Die Suche nach den gestohlenen Ponys

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BEGEGNUNGEN IM REITSTALL

Als Helenes Vater sich auf den Weg zu ihrem Haus macht, um die Handwerker hereinzulassen, hat Helene auch schon ihre Reithose und T-Shirt angezogen, die sie sich am gestrigen Abend noch schnell eingepackt hat, und will sich auf den Weg zum Reitstall machen. Da ruft ihre Mutter aus der Küche: „Nimm dir noch einen Apfel mit.“ Bevor Helene dann die Wohnung verlässt, schnappt sie sich noch schnell einen Apfel vom Küchentisch und winkt ihrer Mutter kurz zu.

Draußen vor der Tür nimmt sie den Geruch von Stroh und Heu in sich auf und atmet diesen tief ein: „Riecht echt gut die Luft“, stößt sie selig aus. Es riecht nach sorglosen Momenten, nach völliger Losgelöstheit und Glück, wie sie es nur auf dem Rücken eines Pferdes empfindet.

Trotzdem ist ihr ein bisschen mulmig zu Mute, denn sie denkt an Nicole, die sie schon lange nicht mehr gesehen hat. Ob sie wohl wieder mit ihr spricht?

Aber sie wusste ja noch nicht einmal selbst, ob sie ein Wort herausbekommen würde. Die Begegnung mit Nicole gestern Abend war schon komisch.

Dann sieht sie das große Fachwerkgebäude mit den roten Dachziegeln, in dem sich die Pferdeställe des Ponyhofs befinden. Daneben steht die große Reithalle. Beide Gebäude sind von saftigen Wiesen umgeben.

Der Reitstall ist sauber und bietet viel Platz zur Versorgung der Ponys.

Als Helene den Stall betritt, schauen die Ponys sie neugierig an.

In der Boxengasse steht eine große Karre mit Mist und daneben Nicole mit ihrer Mutter: „Guten Morgen, Helene“, grüßt Antje. „Dann wollen wir mal sehen, welches Pony zu dir passt.“

„Meinst du wirklich, dass ein Pony mich aussucht und nicht ich?“

„Klar, du wirst es gleich sehen.“

Die beiden gehen nun die gesamte Gasse entlang bis zur letzten Box, während Nicole weiter den Stall von Horsti ausmistet. Sie fühlt sich in der Gegenwart von Helene unwohl und hat keine Lust, mit ihr zu sprechen. Sie freut sich schon darauf, Horsti nachher zu satteln und an diesem schönen Morgen durch den Wald zum kleinen See zu reiten. Ja, dieser Gedanke bringt sie zum Lächeln und Helene ist so gut wie vergessen.

„So, dann wollen wir mal sehen“, meint Antje.

Helene ist gespannt auf das, was wohl passieren wird.

Die beiden gehen von Box zu Box und Helene schaut in jede hinein. In der ersten Box ist ein kleines braunes Pony mit zotteliger Mähne, es schaut kurz hoch, kümmert sich aber sofort wieder um sein frisches Heu.

Auch das zweite und dritte Pony zeigen kein großes Interesse an dem neuen Mädchen im Stall. „Das sieht aber süß aus“, sagt Helene begeistert, als sie einen Blick in die vierte Box wirft. Dort steht ein Pony mit glänzend schwarzem Fell und einem kleinen weißen Fleck in Form eines Tropfens auf seiner Stirn. „Mhm“, Antje schüttelt leicht den Kopf. „Sieht aber auch so aus, als wärst du nicht sein richtiger Partner.“

Als auch das fünfte und sechste Pony keine große Begeisterung für Helene zeigen, fängt sie so langsam an zu zweifeln, ob es überhaupt ein Pony für sie gibt.

In der nächsten Box steht ein weißes Pony mit dem Namen Blacky. Helene bleibt auch hier wieder stehen.

Sie denkt sich noch: ‚Warum heißt ein weißes Pony Blacky? Wie einfallsreich.‘ Das Pony schaut sie mit seinen großen dunkelbraunen Augen an. Noch während sie über den Namen nachdenkt, kommt sein Kopf immer näher und es fängt an, leise zu wiehern.

„Siehst du, ich glaube, da hat ein Pony dich gefunden. Darf ich vorstellen, Blacky, das ist Helene, Helene, das ist Blacky.“

„Ganz nett sieht er ja aus, aber das schwarze finde ich eigentlich hübscher.“

„Gib Blacky erst einmal eine Chance, denn es geht nicht immer um das Äußerliche.“

„Na gut, was soll ich nun machen?“, fragt Helene und schaut sich im Stall um.

„Zuerst mal putzen, satteln und dann ausreiten.“

„Du meinst, ich darf gleich ausreiten?“ Helene schaut erst Antje und dann Blacky an.

„Na klar, du kannst doch reiten, oder?“, fragt Antje und muss schmunzeln, als sie Helenes überraschten Blick sieht.

„Klar kann ich reiten.“

„Dann nichts wie an die Arbeit. Ich bin hier soweit fertig und werde jetzt mit deiner Mama eine leckere Tasse Kaffee trinken. Wenn du Fragen hast, wo der Sattel, Trense und Putzkasten stehen, fragst du einfach Nicole. Nicht wahr, Nicole?“, ruft Antje ihrer Tochter zu, die inzwischen fröhlich pfeifend Horsti putzt. „Ich kann mich doch darauf verlassen, dass du Helene unterstützt?“, hakt sie fragend nach.

„Ja, geht in Ordnung“, antwortet Nicole ein wenig genervt, denn eigentlich wollte sie sich so schnell wie möglich verdrücken, was jetzt ja wohl etwas verzögert wird.

„Dann viel Spaß euch beiden und bis später“, verabschiedet sich Antje.

Jetzt ist das eingetreten, was beide Mädchen insgeheim gefürchtet haben. Beide allein in einem Raum. Nach ein paar Minuten, die für beide unendlich erscheinen und in denen sich die Mädchen noch erfolgreich ignoriert haben, fragt Helene: „Wo habt ihr Putzzeug und Trensen?“

Nicole zögert zunächst mit einer Antwort. ‚Wenn ich sie weiter ignoriere, ist das einfach zu kindisch‘, denkt sie sich und antwortet: „Komm mit, ich zeig es dir.“

„Euer Reiterhof sieht wirklich super toll aus“, schwärmt Helene. „Ja, findest du?“

„Klar, aber so was von.“

Schweigend gehen die beiden nun die Stallgasse entlang zu einer grünen Tür am Ende des Ganges. „Hier ist unsere Sattelkammer“, sagt Nicole und öffnet ohne hinzusehen die Tür.

Noch im selben Augenblick kommt ein prächtig bunter Hahn aus der Kammer und flattert just in Helenes Arme. Völlig überrascht kreischt sie los und stürzt ganz verdutzt auf ihren Allerwertesten, als der Hahn auch schon lauthals und völlig erschrocken weiter zu Blackys Box flattert.

Nicole sieht zu Helene herunter und kann sich vor Lachen fast nicht mehr halten. Helene weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Ihr Po schmerzt ein wenig, aber die Situation ist so komisch, dass sie in Nicoles Lachen einfällt und schon krümmen sich beide vor Lachen. Nicole greift nach Helenes Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen, und schon steht sie wieder auf ihren Beinen.

„Wa…, Wa…, was war denn das?“, fragt Helene immer noch etwas lachend.

„Ach das, das war nur Zacharias, unser Hahn.“

„Ach so, nur euer Hahn und was macht der in der Sattelkammer?“

„Wahrscheinlich hat ihn gestern Abend dort jemand vergessen. Das kann schon mal passieren, denn Zacharias flattert ständig hier rum. So, hier ist Putzzeug und ein Halfter für Blacky.“ Und damit drückt Nicole Helene eine kleine schwarze Holzkiste in die Hände.

‚Eigentlich war es ganz einfach mit Helene zu sprechen. Es ist vielleicht doch ganz nett mit einer Freundin die Ferien zu verbringen und nicht alleine‘, denkt Nicole sich so und meint zu Helene: „Mhm, ich wollte dich nur mal fragen, ob du vielleicht gleich Lust hast, mit mir einen kleinen Ausritt zum See zu machen?“

Helene schaut zuerst etwas verdutzt, doch dann strahlt sie Nicole an und antwortet: „Super, ich beeile mich auch.“

Und schon flitzt Helene mit Putzkasten und Halfter die Stallgasse zurück zu Blackys Box.

Wie es aussieht, haben die beiden ihren eigentlichen Streit bei Seite gelegt und der Bann zwischen ihnen scheint gebrochen. Vielleicht wird daraus ja wieder eine Freundschaft.

Als Helene nun zu Blacky in die Box geht, schreit sie erschrocken auf.

„Was ist passiert?“, ruft Nicole aufgeregt und kommt schon angerannt.

„Hier ist das komische Huhn von gerade und rate mal, wo es sitzt.“

Zacharias thront auf dem Kopf des Ponys und gackert leise vor sich hin.

„Ach, das habe ich gerade ganz vergessen dir zu sagen: Zacharias ist der beste Freund von Blacky. Wann immer es geht, sind sie zusammen. Kann sein, dass er gleich mit zum Ausreiten kommt“, beruhigt Nicole Helene und muss wie immer beim Anblick des ungleichen Paares lächeln. „Das ist doch keine Problem für dich oder?“

„Für mich nicht, denn das Huhn, ich meine der Hahn, sitzt genau auf Blackys Kopf“, staunt Helene.

„Ja, da sitzt er fast immer, wenn er sich nicht gerade um seine Hühner kümmert“, erklärt Nicole mit vor der Brust verschränkten Armen.

„Na dann will ich mich mal beeilen, sonst haben wir gleich Mittag“, meint Helene und keine zehn Minuten später sitzen beide in ihren Sätteln und traben los. Natürlich ist Zacharias mit von der Partie, er thront majestätisch auf Blackys Kopf und schaut sich in seinem Königreich um.

„Heute wird es bestimmt richtig heiß“, fängt Helene ein Gespräch an.

„Ja, das glaube ich auch“, erwidert Nicole und dreht sich im Sattel zu Helene um. „Wenn wir am Wasser sind, können wir ja mit den Ponys etwas hineingehen. Was hältst du davon?“

„Super, Wasser, Pferde, Sommer und Sonnenschein, was will man mehr“, trällert Helene so vor sich hin.

„Ja, was will man mehr. Es gibt nichts schöneres als im Sommer gemütlich durch die Felder zu reiten. Denn das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde“, zitiert Nicole freudestrahlend.

„Und das Glück eines Hahnes liegt auf dem Kopf eines Ponys“, lacht Helene und zeigt auf Zacharias. Nicole fällt in ihr Lachen ein.

Dann reiten beide das letzte Stück bis zum kleinen Badesee schweigend nebeneinander, denn sie genießen es einfach so im Einklang mit den Ponys auf dem Waldweg unterwegs zu sein, nicht zu vergessen mit Zacharias natürlich.

Als sie aus dem Wald auf die kleine Lichtung kommen, erblicken sie den See. Er schimmert golden im Sonnenlicht und es scheint, als ob tausend Spiegel die Oberfläche bedecken. Beide Mädchen zügeln gleichzeitig ihre Ponys und betrachten sprachlos den See. Nicole bricht als erste das Schweigen: „Komm, wir galoppieren ins Wasser rein.“

 

„Au ja, los geht’s!“


Und schon galoppieren beide los. Zacharias muss ganz schön die Balance halten, um bei diesem Tempo nicht noch vom Pferd zu fallen.

„JUHU“, rufen die Mädchen, als sie ins Wasser reiten.

„Was für ein Spaß“, ruft Helene.

„Ja, einfach super. Die kleine Abkühlung, tut den Pferden richtig gut. Siehst du, sie haben großen Spaß im Wasser“, antwortet Nicole. Beide Ponys schütteln freudig ihren Kopf und wiehern glücklich.

Nach dem kurzen Sprint ins Wasser, traben sie nun gemütlich weiter am Ufer des kleinen Sees entlang.

Die Sonne steht schon recht senkrecht, als sich alle fünf auf den Heimweg zum Reiterhof machen.

„Mein Magen fängt schon an zu knurren“, meint Nicole, die sich insgeheim etwas ärgert, ihren Müsliriegel vergessen zu haben.

„Ja, ich könnte jetzt ein ganzes Schwein vertragen“, meint Helene, als ein leichtes Knurren zu hören ist.

„Ups, muss wohl mein Magen sein“, bemerkt Nicole verlegen. „Ich hoffe Mama hat ein ordentliches Mittagessen gemacht.“

Die beiden Mädchen genießen die Sonne auf ihrem Rückweg zum Stall und ahnen noch nicht, was sie auf dem Reiterhof erwarten wird.

DAS WARTEN

Gideon sitzt nun schon gefühlt den halben Tag auf dem großen Stein vor den Stallboxen. Seinen Ökobeutel1 mit den Badesachen hat er neben sich platziert. Vor lauter Langeweile schmeißt er kleine Steinchen in den Sand.

„Sind sie immer noch nicht da?“, fragt Antje, als sie in der Ferne Hufgeklapper und Lachen hört.

„Na endlich. Wird ja auch mal Zeit, dass Nicole kommt. Schließlich waren wir heute Morgen verabredet“, brummt Gideon.

Als Helene und Nicole den Ponyhof erreichen, sagt Nicole: „Ach du jemine, ich habe Gideon ganz vergessen.“

„Gideon? Wer ist denn das?“, fragt Helene neugierig.

„Das ist mein Freund“, schwärmt Nicole und winkt dem wartenden Gideon zu. „Sieht er nicht umwerfend aus?“

„Ja“, kann Helene nur antworten, denn es hat ihr die Sprache verschlagen. Im Stillen denkt sie sich, dass Gideon wirklich super aussieht. In seiner verwaschenen Jeans und dem T-Shirt, welches seinen dunklen Teint noch mehr betont. Seine grün-grauen Augen leuchten im Sonnenlicht, sodass er blinzeln muss. Und auch das sieht einfach süß aus.

Kaum haben sie ihre Pferde zum Stehen gebracht, flattert Zacharias mit einem lauten Kikeriki von Blackys Kopf in Richtung Hühnerstall. Währenddessen springt Nicole von Horsti ab und läuft zu Gideon, um ihm einen dicken Kuss auf die Wange zu geben.

„Hallo Gideon, ich hoffe, du hast nicht zu lange gewartet. Es tut mir leid, aber wir haben komplett die Zeit vergessen. Sei bitte nicht sauer.“

Man sieht es Nicole richtig an, wie sehr es ihr Leid tut, aber der Vormittag mit Helene hat ihr viel Spaß gemacht. Sie ist schon lange nicht mehr mit einer Freundin ausgeritten. Erst jetzt ist ihr klar geworden, wie sie es vermisst hat.

„Schon okay“, antwortet Gideon und sieht Helene dabei in die Augen. ‚Ich habe noch nie so blau leuchtende Augen gesehen‘, denkt er sich im Stillen. Dann wendet er sich an Nicole und fragt sie: „Wen hast du denn da mitgebracht?“

„Das ist Helene. Sie wohnt für ein paar Wochen bei uns in der Ferienwohnung, denn ihr Haus ist, während sie mit ihrer Familie im Urlaub war, abgesoffen.“

„Wie geht denn das?“

„Na ja“, fängt jetzt Helene, die inzwischen auch von ihrem Pony abgestiegen ist, an zu erzählen, „ein Wasserrohrbruch.“ Dabei wird ihr bewusst, dass sich ihr Gesicht ganz heiß anfühlt. ‚Hoffentlich laufe ich nicht rot an‘, denkt sie.

„Ich verstehe“, antwortet Gideon.

„Nach so einem Vormittag müsst ihr doch einen Bärenhunger haben“, unterbricht Antje das Gespräch der drei.

„Klar“, rufen Nicole und Helene wie aus einem Mund.

„Also dann, lasst uns reingehen. In der Küche steht ein Riesentopf Spaghetti auf dem Herd und natürlich könnt ihr zwei auch gerne mitessen“, wendet sich Antje an Gideon und Helene. „Und Helene, von deinen Eltern soll ich dir ausrichten, dass sie erst heute Abend wiederkommen. Sie sind bei euch zu Hause und versuchen zu retten, was noch zu retten ist. Die Handwerker haben wohl mehr zu tun, als sie anfangs gedacht haben.“

„Ist ja nicht schlimm, dann bleibt Helene einfach bei uns“, meint Nicole und legt dabei ihren Arm um Helenes Schulter.

„Okay, super. Ich habe nämlich auch verdammt großen Hunger und Spaghetti hören sich richtig gut an.“ Sie strahlt Nicole an und meint zu ihr gewandt: „Übrigens, der Ausritt war richtig super. Das können wir gerne noch mal wiederholen, wenn du möchtest.“

„Klar, ich fand es auch klasse. Von mir aus jeder Zeit.“

„So, jetzt aber ab zu den Spaghetti, sonst stehen wir noch Ostern hier“, meint Antje.

„Wir bringen noch schnell die Ponys in die Boxen, dann kommen wir nach“, sagt Nicole. Worauf die beiden Mädchen mit ihren Ponys und Gideon im Schlepptau sich in Richtung Stall aufmachen.

Keine zehn Minuten später sind die drei auf den Weg in die Küche, um ihren Hunger zu stillen.

Die Küche der Familie Schulze-Becker ist so, wie man sich eine Bauernküche vorstellt. Sie ist geräumig und hat große Fenster zum Hof hin, sodass man einen schönen Blick auf den Pferdestall und die Wiesen hat. Die große Essecke, an deren Tisch mindestens zehn Leute Platz haben, strahlt mit den Kerzen und Kissen eine schöne Gemütlichkeit aus. Der Herd, auf dem gerade die Spaghetti kochen, steht in der Mitte des Raumes. An den Wänden stehen schön restaurierte alte Küchenschränke. Und auf der Anrichte befinden sich verschiedene getrocknete Kräuter aus dem eigenen Garten, die Antje zum Würzen verwendet.

Als die vier mit großem Appetit ihre Nudeln essen, kommt Nicoles Vater herein: „Mhm, hier riecht es aber gut.“

„Du kommst gerade rechtzeitig. Noch ist etwas von den Nudeln übrig.“ Antje lächelt ihrem Mann zu und zeigt auf Nicole, Helene und Gideon, die gierig die Spaghetti in ihre Münder schaufeln.

„Da bin ich aber froh.“ Julius grinst und setzt sich mit an den Tisch.

„Ja, Herr Schulze-Becker, es schmeckt wirklich ausgezeichnet“, bemerkt Gideon mit vollem Mund. Was sich gleich rächt, denn es ist ihm dabei eine Nudel aus dem Mund geflutscht. Peinlich berührt wendet er sich wieder seinem Teller zu. Während alle nun stillschweigend ihre Spaghetti essen, klingelt plötzlich das Telefon.

Erschrocken über das laute Schrillen blicken alle von ihren Tellern auf, so nach dem Motto, wer stört uns bei dem leckeren Essen. Als sich niemand rührt, seufzt Antje und meint: „Dann gehe ich mal zum Telefon.“ Nach einem kurzen beschämten Blick wenden sich alle anderen wieder ihrem Essen zu.

Nach ein paar Minuten kommt Antje aus dem Wohnzimmer zurück. „Das war Ede. Er ist noch zwei Wochen krankgeschrieben. Seine Sommergrippe scheint wohl doch etwas hartnäckiger zu sein, als er gedacht hat.“

Ede heißt eigentlich Eduard Kleinstall, aber alle nennen ihn nur Ede. Seit über zehn Jahren arbeitet er jetzt schon bei den Schulze-Beckers. Er ist sechzig Jahre alt und schon in Rente. Da er noch topfit ist, ärgert es ihn besonders, dass sich seine weiß-grauen Haare langsam verabschieden. Ihm macht die Arbeit auf dem Reiterhof Spaß, vor allem wenn die Ferienkinder wieder da sind. Dann ist endlich wieder Action angesagt und so kann er seine kleine Rente auch etwas aufbessern. Nicht weit vom Ponyhof entfernt hat er eine kleine Doppelhaushälfte. Ede gilt sozusagen als das Mädchen für alles und ist die gute Seele des Reiterhofes.

„Gerade jetzt, wo wir so viel zu tun haben und heute Nachmittag die ersten Ferienkinder zum Reitunterricht kommen“, entgegnet Julius sichtlich genervt.

„Ach, wir schaffen das schon irgendwie. Notfalls muss Martin mit Hand anlegen und die Ställe ausmisten“, meint Antje und legt ihre Hand beruhigend auf Julius Schulter.

Martin Meier ist der Reitlehrer für die kleinsten Kinder hier auf dem Reiterhof. Martin gibt den Unterricht allerdings nur während der Ferien, denn er studiert seit einigen Jahren Tiermedizin an der Uni Münster. Dadurch hat er nicht mehr so viel Zeit, was er echt schade findet. Er liebt den Umgang mit den Kindern und den Ponys. Die Kinder, die schon häufiger in den Ferien auf dem Reiterhof waren, freuen sich immer wieder auf seine abwechslungsreichen Reitstunden.

Martin ist 24 Jahre alt, hat braunes gewelltes Haar und ein sportliches Aussehen. Sein Mund wirkt, als würde er immer ein wenig lächeln. Ja, er ist eine wahre Frohnatur, was sich positiv auf Kind und Pony auswirkt. Antje, Julius und auch Nicole haben ihn gleich vom ersten Tag an ins Herz geschlossen.

Martin ist seit ungefähr drei Jahren bei den Schulze-Beckers und kennt jedes Pony. Wenn neue Reitschüler kommen, spricht er erst mal in aller Ruhe mit den Kindern, um ihren Charakter kennenzulernen. Dann entscheidet er, für wen welches Pony am besten geeignet ist. Und was soll man sagen, er hat immer die richtige Wahl getroffen. Das ist wohl auch ein Grund, weshalb die meisten Kinder jedes Jahr wiederkommen.

„Es sind ja gerade Ferien, da würde ich Ihnen gerne helfen“, bietet Helene an. „Die Arbeit im Stall und mit den Ponys macht mir Spaß. Und was kann einem Besseres passieren, als auf einem Reiterhof Ferien machen zu dürfen“, bekräftigt sie ihr Angebot.

„Ich könnte ebenfalls mithelfen“, sagt nun auch Gideon.

Antjes Blick fällt erst auf Helene und wandert dann zu Gideon. „Das würdet ihr wirklich machen?“ Antje schaut die beiden ganz gerührt an.

Wie aus einem Mund antworten die beiden: „Klaro!“ und müssen dann lauthals über ihre Zwillingsantwort lachen.

Julius Laune scheint sich wieder zu bessern: „Das wäre wirklich eine große Hilfe für uns. Als Gegenleistung können wir euch aber nur anbieten, dass ihr mit den Ponys ausreiten dürft.“

„Wir legen gleich los. Sagen sie uns, was wir machen sollen“, möchte Gideon nun voller Elan wissen.

„Ihr könnt gerne nach der Reitstunde helfen, die Ponys abzusatteln und den kleinen Kindern zeigen, wie die Ponys gestriegelt und wie die Boxen saubergemacht werden. Das hat sonst immer Ede gemacht.“

„Geht in Ordnung, Frau Schulze-Becker“, meint Helene.

Nachdem alles geklärt ist und alle vollkommen satt sind, fragt Antje ihre Tochter, ob sie ihr helfen könnte. Der Tierarzt würde bald kommen, um die trächtige Stute Cindy zu untersuchen. Jetzt so kurz vor der Geburt hatten sie Cindy in einer größeren Box am Ende des Stalls untergebracht, wo es nicht so hektisch zugeht. „Ich könnte deine Hilfe gut gebrauchen. Du weißt doch, wie nervös Cindy immer ist, wenn der Tierarzt kommt. Und gerade jetzt, wo sie doch bald ein Fohlen erwartet. In deiner Nähe ist sie immer ganz entspannt.“

„Ich bin dabei“, antwortet Nicole. „Allerdings muss ich erst noch Horsti versorgen.“

„Geh du ruhig mit, ich kümmere mich schon um Horsti“, erklärt Helene Nicole.

„Ist das auch wirklich okay für dich?“

„Na klar, ich habe doch Zeit und außerdem macht es mir echt Spaß.“

„Ich kann dir dabei helfen“, bietet sich Gideon an.

„Schön. Wenn du Zeit hast …“ ‚Jetzt bloß nicht rot werden‘, denkt sich Helene und freut sich über Gideons Angebot.

„Ich habe heute eigentlich nichts mehr vor. Aber wenn wir fertig sind und Nicole auch wieder da ist, was haltet ihr dann von einer Runde Schwimmen im See? Eine kleine Abkühlung wäre bei dem heißen Wetter bestimmt nicht schlecht.“

„Supi, finde ich toll. Was meinst du Helene, hast du Lust?“

„Ich bin dabei“, erklärt Helene und fragt: „Euer Pony bekommt ein Fohlen?“

„Ja, es kann jeden Tag so weit sein. Aber es geht ihr nicht so gut, es liegt wohl an der Hitze“, beantwortet Nicoles Vater die Frage.

„Ich bin auch schon völlig aufgeregt, denn es ist ihr erstes Fohlen und ich möchte unbedingt dabei sein. Vielleicht kann Doktor Berger heute endlich sagen, wann wir mit der Geburt rechnen können. Dann werde ich im Stall schlafen, um die Geburt mitzubekommen.“

„Wow, echt super. Das würde ich auch gerne mal sehen“, meint Helene.

„Wir könnten ja zusammen aufpassen“, erwidert Nicole. „Das macht eh mehr Spaß, als allein im Stroh zu schlafen. Dürfen Helene und ich gemeinsam bei Cindy schlafen, Mami, biiiiiitte.“

 

„Wenn Nette nichts dagegen hat, es sind ja Ferien.“

„Bestimmt nicht, meine Mutter weiß doch, wie sehr ich Pferde liebe.“

„Dann kannst du sie ja heute Abend fragen.“

„So, ich muss dann wieder los“, sagt Julius und steht vom Tisch auf. Er hat noch einige Erledigungen in der Stadt zu machen und muss die zehn Kilometer bis nach Greven mit dem Auto fahren. An der Tür setzt er sein Käppi auf und verabschiedet sich von den anderen. Julius hat eigentlich dunkle Harre, aber so allmählich werden die ersten Haare grau. Deshalb setzt er auch immer ein Käppi auf, wenn er raus geht. Am wohlsten fühlt er sich auch in seiner alten verwaschenen Jeans. Dazu trägt er am liebsten ein Cowboyhemd. Mit seinen 55 Jahren hat er noch eine sehr durchtrainierte Figur, was wohl von der vielen Landarbeit kommt.

Als von draußen der Wagen zu hören ist, sieht Antje aus dem Fenster und wendet sich an ihre Tochter: „Und da kommt auch schon Doktor Berger.“

„Ich bin so weit“, meint Nicole und verabschiedet sich von Gideon und Helene. „Dann bis später.“

„Bis später“, meinen Gideon und Helene und sehen den beiden nach.

„Okay, dann lass uns zu den Pferden gehen.“

„Weißt du denn, wo wir alles zum Saubermachen finden, Gideon?“

„Klar, ich bin ja schon öfters hier gewesen und habe im Stall geholfen.“ Und so machen sich die beiden auf zum Stall.

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