Buch lesen: «Die drei Lästerschwestern können's nicht lassen»

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Erich Hübener

Die drei Lästerschwestern können's nicht lassen

Fortsetzung von "Drei Lästerschwestern auf Borkum"

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die drei Lästerschwestern können’s nicht lassen.

Meike

Heimweh

Sören, die Erste: „Dat Führ“

Sie kommen!

Graf Gedgens von Plytenberg

Sören, die Zweite: „De Wal“

Christian

Rebekka

Erika

Alfredo

Kaffeeklatsch

Sauna

Wieder in ihrem Cafe.

„Barfuß bis zum Hals“

Costas

Sturmeck

Thor, der Wikinger

Standhaft

Gezeitenland

Zurück nach Norden

Sören, die Dritte: „Dat Watt“

Thor, der Wikinger

Christians Geburtstag

Impressum neobooks

Die drei Lästerschwestern können’s nicht lassen.

Maria saß auf dem Oberdeck der Fähre Friesia II, die auf dem Weg von Emden nach Borkum war, und fragte sich gerade, ob sie es wirklich sei: Sie, Maria Stürmer aus Augsburg, die mit zwei großen Koffern unterwegs war zur Insel ihrer Träume. Aber nicht um dort Urlaub zu machen, sondern um dort zu wohnen, zumindest vorerst. Es war so etwas Ähnliches wie ein Umzug, zwar erst einmal nur zur Probe für ein paar Wochen oder vielleicht Monate, aber sie hatte sich ihr Rückzugsrefugium in Augsburg erhalten, ihre Wohnung im dritten Stockwerk des Mehrfamilienhauses mit Blick auf den Dom und die Altstadt. Dorthin könnte sie jederzeit wieder zurückkehren, wenn …

Verließ sie jetzt der Mut so kurz vor dem Ziel? Es war ja keine Schnapsidee gewesen. Alles war von langer Hand geplant und vorbereitet. Aber jetzt …

Sie blickte zurück und als das Festland am Horizont verschwunden war, drehte sie sich um und blickte nach vorn. Ja, sagte sie zu sich selbst, ich wollte es so und nun mache ich es auch so. Sie wendete ihr Gesicht der Sonne zu, schloss die Augen und erinnerte sich daran, wie es zu dieser Entscheidung gekommen war.

Angefangen hatte das Ganze auf Rebekkas Hochzeit, die Hochzeit ihrer Freundin, die vor einem Jahr ihren Traumprinzen, den Meeresbiologen Enno Reemtsma heiratete. Da er aus Leer stammte, hatte die Trauung auch in Leer stattgefunden, die Feier aber auf Borkum und zwar im Restaurant „Heimliche Liebe“, das sie aus ihrer Kur vom Vorjahr her kannten. Damals hatte Rebekka schon gesagt, als die drei „Lästerschwestern“ dort auf der Terrasse beim Kaffee gesessen hatten: „Wenn ich einmal heiraten sollte, dann findet die Feier hier in der „Heimlichen Liebe“ statt, und nicht heimlich, sondern öffentlich und für alle sichtbar.“ Und so hatten die zwei es dann auch gemacht. Es war eine herrliche Feier gewesen, zum Weinen schön.

Und dann war etwas Eigenartiges geschehen. Maria war auf die Terrasse gegangen, um in der Ecke „heimlich“ eine Zigarette zu rauchen, als sie plötzlich angesprochen wurde. Eine tiefe, sympathische Männerstimme hatte zu ihr gesagt: „Sie müssen hier nicht im Eckchen stehen, wenn Sie rauchen wollen. Sehen Sie, da drüben ist eine Bank, die Sie gerne benutzen dürfen. Das ist doch gemütlicher, oder?“ Sie hatte den Mann angesehen und in das Gesicht eines etwa Sechzigjährigen geblickt, in dessen gegerbter Haut zwei hellblaue Augen leuchteten. „Rauchen Sie auch?“ hatte sie ihn gefragt und sich schon auf den Weg zu der Gartenbank gemacht, so dass der Mann sie zur Beantwortung ihrer Frage zwangsläufig begleiten musste. „Nein, nein“, hatte er geantwortet, „schon lange nicht mehr. Früher einmal, mehr meiner Frau zuliebe, denn sie mochte beim Rauchen nicht gerne allein auf der Bank sitzen. Aber als sie vor fast zehn Jahren starb, habe ich das Rauchen wieder aufgegeben. Meine Frau hat sowieso immer gesagt, dass ich im Grunde nur ein Gelegenheitsraucher sei.“ Als wir bei der Bank angekommen waren, hatte er gesagt „Bitte“ und mir die Platzwahl überlassen. Damals habe ich schon gedacht, dass er ein Kavalier der alten Schule sei, und das ist er auch. Er hatte sich einfach neben mich gesetzt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und auf das Meer geblickt. Ich hatte ihn eine Zeitlang angeschaut und er war mir immer sympathischer geworden. Endlich hatte ich gefragt „Wohnen Sie hier?“

Er hatte kurz gelacht und dann gesagt „Ja, so kann man das auch nennen. Mir gehört der ganze Laden. Ich bin, wie man so schön sagt, der Seniorchef der `Heimlichen Liebe´.“ Und ohne weitere Aufforderung hatte er weitererzählt:

„Meine Frau und ich haben die Heimliche Liebe vor mehr als 30 Jahren gepachtet. Der Laden war ziemlich heruntergekommen. Aber unserer Meinung nach war es eine gute Lage. Man musste nur etwas daraus machen. Und dann haben wir die Ärmel hochgekrempelt und losgelegt. Ich habe Koch gelernt und meine Frau war praktisch in einem Haus wie diesem aufgewachsen, denn ihre Eltern hatten selbst ein Restaurant. Wir waren also beide vom Fach und haben deshalb auch den Kahn wieder ziemlich schnell flottgekriegt. Heute läuft das Restaurant und der Hotelbereich hervorragend, das Terrassencafe ist tagsüber gut besucht und in der Saison ist das Hotel fast immer ausgebucht…..“

Maria schreckte hoch und öffnete die Augen. Das Motorengeräusch der Fähre hatte sich verändert und sie aus ihren Tagträumen gerissen. Sie steuerten schon den Borkumer Hafen an. Marias Herz schlug ein bisschen schneller und es steigerte sich noch, als sie Christian - so hieß der Seniorchef der „Heimlichen Liebe“ nämlich - winkend auf dem Anleger ausmachte. Und, wie sie überraschend feststellte, holte er sie nicht mit dem Auto ab, sondern mit einer Pferdekutsche. Die Begrüßung war eher einseitig, denn Maria umarmte ihn und deutete rechts und links einen Kuss auf die Wange an, Christin dagegen legte lediglich einen Arm um sie. Ja, so sind sie nun mal, die Ostfriesen, dachte sie. Zurückhaltend, fast schüchtern – sagt man, aber wenn man erst einmal mit ihnen warm geworden ist, dann sind sie die besten Kumpel – sagt man. Daran werden wir wohl noch arbeiten müssen.

Normalerweise fährt man vom Fähranleger mit der historischen `Bimmelbahn´ zum Borkumer `Bahnhof´. Die Bahn mit ihrer Lokomotive und drei bis vier Waggons sieht eher aus wie eine vergrößerte Spielzeugeisenbahn. Und man braucht Geduld, wenn man mit ihr fährt, denn man lässt sich hier Zeit. Und das ist auch gut so. Damit beginnt nämlich schon die `Entschleunigung´, die man für einen richtigen Urlaub unbedingt braucht. Am Bahnhof werden die meisten Gäste von den Gastgebern oder Freunden abgeholt. So war es auch damals, als Maria zum ersten Mal auf Borkum war. Und in dem Kleinbus, der die Gäste für das `Dünenhaus II´ abholte, hatte sie Rebekka und Erika – die zwei `Leidensgenossinnen´ - kennengelernt, mit denen sie seitdem eng befreundet war. In der sechswöchigen Kur hatten sie sich dann auch den Namen `Lästerschwestern´ zugelegt und seitdem beibehalten.

Christian benutzte nur ein Stück weit den Plattenweg neben den Schienen der Kleinbahn. Dann bog er ab und fuhr einen Feldweg entlang, auf dem es durch die Dünen ging.

„Das ist doch schöner, als auf der Betonpiste“, sagte er, „da rasen nämlich die Taxis und die Autos der Feriengäste an uns vorbei. Meine Pferde mögen das ganz und gar nicht, und ich übrigens auch nicht“, sagte er lachend, „und außerdem siehst du jetzt auch gleich ein schönes Stück unserer Insel.“

„Ja“, antwortete Maria, „ es ist sehr schön hier. Diese Ecke der Insel kenne ich nämlich noch gar nicht.“

Die Pferde trabten gemütlich vor sich hin, der Wind strich ihr durchs Haar und vom fernen Strand hörte man schon das Rauschen der Wellen.

Das soll also nun mein neues `zu Hause´´ werden, dachte sie und war sich nach dem ersten Eindruck sicher, dass ihre Entscheidung richtig gewesen sei.

Sie blickte aus dem Augenwinkel auf den Mann an ihrer Seite, der sicher und mit ruhiger Hand die Pferde dirigierte. Und auch in der Hinsicht war sie der Meinung, die richtige Wahl getroffen zu haben.

„Sind das deine Pferde?“, fragte sie.

„Ja“, antwortete er, „das ist das einzige Hobby, das ich mir leiste. Wir hatten zu Hause immer Pferde und ich habe sie als Junge schon geliebt. Und darum hab ich mir vor ein paar Jahren diese Pferde zugelegt, so quasi als Altersbeschäftigung. Es sind Friesen, eine sehr kräftige und trotzdem gemütliche Rasse. Und unsere Gäste sind begeistert, wenn ich sie mit einer Pferdekutsche von der Fähre abhole“, sagte er ein wenig stolz und ließ die Pferde in den Schritt fallen. „Aber das mache ich natürlich nur für besondere Gäste“, fuhr er fort und blickte Maria von der Seite an.

Maria hatte den `Wink mit dem Zaunpfahl´ verstanden. Sie nickte und sagte „Is scho recht.“

Der Weg wand sich durch die Dünenlandschaft, zwischen wilden Rosen und Sanddornbüschen hindurch, vorbei an Ferienhäusern und kleinen Pensionen mit gepflegten Vorgärten, bis sie schließlich die `Heimliche Liebe´ erreichten. Maria erinnerte sich noch genau an dieses imposante Gebäude nahe am Strand und sie sah auch gleich im Vorbeifahren die Bank, auf der sie und Christian sich damals kennengelernt hatten.

Vor dem Eingang der „Heimlichen Liebe“ war das Personal zur Begrüßung angetreten. Auch der Juniorchef und seine Frau waren dabei. Es war Maria fast ein bisschen peinlich. Schließlich war sie ja nur ein Gast und nicht die neue Seniorchefin. Trotzdem machte es sie ein bisschen stolz, als alle ihr die Hand gaben und sagten „Herzlich willkommen auf Borkum!“ oder „Wir hoffen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen werden.“ Für Christian war es wohl eher so etwas wie eine Selbstverständlichkeit. Am Ende sagte er kurz und trocken „So, und nun zurück an die Arbeit.“

Maria wohnte nicht in der „Heimlichen Liebe“. Sie hatte es nicht gewollt. Christian hatte auf ihre Bitte hin ein kleines Appartement in der Nähe für sie angemietet und gesagt „Es gibt bei uns im Plattdeutschen ein Sprichwort, das heißt `Visavi ist beter, as dicht dorbi.´ Wir können uns ja treffen, wann immer wir wollen oder wenn uns danach zumute ist.“ Und genau so hatte Maria es sich auch vorgestellt.

Nach der Begrüßungszeremonie brachte Christian sie in ihr neues „Zuhause“. Es war ein kleiner roter Klinkerbau, keine drei Minuten von der „Heimlichen Liebe“ entfernt. An der Haustür wurden sie von den Hausbesitzern, dem Ehepaar Behrends begrüßt. Sie waren Rentner und nachdem ihre Tochter geheiratet hatte und mit ihrem Mann auf das Festland gezogen war, stand die kleine Wohnung im oberen Stockwerk leer. „Herzlich willkommen“, hatten die Behrends gesagt, und „wir hoffen, dass Sie sich auf Borkum wohlfühlen werden.“

Maria stieg die Treppe hinauf, schloss die Tür auf, betrat ihre neue Wohnung und war sofort begeistert, denn es erinnerte sie alles ein wenig an ihr bisheriges Heim in Augsburg. Auch dort besaß sie eine Dachwohnung mit schrägen Wänden und Dachgauben zum Hinausschauen. Die Begeisterung war vollkommen, als sie auf den Balkon trat und das Meer erblickte. Sie umarmte Christian und sagte „Danke, das ist wirklich wunderschön.“

„Das Einzige, was mir fehlen würde“, sagte er und lachte, „ist, dass man von hier aus nicht die `Heimliche Liebe´ sehen kann.“

Dann lachten sie beide und Maria sagte „Ich weiß ja, wo du zu finden bist.“

Christian verabschiedete sich aber gleich wieder, weil er meinte, in der „Heimlichen Liebe“ gebraucht zu werden. Maria packte ein paar Sachen aus, entschied sich dann aber doch erst einmal auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen. Und als sie das Meer rauschen hörte, schloss sie die Augen und genoss es in vollen Zügen. Wie heißt es so schön in der Werbung? „Wohnen, wo andere Urlaub machen.“ Genau so fühlte sie sich jetzt. Und sie räkelte sich genussvoll in ihrem Liegestuhl.

Meike

Schon nach ein paar Tagen hatte sich so eine Art `Alltag´ eingespielt. Maria stand morgens auf, wenn sie wach wurde. Das war meist so gegen acht Uhr. Sie besaß zwar einen Wecker, aber der hatte schon lange keine andere Funktion mehr, als nur die Uhrzeit anzuzeigen, wecken brauchte er sie nicht mehr. Wozu auch? Sie hatte ja Urlaub. Und das jeden Tag und so lange, wie sie wollte und es ihr hier auf Borkum gefiel.

Sie stellte als erstes die Kaffeemaschine an und wenn sie im Bad ihre Morgentoilette beendet hatte, war der Kaffee fertig. Dann setzte sie sich auf den Balkon, trank einen großen Becher Kaffee, rauchte genüsslich eine Zigarette und lauschte dabei dem Rauschen der Nordsee und dem gelegentlichen Schrei einer Möwe. Dann erst machte sie sich auf den Weg zur „Heimlichen Liebe“, um zu frühstücken. Na ja, als Lebensgefährtin des Seniorchefs war Vollverpflegung natürlich inbegriffen. Es gab im Restaurant, gleich neben dem Eingang einen großen Tisch der für die Familie reserviert war. Dort frühstückten auch die jungen Leute, aber schon viel früher als die Urlauberin. Aber sobald sie morgens den Raum betrat ging es anscheinend wie ein heimliches Lauffeuer durchs Haus, denn immer erschien schon wenig später Christian an ihrem Tisch und begrüßte sie. Jeden Morgen, ausgenommen er hatte schon früh morgens Gäste von der Fähre abzuholen. Meistens setzte er sich zu ihr und trank eine Tasse Kaffee, denn gefrühstückt hatte er natürlich auch schon in aller Herrgottsfrühe. Aber lange hielt er es meistens nicht aus. Natürlich hatten die jungen Leute schon lange die Führung des Hauses übernommen, aber der Senior meinte immer, dass er hier und da nach dem Rechten schauen müsste.

Christians Sohn hieß Torben, war etwa 4o Jahre alt und begegnete Maria offen und herzlich, anders war es mit Meike, Torbens Frau. Zwar war auch sie höflich und zuvorkommend, aber Maria wurde das Gefühl nicht los, dass da irgendetwas zwischen ihnen stand. Sie sprach mit Christian darüber und der sagte „Ihr solltet mal vernünftig miteinander sprechen. Ich werde ihr sagen, dass sie dich mal da hinten auf der Bank besuchen soll. Da seid ihr ungestört und könnt in Ruhe über alles reden.“

Und so kam es, dass Meike ein paar Tage später den Gartenpfad entlangging und die Bank ansteuerte, auf der Maria gerade saß und las.

„Darf ich?“, fragte sie und zeigte auf den freien Platz neben Maria.

„Na klar“, antwortete Maria und klappte ihr Buch zu.

„Ich hatte gerade da drinnen eine kleine Pause und ich denke, wir sollten mal miteinander reden.“

„Ja, dein Schwiegervater war auch der Meinung.“

„Und um den geht es gerade. Ich muss dafür aber ein bisschen ausholen, damit du verstehst, um was es geht.“

Sie machte eine Pause und schien zu überlegen, wo sie anfangen sollte.

„Also“, begann sie dann zögernd, „Vadder – so sagen wir hier zu ihm - hatte vor ein paar Jahren schon einmal eine Beziehung zu einer alleinstehenden Frau. Und das ist nicht gut ausgegangen, um es genau zu sagen: Es ist total schief gegangen. Erst ging es ganz gut, aber als die Frau ihn drängte, ihn zu heiraten, kam es immer öfter zu Diskussionen zwischen ihnen. Letztendlich stellte sich heraus, dass die Frau es auf einen Erbschaftsanspruch abgesehen hatte, den sie am Ende sogar gerichtlich durchsetzen wollte. Vadder ging es danach Wochen und Monate ganz schlecht. Er hat sehr darunter gelitten. Und wir dachten schon, dass dieses Thema damit für immer erledigt wäre. Ja, und dann tauchtest du vor ein paar Wochen plötzlich hier auf und da hatten wir Angst, dass es noch einmal passieren könnte. Nicht wegen des Erbes – es ist genug da - sondern wir befürchteten, dass er noch einmal so schwer enttäuscht werden könnte. Er hat ja auch vorher mit uns gar nicht darüber gesprochen. Eines Tages sagte er nur: Morgen kommt Maria aus Augsburg. Die wird bei Behrends wohnen und mein Gast sein. Wir haben es dann so akzeptiert, weil wir wussten, dass man mit Vadder nicht diskutieren kann. Wenn er sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann macht er es auch.“

Maria hatte aufmerksam zugehört und Meike nicht unterbrochen. Jetzt hatte sie das Bedürfnis, diese Frau in den Arm zu nehmen, aber sie traute sich nicht. Sie überlegte, wie sie mit der Antwort beginnen sollte und sagte dann „Ja, und dann erscheine ich plötzlich hier und ihr wisst nicht, wie ihr damit umgehen sollt.“

Meike nickte stumm.

„Euer Vadder scheint ja ein richtiger Sturkopp zu sein“, stellte Maria fest.

„Dat kannst wol seggen“, bestätigte Meike auf Platt.

Maria gab sich selbst noch einen Moment zum Nachdenken und erklärte dann „Also, um eines schon mal klarzustellen, übers Heiraten haben wir nie geredet. Und das wird auch nie ein Thema sein, jedenfalls nicht von mir aus. Ich war zweimal verheiratet und das reicht mir für den Rest meines Lebens. Und wenn es um Geld geht, auch damit habe ich keine Probleme. Ich kann von meiner Pension als ehemalige Lehrerin gut leben. Und was die Beziehung zu eurem Vadder anbelangt, da wird es auch keine Probleme geben. Sieh mal, wir sind beide keine Teenager mehr, die heute miteinander tanzen und sich morgen nicht mehr kennen. Nein, es hat sich so ergeben, dass wir beide uns einfach gegenseitig sympathisch fanden und dass wir deshalb irgendwann beschlossen haben, ein Stück unseres Lebensweges gemeinsam zu gehen, mehr nicht. Wie lange das sein wird, darüber haben wir nie gesprochen. Das wird sich zeigen. So haben wir es jedenfalls abgesprochen. Ist das für euch okay?“

Meike hatte Maria genau zugehört und sie nicht unterbrochen. Aber jetzt brach es aus ihr heraus. Sie stand auf und umarmte Maria spontan. Tränen standen in ihren Augen, als sie sagte „Ik bün jo so froh, dat wi dor öber prot hebt.“ Und dann besann sie sich der hochdeutschen Sprache und fuhr fort „Ich fand die Spannung in den letzten Tagen auch schrecklich. Ich kann sowas gar nicht ab. Aber nun ist es ja raus und ich denke, dass wir noch gute Freundinnen werden können. Wir haben nämlich auch gemerkt, dass du Vadder anscheinend gut tust. Er hat sich in der letzten Zeit durchaus positiv verändert. Er kann wieder lachen so wie früher. Deshalb wären wir froh, wenn du noch möglichst lange bei uns bleiben würdest.“

Jetzt war auch Maria den Tränen nahe, als sie die Umarmung heftig erwiderte. Nach einer ziemlich langen Zeit des Schweigens löste Meike sich aus der Umarmung und sagte „Das ist ein Grund zum Feiern. Warte, ich hol uns mal eben einen Sekt.“

Und so kam es, dass sie wenig später miteinander anstießen. „Prost“, sagte Meike, „auf unsere Freundschaft“.

„Und“, ergänzte Maria, „wenn es irgend was gibt, du weißt ja nun, dass man mit mir reden kann.“

„Und wenn du mal Probleme mit Vadder haben solltest, dann sag es mir. Ich weiß, wie man ihn kuriert“, bot Meike an.

„Abgemacht“, sagte Maria und sie stießen erneut an.

Christian fragte Maria nicht, wie das Gespräch ausgegangen sei. Er brauchte es auch nicht, denn er sah, dass Meike und Maria von diesem Tage an ein Herz und eine Seele waren. Und das reichte ihm.

Heimweh

Maria hatte die Angewohnheit, an jedem Morgen das Kalenderblatt des vergangenen Tages abzureißen. Als sie es an diesem Tage tat, stellte sie fest, dass sie bereits zwei Wochen hier auf der Insel war. Schon 14 Tage, dachte sie, ist das kurz oder lange? Zwei Wochen können sehr lang sein, wenn man auf etwas wartet, zum Beispiel, wenn sie früher auf den Beginn der Ferien gewartet hatte. Aber hier waren die zwei Wochen wie im Fluge vergangen. Es war ja auch so viel passiert. Und alle kümmerten sich um sie. Das war sie gar nicht gewohnt. Erst gestern Abend hatte Frau Behrends sie eingeladen und gesagt „Kommen Sie doch mal zu uns herunter. Wir würden uns gerne ein bisschen mit Ihnen unterhalten. Wir könnten einen schönen echten ostfriesischen Tee miteinander trinken.“ Maria stimmte zu und so saßen sie dann abends zusammen bei Tee und ostfriesischen Waffelröllchen. Als Maria nach der zweiten Tasse Tee eine weitere mit der Begründung ablehnte, dass sie sonst womöglich nachts nicht schlafen könne, sagte Frau Behrends „Nee, junge Frau, das Problem haben Sie bestimmt nicht. Denn es kommt darauf an, wie ich den Tee zubereite, ob er müde oder munter macht. Und außerdem heißt es bei uns: Drei ist Ostfriesenrecht. Das müssen Sie noch lernen.“

Die Unterhaltung allerdings gestaltete sich etwas schwierig, weil das Ehepaar Behrends miteinander nur Plattdeutsch redete. Und da verstand Maria manchmal noch nicht einmal, worum es in ihrem Gespräch ging. Andererseits schienen Herrn Behrends die Fragen nicht auszugehen und Maria hatte Mühe alle zu beantworten. Als Herr Behrends den Raum kurz verließ, sagte Frau Behrends „Er fragt so viel, weil er Ihren Dialekt so gerne hört.“

Maria erinnerte sich daran, dass Rebekka, die ja das Holsteiner Platt beherrschte, einmal gesagt hatte, dass selbst sie noch Probleme hätte, die Ostfriesen zu verstehen. „Und auf den Inseln ist es noch schlimmer“, hatte sie gesagt, „denn da wird fast auf jeder Insel noch ein eigener Dialekt gesprochen.“

Doch jetzt, da sie vor dem Kalender stand und auf das ihr so vertraute Bild des Augsburger Doms blickte, wurde ihr bewusst, wie weit sie von ihrem eigentlichen Zuhause entfernt war. Plötzlich überkam sie das Heimweh, ein Gefühl, das sie eigentlich gar nicht kannte. Selbst in der sechswöchigen Kur vor zwei Jahren war ihr so etwas nicht passiert. Wahrscheinlich war sie so mit ihrem Wunsch auf Frühverrentung beschäftigt gewesen, dass sie gar keine Zeit hatte, Heimwehgefühle zu entwickeln. Jetzt entschloss sie sich, ihre Freundinnen anzurufen. Sie hatte so viel zu erzählen und sie wollte natürlich auch wissen, wie es den anderen in der Zwischenzeit ergangen war. Aber vor allem wollte sie wieder die vertrauten Stimmen und den heimatlichen Dialekt hören.

„Bisch dus wirklich?“ frage Renate.

„Ja, stell dr vor, i habs zwoi Woche ausghalta ohne eich azurufa. Aber iats muas des oifach sei. Mi gfreits ja so, endlich eire Stimma amol zu heara“, sprudelte Maria gleich los, „wie gots dr denn und was machen dia andere?“

„Na komm, was soll scho passiert sei? Du bisch ja grad amol zwoi Wucha auf Borkum und lebsch net seid oim Johr aufm Mond, odrr?“

Und sie lachten herzlich.

„Ja“, antwortete Maria, „woisch des fehlt mr nämlich o, des Lache, so wia frühr, wenn mr beianand warn. I glob, i hab in dene zwoi Wucha koi eunzigsmol so herzhaft glacht, wia grad mit dir. Aber iats raus mit dr Sproch: was war bei eich wirklich los?“

Renate zögerte einen Moment und sagte dann „Na, net viel, ausser dass Stefie sich d Fuass broche hot, Brititte arbeitslos isch und Elvira sich von ihrem Ma trennt hot.“

Stille.

Maria hatte die Luft angehalten und sagte dann überrascht „Waaas?“

Es war noch immer still auf der anderen Seite. Aber Maria meinte schon ein unterdrücktes Glucksen zu hören.

„Sag des noml.“

Und dann war es mit Renates Beherrschung vorbei. Sie prustete ins Telefon und sagte endlich „Noi, natürli nedda! Alles a „Schmarra. Aber so ebbes wolltescht du doch heara, odrr?“

„Noi, nazüli et, du Bissgurk, des wärn ja glei drei Katastropha auf oimol. Aber iats mol ohne Schmarra: Was isch wirkle passiert?“

„Wart, loss mi überlega …doch, jo, wir warn beim Chines und dr Chef persönlich hot se noch dir erkundigt. Du muasch ihm amol von deine Pläne verzählt haba, denn er hot gfrogt: Wie geht es Malia auf Bolkum?“ Und Maria lachte, weil Renate den chinesischen Slang so gut nachmachen konnte.

„Natürli ham wir über di gred und uns gfrogt, wias dr wohl got. Aber Elvira hot gmoind, dass dir guat got, sonst hätt sie si bestimmt scho gmeldet.“ Und wir ham natürli viel gquatscht und viel glacht. Du woisch gwis wias bei uns normalerweis zuganga isch, odrr?“

„Ja, freile. Wia hosch vorher so schea gsagt? I leb ja net seit oim Johr aufm Mond.“

Und sie lachten schon wieder.

„Aber iats verzählscht du erscht amol wias dr ganga isch“, dängelte Renate,

„i muss ja beim nägschta Treffa ebbs tzm verzähla haba.“

„Alles was du willscht“, begann Maria und erzählte dann von der Kutschfahrt bei ihrer Ankunft, von der freundlichen Begrüßung an der „Heimlichen Liebe“, von ihrer kleinen Wohnung bei Behrends, wo sie Tag und Nacht das Meer rauschen hört „außer es isch Ebbe“, schloss sie.

„Isch dr des denn net manchmol zuviel Meeresrauscha“, erkundigte Renate sich.

„Noi, im Gegendeil, i ka drbei herrlich eischlofa und vermiss es, wenns i net hör.“

„Und wia isch es denn mit deiner grossa Liab?“, fragte Renate jetzt ganz direkt. Dann das wollten die anderen sicher ganz genau wissen.

„Geh, Schmarrn, drvo war doch nia d Red. Wie fanden uns halt gegenseitig sympathisch. Und des isch immer no so. Ansonstn kann i mi net beklage. Christian isch a Kavalier dr alten Schule, liest mr jeden Wunsch von de Lippn ab und hot sogar auch wenn dr Ladn hier richtig bummt, immr amol Zeit für mi.“

Und sie erzählte weiter von der schönen Bank hinten im Garten und von dem für sie reservierten Tisch „im Eck“.

„Na, des wär doch was für uns“, hakte Renate ein, „edo könntn wir so richtig schön ratschn.“

„Ja, scho, nur alloi ratschts sichs halt schlecht.“

„Des got scho, stellscht halt die Handy a, wenn du was Interessantes sigscht.“

Und das Lachen ging weiter.

„Willscht was höra?“

„Klar, erzähl!“

„Neulich war a Ehepaar do, dia Fisch bstellt ham. Und dr gscheite Ehema hot gmoint seiner Frau lang und breit erklärn zu müssn, wo bei dem Fisch dia Gräta sind und wia ma sie vermeida ka. Abr anschließend hotr sich so an oiner Fischgrät verschluckt, dass r garnemme aufhöra ka zum huschta.“

Und sie lachten lauthals.

„Gschiet ihm grad recht“, stellte Renate am Ende fest.

„Und dann gibt’s hier a junge Fraa, die öfters mit am Ma zum Essa kommt.“

„Na und?, des isch doch nix Besonderes.“

„Na, an und für sich ned, nur des die Fraa jedsmol mit a andrer Ma da isch.“

„Na, so a Ludr“, kommentierte Renate.

Es entstand eine kleine Pause und Maria wusste, dass da noch etwas kam, denn so gut kannte sie ihre Freundin. Und so kam es auch.

„Und, wia läufts bei eich so im Bett?“, fragte Renate ganz direkt.

„Also was du blos wieder alles wissa willscht.“

„Na woisch, des isch doch des erschte, wonoch die andere mi froga werdn.“

Maria überlegte einen Moment und sagte dann „Sag deane: Oh wenn auf de Berg scho Schnee liegt, kanns im Tal durchaus noch grünen.“

Renate brauchte einen Moment, um über diese sibyllinische Antwort nachzudenken.

„Des soll i deane saga?“

„Jo, mol sea, ob jemand begreift, was domit gmoint isch.“

„Du immer mit deine Sprüch. Abr dia vermissn wir ebenso, wia di selbscht.“

„Und i vermiss außer eich natürli d schwäbische Küche. Auf dr Speisekart der „Heimlichen Liebe“ steht alles, was sonst o üblicherweis auf Speisekarta steht. Und i derf mr o alles aussucha. Abr Kässpatza gibt’s natürli net. Und Nudlagericht nur ganz selta.“

„Was gibt’s denn?“

„Na halt viel Fisch, Labskaus und Bohna, Bira und Speck und Bott.“

„Was isch des denn?“

„Des isch a Buttermilchsupp.“

„Na ja, an Hoka hot selbscht ds Paradies.“

„Ja, und i wird eich o weiterhin drüber berichta.“

„Des will i hoffa!“

„Also, pfia di Gott mei Schatz, griaß des restliche Kleeblatt und gib alls an dicken Kuss von mir auf die Backa.“

„Ja, mach i. Pfia die Gott und meld die wiedr.“

Maria brach schnell das Gespräch ab, denn sie merkte, dass sie einen Kloß im Hals hatte. Aber es ging ihr jetzt doch wesentlich besser und sie machte sich auf den Weg zur „Heimlichen Liebe“.