos mit ihnen gezuckt. „Du musst wissen, ich liege ja tagein, tagaus hier auf meinem Platz. Da bekommt man nicht sehr viel mit.“

Wie sie so auf Glitzy herabblickt, fällt Amanda mit einem Mal wieder ein, dass sie ja mit ihrer Mutter einkaufen wollte. ‚Oh Gott, sie wartet bestimmt schon auf mich‘, denkt sie. „Mama wird sich sicherlich schon große Sorgen machen. Du, Glitzy, kannst du mir sagen, wie ich hierhergekommen bin und wie ich wieder nach Hause komme? Meine Mama macht sich sicherlich schon ganz große Sorgen.“

„Ich habe einmal gehört, dass nur ganz bestimmte Menschenkinder es schaffen, unseren Wald zu betreten. Diese Kinder lieben die Natur und haben noch nie ein Tier getötet. Außerdem müssen sie ganz viel Fantasie besitzen, aber das Wichtigste ist, sie dürfen keine Angst vor großen Aufgaben haben und außerdem müssen sie auch noch was weiß ich noch alles haben.“ Glitzy betrachtet Amanda durchdringend. „So jemand musst du dann wohl sein.“

„Ja, scheint so. Ich habe noch nie ein Tier getötet und die Natur liebe ich auch, aber alles andere, ich weiß ja nicht“, entgegnet Amanda. „Und wie komme ich jetzt wieder nach Hause?“

„Das weiß ich leider auch nicht, aber wir können mal die weise Eidechse Susan fragen. Die weiß einfach alles. Das habe ich jedenfalls gehört“, fügt Glitzy schnell noch hinzu.

 

„Wir müssen uns beeilen, ich bin schon viel zu lange von zu Hause fort. Meine Mama wartet bestimmt schon auf mich.“

„Nein, das glaube ich nicht, es ist nämlich so, wenn Menschenkinder sich hierher verirren, bleibt außerhalb des Waldes die Zeit für sie stehen. Also, wenn du wieder nach Hause kommst, ist es dort genauso spät wie vorher, bevor du unseren Wald betreten hast. So habe ich es jedenfalls gehört“, berichtet der Stein in einem sehr weisen Tonfall.

„Unglaublich, so etwas gibt es doch gar nicht, oder vielleicht doch? Das sagst du doch nur, damit ich mir keine Sorgen mache und noch etwas länger hier bei dir im Wald bleibe.“

„Nein, ich habe es auf jeden Fall so gehört, du kannst mir ruhig glauben, sonst kannst du auch gerne noch die Eidechse fragen, vielleicht glaubst du ihr mehr“, entgegnet Glitzy traurig.

„So habe ich es nicht gemeint, sei doch bitte nicht traurig. Es ist für mich eben unvorstellbar, dass es so etwas überhaupt gibt. Lass uns nicht streiten, es tut mir leid, okay?“

„Ja.“

„Dann lass uns die Eidechse suchen. Weißt du denn, wo sie lebt?“, will Amanda wissen.

„Nun, so genau auch wieder nicht. Aber ich habe einen Freund, der weit herumkommt. Der weiß das bestimmt.“

„Und wer ist dein Freund?“

„Mein Freund heißt Bino und ist ein kleiner Buschfink. Leider ist er immer etwas schwierig zu finden“, meint Glitzy ganz verlegen.

„Was glaubst du denn, wo er sich jetzt gerade aufhält?“, fragt Amanda in der Hoffnung, dass Glitzy weiß, wo er heute ist.

„Leider weiß ich das nicht. Er hat aber ein Supergehör. Wenn du eine schöne Melodie singen oder trällern kannst, hört er uns vielleicht und kommt zu uns geflogen.“

„Was soll ich denn trällern oder singen?“

„Irgendein schönes Lied, welches Bino noch nicht kennt.“

„Okay, dann lass mich mal überlegen. Vielleicht ein schönes Menschenlied, das kennt er bestimmt noch nicht.“

Amanda grübelt und grübelt, aber so richtig will ihr kein schönes Lied einfallen. ‚Ich bin doch nicht Mozart‘, denkt sie sich und verzweifelt zusehends. ‚Was, wenn mir kein Lied einfällt, Bino nicht kommt und wir die Eidechse nicht finden? Vielleicht komme ich dann niemals mehr nach Hause‘, denkt Amanda verzweifelt. ‚Nicht so kompliziert denken, es wird sich schon finden, sagt Mama doch immer, wenn ich nicht weiterweiß.‘

„Wie gerne wäre ich jetzt wieder zu Hause in meinem Wald. Dann hätte ich die Tasche voller Löwenzahn und könnte einfach so nach Hause gehen. Aber nein, ich spreche mit einem Stein und soll eine Eidechse nach dem Heimweg fragen. Das kann doch nur ein Traum sein!“ Doch auf einmal hat sie ein Lied im Kopf und beginnt auch gleich laut zu singen: „Kleiner, bunter Schmetterling, flieg nur übers Feld geschwind. Wiege dich sacht im Frühlingswind, lass dich nur nicht fangen, lass dich nur nicht fangen.“

„Das ist aber ein schönes Lied“, sagt Glitzy und glitzert noch kräftiger als zuvor.

„Ja, das finde ich auch. Das Lied haben wir in der Schule gelernt“, erwidert Amanda und lächelt zurück. „Na, und wo bleibt jetzt dein Freund?“

Schon können sie ein Zirpen und ein leichtes Flattern aus der Ferne immer näher kommend hören.

„Wer hat denn das schöne melodische Lied gesungen? So etwas Schönes habe ich ja schon lange nicht mehr in unserem Wald gehört“, tönt ein leises Stimmchen. Ein kleiner Vogel landet auf einem der Äste im Gebüsch.

‚Ja‘, denkt Amanda, ‚der sieht wie ein Buschfink aus. Und er tänzelt genauso aufgeregt auf der Stelle.‘

„Das hat Amanda für dich gesungen, damit du zu uns kommst“, erklärt Glitzy Bino.

„Hallo, ich bin Bino, der Buschfink“, stellt sich der Vogel mit einer leichten Verneigung vor, wie es in Adelskreisen so üblich ist.

Auch Amanda verneigt sich ungeübt. „Ich heiße Amanda aus Reckenfeld. Glitzy meint, du kannst mir sagen, wie ich wieder nach Hause komme.“

„Wer ist Glitzy?“ Der Buschfink hüpft einmal im Kreis und schaut Amanda fragend an.

„Na, ich halt. Sie hat mir meinen Namen gegeben“, strahlt Glitzy.

„Oh, dann bist du ein Menschenkind?“ Der Buschfink begutachtet Amanda eindringlich.

„Ja, aber was hat das mit dem Weg nach Hause zu tun?“

„Eigentlich gar nichts. Aber um unseren Wald retten zu können, brauchen die Waldbewohner ein Menschenkind.“ Bino hüpft ganz aufgeregt auf seinem Ast auf und ab. „Frag mich bitte nicht, wie das klappen kann. Das kann dir eigentlich nur das weiße Nashorn sagen.“

„Aber ich möchte gar nicht zum weißen Nashorn, sondern zur Eidechse. Sie soll mir sagen können, wie ich wieder nach Hause komme“, erklärt Amanda aufgelöst dem Buschfink.

„Also willst du uns nicht von den bösen Onkas befreien?“, fragt der kleine Bino traurig und fängt an zu schluchzen.

„Sie will doch nur nach Hause, was hat das mit den bösen Onkas zu tun?“, meldet sich nun Glitzy zu Wort.

„Das ist eine etwas längere Geschichte, aber wenn du uns nicht helfen willst, auch gut. Irgendwann kommt bestimmt das richtige Kind, um uns zu befreien.“ Trotzig hebt Bino sein kleines Vogelköpfchen und schaut Amanda in die Augen. „Nichtsdestotrotz helfe ich dir, die Eidechse Susan zu finden, weil du für mich gesungen hast. Das hat schon sehr lange niemand mehr getan“, resigniert der Vogel. „Ich weiß nicht genau, wo die Eidechse wohnt, aber ich kenne den pinkfarbenen Steinpilz, der weiß es gewiss. Ich habe gehört, dass Susan des Öfteren zum Steinpilz geht, um sich mit ihm zu unterhalten, die beiden verstehen sich prima. Darum sollten wir zuerst einmal zum Pilz gehen beziehungsweise fliegen. Okidoki?“

„Okidoki!“, rufen Glitzy und Amanda wie aus einem Mund.

„Nicht so laut, habt ihr denn nicht die Onkas hier herumspionieren gesehen?“

„Doch, doch, aber die sind schon wieder weg. Ich habe Amanda mit einem Geruchszauber beschützt.“

„Super, na, dann mal los.“

Und so machen sich die drei unterschiedlichen Gefährten auf den Weg, um den pinkfarbenen Steinpilz zu suchen.

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