Schule hinterlässt Spuren

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Schule hinterlässt Spuren
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Inhalt

Impressum 3

Vorwort 4

Teil 1 - Gespräche mit Lernenden und deren Lehrpersonen 7

1. - »Ich habe viel gelernt und bin traurig, dass die Schule vorbei ist« 8

2. - »Die Schule hat mich mit allem ausgestattet, was ich brauche in Zukunft« 10

3. - »Die Schülerinnen und Schüler müssen spüren, dass wir Lehrerinnen sie als Menschen wahrnehmen. Sie müssen sich angenommen fühlen!« 12

4. - »Auch mit weniger Mitteln eine gute Atmosphäre schaffen« 14

5. - »Und plötzlich bekam ich Freude am Lernen« 17

6. - »In schlechten Zeiten ziehe ich mich immer noch zurück und verstumme« 19

7. - »Das Allerwichtigste ist es, den Faden zur Schülerin, zum Schüler nie abreißen zu lassen« 21

Teil 2 - Gespräche mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern 24

8. - »Ich habe Diktate zu Tode geübt« 25

9. - »Es hätte mir geholfen, wenn ich in der Schule gefördert worden wäre« 30

10. - »Die Scham wurde ich bis zur Pensionierung nie mehr los« 33

11. - »Weil ich nicht Akademiker wurde, war ich für meinen Vater erledigt« 37

12. - »Ab der dritten Klasse hatte ich den Stempel einer schlechten Schülerin« 39

13. - »Ich habe resigniert und keine Aufgaben mehr gemacht« 42

14. - «Ich genüge nicht» 44

15. - »Die Schule liess mich schutzlos zurück« 48

16. - »Weil ich ein sehr harmoniebedürftiges Kind war, hätte ich eine Lehrerin gebraucht, zu der ich eine Beziehung hätte aufbauen können« 50

Teil 3 - Gespräch mit einer Mutter 53

17. - »Schule, ein hilfloses, überfordertes System?« 54

Teil 4 - Gespräch mit Lehrpersonen 58

18. - »Das System Schule ist überladen mit Lega, Logo, Psychomotorik, Heilpädagogik, DaZ usw. Alle diese Disziplinen sind zu wenig vernetzt« 59

19. - »Ich kann nicht mehr ich selbst sein« 63

20. - »Ich wurde krank und zog mich aus dem Dorf zurück« 69

21. - »Schule sollte von unten gedacht und nicht von oben bestimmt werden« 72

Teil 5 - Gespräche mit Schulleitungen 79

22. - »Die Schulleitung erhält die Kündigung mit normaler Post« 80

23. - »Als Schulleiterin werde ich von oben gezogen und von unten gedrückt« 81

24. - »Wenn es brennt, bin ich da!« 87

25. - »Weniger wäre mehr« 95

26. - »Der Zusammenbruch kam von einem Tag auf den anderen mit Schlafstörungen und Erschöpfungsdepressionen – ausgelöst durch andauernden, nicht verarbeiteten Stress« 99

Teil 6 - Gespräch mit einem Schulsozialarbeiter, einem Erziehungsberater und einem Schulkommissionspräsidenten 104

27. - »Die Schule verfügt über zu wenig Ressourcen, um alle Probleme zu bewältigen« 105

28. - »Kleinstpensen sind ein struktureller Nachteil für die Kinder« 108

29. - Es braucht eine pädagogische Schule, die sich nach individuellem Bedarf und Bedürfnis ausrichtet. 111

Nachwort von Erika Reichenbach 113

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-810-4

ISBN e-book: 978-3-99107-811-1

Lektorat: Mag. Angelika Mählich

Umschlagfoto: Wirestock, Flynt, Rangizzz | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Vorwort

Hinterlässt die elf Jahre dauernde Volksschule tatsächlich Spuren?

Während sich die Mehrheit der SchülerInnen gerne an die gemeinsam verbrachte Schulzeit erinnert, gibt es einige, deren Schulerinnerungen ein Leben lang mit gemischten Gefühlen verbunden sind.

Wie kam ich dazu, mich näher mit dem Thema »Schule hinterlässt Spuren« zu befassen?

Nach meiner Pensionierung vor fünfzehn Jahren erhielt ich Einblicke in unser Bildungssystem, die für mich neu waren.

Im Rahmen der Erwachsenenbildung lernte ich den »Verein Lesen und Schreiben für Erwachsene Kanton Bern« kennen. Ein Verein mit dem Auftrag, Kurse anzubieten für Menschen, die Probleme haben mit Lesen und Schreiben.

In einem anderen Projekt, organisiert von Pro Senectute, erteilte ich individuelle Lernförderung (ILF) an der Oberstufe einer Volksschule und an einem 10./12. Schuljahr.

Beim Verein Lesen und Schreiben für Erwachsene, den ich sieben Jahre lang präsidierte, musste ich akzeptieren, dass die Schulzeit bei einzelnen Personen enorme Lernwiderstände, Lernblockaden und eigentliche Lernphobien zurückliess, die nur mit viel Geduld, Zuwendung und Ermutigungen überwindbar sind – wenn überhaupt. (Teil 2, Gespräche 8 und 9 mit ehemaliger Schülerin und ehemaligem Schüler).

Eindrückliche Beispiele dazu findet man im Videofilm »www.boggsen.ch« von Jürg Neuenschwander: https://vimeo.com/288254784, der in Zusammenarbeit mit dem Verein Lesen und Schreiben gedreht wurde.

Bei meiner Arbeit mit einzelnen Jugendlichen auf der Oberstufe (7. – 9. Schuljahr) konnte ich mit ansehen, welche bleibenden Prägungen die selektive, diskriminierende Zuteilung »Real« oder »Sek« auf Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und Selbstbild bei Jugendlichen auslösen kann. Von den Erwachsenen gut gemeinte Zuweisungen, mit negativen Auswirkungen auf die Jugendlichen. (Teil 2, Gespräch 8: Ich habe Diktate zu Tode geübt.)

Nur schwer erträglich war meine mehrjährige Arbeit mit Lernenden im 12. Schuljahr (früher 10. Schuljahr).

Mehrheitlich Lernende aus bildungsfernen Schichten, welche das Schulsystem im besten Fall in Ruhe liess, im schlimmsten Fall stigmatisierte und entmutigte.

 

Beeindruckt hat mich immer wieder das LehrerInnenteam im 10. respektive 12. Schuljahr, das mit klaren Standortbestimmungen und Strukturen und optimaler individueller Förderung die Jugendlichen einzeln abholte und diese zu erstaunlichen Leistungen befähigte, sodass die Mehrheit der jeweiligen Klasse eine Lehrstelle oder sonst eine angemessene Anschlusslösung finden konnte (Teil 1, Gespräch 5: »Und plötzlich bekomme ich Freude am Lernen«).

Zu Wort kommen neben SchülerInnen auch Lehrpersonen, Schulleitungen und weitere Berufsleute aus dem schulischen Umfeld, welche interessante, manchmal auch irritierende Einblicke in das aktuelle Schulsystem und seine inoffiziellen Spielregeln ermöglichen (Teil 4, Gespräche mit Lehrpersonen, Teil 5, Gespräche mit Schulleitungen, Teil 6, Gespräch mit einem Schulsozialarbeiter, einem Erziehungsberater und einem Schulkommissionspräsidenten).

An wen richten sich die dokumentierten Video-Gespräche? Verstanden als Einzelfallbeispiele eines Pilotprojekts?

An kritisch denkende Menschen, die an Bildung interessiert sind, an den vielfältigen Spuren, welche die elf Jahre dauernde Schulzeit hinterlassen kann.

Als ethischen Leuchtturm wählen wir Artikel 11 aus der Schweizerischen Bundesverfassung:

»Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung« (Art 11 BV).

Ein hochgesteckter Anspruch aus der Schweizerischen Bundesverfassung, dessen Umsetzung auf das bestehende Schulsystem noch einige Zeit dauern wird. Vorausgesetzt, der Lehrplan wird verfassungskonform.

»Besonderer Schutz ihrer Unversehrtheit«: Ein Qualitätskriterium von Unterricht, das weitgehend unbekannt ist in der pädagogischen und didaktischen Literatur.

Warum? Zu widersprüchlich sind die Erwartungen an das System. Beispiel: Fördern und gleichzeitig Auslesen.

Wie verbindlich ist dieser rechtliche Anspruch von Kindern und Jugendlichen während der Volksschule? Wer trägt die Verantwortung für dessen Umsetzung und für die entsprechende Qualitätsüberprüfung? Ungewohnte Fragestellungen zu einem praktisch nicht existenten Forschungsbereich.

Was geschieht mit Jugendlichen, welche die Volksschule mit Versehrungen und elementaren Wissenslücken (Illettrismus, Teil 2, Berichte 8 und 9) verlassen?

Sind ähnliche Lösungen wie bei den ehemaligen Verdingkindern denkbar? Im Sinne von finanziellen Entschädigungen?

Die Texte sprechen für sich, sie lösen unterschiedliche Reaktionen aus, je nach persönlichen Erfahrungen mit der Institution Schule.

Erfreulicher Ausblick: Auf Bundesebene sind rechtliche Rahmenbedingungen vorhanden, welche kindgerechte Weiterentwicklungen des Schulsystems zulassen und einfordern.

Dr. H. Joss

Teil 1

Gespräche mit Lernenden und deren Lehrpersonen

1.

Die wegfallende Konkurrenz zwischen den Lernenden im Modell 4 wird auch von K. als angenehm erlebt. Eine Schulform, welche den Verfassungsauftrag (keine Diskriminierung) für K. mit Migrationshintergrund erfolgreich umsetzt. Die Möglichkeit, Rückmeldungen zu geben, stärkte Selbstständigkeit und Selbstbestimmung.

»Ich habe viel gelernt und bin traurig, dass die Schule vorbei ist«

Gespräch mit K. Schülerin 9. Klasse, mit Migrationshintergrund

Welche Spuren hat bei dir die Schule in Kindergarten, Unterstufe und Mittelstufe hinterlassen?

Im Kindergarten habe ich zu Beginn geweint, weil ich kein Wort verstand. Ich hatte auch keinen Unterricht für Anderssprachige. In Folge habe ich selbst versucht, mich zu verständigen. Oft hat mich meine Grossmutter begleitet. Im zweiten Jahr kam meine Schwester ebenfalls in den Kindergarten. Ich habe keine Ungerechtigkeiten erfahren aufgrund meines Migrationshintergrundes.

In der dritten Klasse hat mich die Landschulwoche besonders beeindruckt. Wandern und zusammen Feuer machen haben das Zusammenleben in dieser Klasse geprägt. Angst erlebte ich zum ersten Mal in der dritten Klasse wegen des Wechsels in die große Schule. Die fünfte und sechste Klasse wurde zur Machtprobe gegen eine Lehrerin. Wir boykottierten und rebellierten. Macht zu haben, war damals ein gutes Gefühl.

Wie erlebtest du Modell 4 in der Oberstufe der neuen Schule?

Nach dem Wechsel in die Oberstufe änderte sich fast alles. Die neuen Erfahrungen an dieser Schule waren eine gute Struktur und gegenseitiger Respekt – auch von den Lehrpersonen uns gegenüber. Wir gaben die Rebellion auf. Das war der Wendepunkt. Das selbstgesteuerte Lernen war ebenfalls eine gute, neue Erfahrung. Mit der Planarbeit lernten wir Selbstverantwortung und Selbststeuerung. Der Unterricht wurde abwechslungsreich und vielfältig. Schulleitung, LehrerInnen sowie SchülerInnen arbeiteten alle in dieselbe Richtung. Gut tat auch, dass wir Rückmeldungen geben durften. Das Modell 4 hat auch den Vorteil, dass Sek- und Realniveau gemischt ist. Ich wusste nur in Englisch und Französisch, wer in welchem Niveau unterrichtet wird.

Meine Eltern konnten mir nicht helfen. Allerdings haben sie sich immer für mich interessiert und für das, was ich in der Schule mache. Mein weiterer Weg führt an eine Fachmittelschule. Für meine sehr gute Facharbeit wurde ich letzthin ausgezeichnet. Auf meinem Spruchband am Ausgang der Schule stand: »Vielfalt, Selbstständigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung. Es war eine schöne Zeit! Sie ging schnell vorbei. Ich habe viel gelernt und bin traurig, dass sie vorbei ist.«

2.

Gespräch mit Silvana, 9. Klasse in einer Schule in Bern

S.ist eine Schülerin mit hoher Reflexionskompetenz. Lernpsychologische Grundweisheiten werden von ihr bestätigt: Wohlbefinden in der Schule und Freiräume motivieren das Lernen. Das weitgehend konkurrenzfreie Schulmodell 4 erlebte sie als angenehm.

»Wenn es mir wohl ist, arbeite ich besser«

»Es ist cool mit Sek und Real zusammen«

»Die Schule hat mich mit allem ausgestattet, was ich brauche in Zukunft«

Gespräch mit S. Schülerin 9. Klasse

Wie erlebtest Du die Schule, die du besucht hast?

Ich bin aus einer anderen Schule in diese Klasse gekommen, meiner Freundinnen wegen. Ich kam in eine coole Klasse. Die LehrerInnen gingen auf unsere Bedürfnisse ein. Man durfte offen seine Meinung sagen, ohne dass es Konsequenzen hatte. Diese Haltung kam von allen Lehrpersonen herüber. Früher galt diese Klasse als die schlimmste. Ich habe sie ganz anders erfahren. Wenn es mir wohl ist, arbeite ich besser. Ich hatte Freiräume, die ich nutzen konnte, und wurde gut ausgerüstet für das, was nach der Schule folgt. Ich möchte Archivarin werden.

Es ist cool mit Sek und Real zusammen. Dabei weiß ich oft nicht, wer wo in welchem Niveau unterrichtet wird. Es kann auch sein, dass einer/eine in der Real besser ist in einem Fach als jemand in der Sek. Alle sind in dieser Schule für alle da. Auch das kam bei mir positiv an.

Auf einem Spruchband am Ausgang der Schule stand für mich: »Sich selbst sein können und wissen, was man kann und immer das Beste geben.«

3.

»Die Schülerinnen und Schüler müssen spüren, dass wir Lehrerinnen sie als Menschen wahrnehmen. Sie müssen sich angenommen fühlen!«

Oberstufenlehrer A. zu Aussagen von SchülerInnen wie: »An dieser Schule habe ich alles gelernt, was ich brauche für das Leben« und »Schade, dass diese schöne Zeit zu Ende geht«.

Wie kommen solche Aussagen zustande? Sind die beiden SchülerInnen eine Ausnahme?

Verglichen mit anderen Schulen ist die Atmosphäre hier offener und freier. Wir identifizieren uns mit dieser Schule. Die Besonderheit ist der gegenseitige Respekt. Wir geben den Kindern Raum und wir nehmen sie an, wie sie sind.

Verhaltensoriginelle SchülerInnen nehmen wir mit, ohne sie auszusondern und sagen ihnen: »Merci, bist du bei uns! Durch dich lernen auch wir wiederum.« Die SchülerInnen müssen spüren, dass wir LehrerInnen sie als Menschen wahrnehmen. Sie müssen sich angenommen fühlen.

Zur Frage, ob wir die Aussagen oben alle unterstreichen würden: Es gibt sicher Kinder, die diese Aussagen relativieren oder anders formulieren würden.

Eine Schule für alle beinhaltet ein riesiges Lernpotenzial auch für LehrerInnen. In einem starken Team wird vieles aufgefangen.

Das Sek- respektive Realniveau ist ja nicht ganz aufgehoben. Es ist nicht eine Inklusions-, wohl aber eine Integrationsschule. Die altersgemischten Gefäße helfen, die unterschiedlichen Lernstände nicht aufzuheben, aber auszugleichen. So kommt ein in einem Fach schwächerer Schüler in einem anderen Fach mit seinen spezifischen Kompetenzen zum Zuge.

Ganz wichtig ist uns das selbstverantwortliche, selbstgesteuerte Lernen.

Wie geht das denn mit den anderen Schulen zusammen? Wollen nicht alle ihre Kinder in diese Schule schicken?

Nicht zu allen Zeiten war diese Schule so aufgestellt. Ich unterrichte schon dreißig Jahre an dieser Schule. Nach Einführung des Integrationsartikels stellten wir uns die Frage: »Wie gehen wir in einem Schulversuch mit solch schwierigen Kindern um?« Es war eine jahrelange Anstrengung notwendig, in der auch das Kollegium seine Präferenzen klären musste.

Die Eltern wurden ebenfalls einbezogen. Es kam und kommt weiterhin vor, dass Wünsche bei der Einteilung der Kinder in die Schulhäuser, unsere Schule im Fokus steht. Die Eltern können aber nicht wählen.

4.

»Auch mit weniger Mitteln eine gute Atmosphäre schaffen«

Wie kommen SchülerInnen Ende der 9. Klasse zu Aussagen wie: »Ich habe in dieser Schule alles gelernt, was ich für das weitere Leben brauche.«

Eine andere: »Es war eine schöne Zeit, schade dass sie jetzt vorbei ist.«

Auffällig auch die ruhige unaufgeregte Atmosphäre.

Schulleiter J. dazu: Wir pflegen an unserer Modell-4-Schule eine Kultur der Gemeinsamkeit in altersgemischten Gruppen. Wir planen zusammen gemeinsame Projekte und führen diese in Gruppen vom Kindergarten bis zur Oberstufe durch.

Wir grüen einander. Ich grüe zuerst und warte nicht, ob ich zuerst gegrüt werde.

Wir achten einander und pflegen eine offene Kommunikationskultur.

Wichtig ist ein breites Bildungsverständnis. Und die Bereitschaft, auch als Erwachsene ständig zu lernen. Auch ich in meiner Rolle als Schulleiter. Uns ist die Vorbildfunktion wichtig.

Wir thematisieren im Kollegium unser Bildungsverständnis, unser Menschenbild.

Wie haben Sie in dieser Schule den Turnaround geschafft?

Wir haben von den SchülerInnen erfahren, dass sie zuvor einige turbulente Jahre erlebt haben.

Indem wir nicht mit dem Bleihammer dahinter gegangen sind, um Probleme zu lösen. Wir ermutigen durch Lob und Anerkennung und selektieren so wenig wie möglich. Die Diskussion, was wäre diese Schule ohne Noten, findet statt. Wir suchen nach Instrumenten, um in homöopathischen Dosen zu beurteilen. Dazu dient auch das Portfolio. Die SchülerInnen lernen dabei, sich selber einzuschätzen. Selbstsorgsamkeit und Selbstständigkeit von SchülerInnen ist uns wichtig. Wir fragen, bezogen auf die innere Differenzierung im Unterricht, bei den KollegInnen nach, wie genau sie diese umsetzen im Sinne der Integration. Bezogen auf den LP21 gehen wir machbare, verdaubare Schritte.

Für mich war die Stelle als Schulleiter an dieser Schule ein Traumjob nach 17 Jahren als Heilpädagoge in der Klinik für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Wir stellten uns zu Beginn dieses Schulentwicklungsprozesses die Frage: »Was ist wesentlich?«

Wie sieht es denn aus, wenn dauernd zu wenig personelle Ressourcen zur Verfügung stehen, um individuell zu fördern und den Lehrplan 21 zu erfüllen?

Wir verschwenden nicht Energie in das, was fehlt, indem wir uns als Opfer betrachten, sondern schrauben dort, wo es geht. Man kann auch eine gute Atmosphäre schaffen mit weniger Mitteln. Natürlich ist mein Leuchtturm die Inklusion und natürlich fehlen Mittel! Wir machen auch nicht ständig Tests. Die SchülerInnen arbeiten selbstständig und niveau- und altersgemischt. In einzelnen Fächern arbeiten SchülerInnen der Real -und Sekundarklassen zusammen. Oft wissen sie voneinander gar nicht, in welche Niveaugruppe sie eingeteilt sind.

Gespräch mit M. BFF

Zum besseren Verständnis: M. will über seine Schulzeit erzählen, weil er nur gelitten hat. Er hat erst in der fünften Klasse die Diagnose ADHS bekommen. Von da an wurde er in fast allen Fächern als vermindert lernfähig betrachtet und bekam wenig Unterstützung. Der Lehrer sagte ihm, er sei dumm. Das hat er mit der Zeit selber geglaubt.

 

Herausforderung: individualisierender Unterricht. Die Zuschreibung »reduzierter individueller Unterricht« ist zu einfach, eher eine Sparmaßnahme als ein ernsthafter Lösungsversuch.

»Ich wollte nicht mehr zur Schule gehen, hatte Albträume und Schlafprobleme«

»Die Aussagen des Lehrers gipfelten in der Feststellung, dass ich in ein Behindertenheim gehöre«

5.

»Und plötzlich bekam ich Freude am Lernen«

Gespräch mit M., Schüler BFF

Der Lehrer hat einmal erklärt: »Wer nichts begreift, hat eben Pech« Die Aussagen des Lehrers gipfelten in der Feststellung, dass ich in ein Behindertenheim gehöre. Er war übrigens auch der Meinung, dass die Mädchen alle Tussis sind.

Es gab so ein Stufenprogramm, d. h. bei Stufe vier flog man aus der Schule. M. wurde gleich zu Beginn in Stufe vier eingeordnet. Dies nicht zuletzt, weil er sich schlecht konzentrieren konnte. Zu den Schweizer Jungs war er ganz nett. Seine Eltern kamen aus Afghanistan. Sie sind eingebürgert worden, konnten M. jedoch nicht wirklich unterstützen, weil sie überfordert waren.

»Ich wollte nicht mehr zur Schule gehen, hatte Albträume und Schlafprobleme. Ich bekam für eine Zeit ein Arztzeugnis. Schließlich gab es für mich in Mathematik einmal pro Woche eine Lektion Heilpädagogik. Das half ein wenig. Weil ich immer angeschrien wurde und überzeugt war, dass ich nichts wert bin, habe ich mich zurückgezogen und nichts mehr gefragt. Ich wurde ja doch in jedem Fach »gerilzt». (Gerilzt: RiLZ bedeutet: Reduzierte individuelle Lernziele H.J.)

In Lebenskunde hatte ich eine Lehrerin, die war gut zu mir. Sie hatte Angst vor diesem Lehrer-Kollegen. Ich glaube, dieser Lehrer ist ein Rassist, der die Dunkelhäutigen nicht mag.

Hier in der BFF ist alles anders. Hier gibt es für jede Schülerin und jeden Schüler eine Chance. Meine Lehrerin hat sich bemüht, die Akten von meiner Schule zu bekommen. Diese waren leider verschwunden. Jetzt habe ich Dank Herrn H., der sich meiner in Mathematik angenommen hat, einen guten Mathematiktest geschrieben und plötzlich bekam ich Freude am Lernen. Das ist für mich ganz neu! Er ist so ruhig und hat Geduld. Er schreit nicht. Ich hoffe sehr, noch eine Lehrstelle zu finden.

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