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Jupp Mallmann


kann einiges erzählen, denn er hat einiges erlebt.

408 Tage Einzelhaft, weil er sich für ein friedliebendes Deutschland einsetzte.

12 Jahre in der Illegalität.

Jahrzentelanger Einsatz für eine Gesellschaft der Menschlichkeit.

Manches davon hat er aufgeschrieben.

Jupp Mallmann


hat aufgeschrieben

Bericht eines Zeitzeugen

mit ergänzenden Anmerkungen von

Erich Buchholz

2011 • Verlag Wiljo Heinen, Berlin

Schreib' das auf, Jupp !

»Schreib' das doch einmal auf!« – diesen Wunsch oder Vorschlag habe ich nach Diskussionen mit Freunden und Genossen oft gehört. »Schreibe mal auf, wie du bei deinen politischen Aktivitäten die Entwicklung in der Bundesrepublik nach 1945 erlebt hast, welche Schlußfolgerungen du für deine politische Entwicklung daraus gezogen hast.«

Ein zusätzlicher Anstoß kam von einer Studentin, die von mir Material zur politischen Strafverfolgung in Westdeutschland erhalten hatte.

Sie schrieb mir: »Lieber Herr Mallman, vor zwei Tagen hatte ich meine Präsentationsprüfung … und soweit ich es sagen kann, ist alles gut gelaufen…

Letztendlich kann ich für mich sagen, daß ich sehr viel über das Thema »Kalter Krieg« lernen konnte und für mich persönlich viel aus der uns gestellten Aufgabe mitnehmen kann. Ich habe mich wirklich sehr gefreut, viel Material zu bekommen, denn nur so konnte ich mir ein ausgewogenes Bild von der damaligen Situation machen… Mit freundlichen Grüßen Hanna-Lena.«

Das war ein Hinweis darauf, daß meine Erinnerungen doch nützlich sein könnten, um jungen Leuten zu helfen, sich in der heutigen Zeit zurechtzufinden.

Man wird nicht
als Kommunist geboren

Geboren wurde ich im Gertrudis Kloster in Düsseldorf-Eller am 30. Juli 1925. In diesem Kloster hatten meine Eltern und eine andere Familie unter dem Dach eine kleine Wohnung. Vielleicht hing das auch damit zusammen, daß meine Eltern streng katholisch waren, so wie ich und meine Geschwister erzogen wurden.

Mutter war Fabrikarbeiterin in der Persilfabrik Henkel. Vater zunächst arbeitslos, dann Bleiwalzer. Lange Zeit war Vater der einzige, der Geld verdiente, während meine Mutter die schwere Aufgabe hatte, die große Familie mit sechs Kindern und dem kargen Lohn des Vaters zu versorgen. Später, 1948, kam noch ein Nachzügler hinzu. Die Eltern, darin sind wir uns mit allen meinen Geschwistern einig, haben alles getan, um uns unter diesen Bedingungen eine schöne Jugendzeit zu ermöglichen. Das war aber oft sehr schwierig und kräftezehrend.

Ich besuchte die katholische Volksschule und war Mitglied in der katholischen Jugendorganisation »Jungschar«.

Wenn wir Kinder für die Mutter in dem Lebensmittelgeschäft in unserer Straße einkaufen gingen, gab es oft von der Verkäuferin den Hinweis: »Sagt der Mutter, sie muß mal wieder vorbeikommen, um zu bezahlen. Aber sagt es ihr nicht, wenn es der Vater hören kann.« Das haben wir als unangenehm und sehr peinlich empfunden.

Später haben wir vom Vater erfahren, unter welchen Bedingungen die Familie existieren mußte. Sein Stundenlohn betrug 79 Pfennige, das waren im Monat 186 Mark. Ein Brot, zwei Pfund schwer, kostete 45 Pfennige. In dieser Zeit gab es in Deutschland 636.000 Arbeitslose.

Mit fast 13 Jahren habe ich begonnen, die Versorgung der Familie zu unterstützen. Morgens von 6 bis 7 Uhr war ich mit dem Geschäftsrad der Bäckerei, von der wir unser Brot holten, unterwegs, um Brötchen auszufahren. Danach konnte ich in der Bäckerei frühstücken, was einen Esser am Frühstückstisch zu Haus einsparte. Nach der Schule und der Erledigung der Schulaufgaben ging es wieder in die Bäckerei, um Kuchenbleche sauberzumachen oder im Keller Schwarzbrot mit der Maschine zu schneiden. Dafür gab es immerhin 3 Mark für die Woche, zwei oder manchmal auch drei Brote und am Samstag auch noch eine Tüte Gebäck.

Das half der Familie und mir hat es Spaß gemacht. Nur im Winter nicht. Ich hatte mir die Füße erfroren und mußte in dicken Hausschuhen auf dem Fahrrad die Brötchen verteilen. Eine Hilfe war die Karbidlampe, an der ich meine Finger wärmen konnte, um die Tüten mit den Brötchen anfassen zu können.

Diese Zeit war schnell vorbei. Im März 1940 wurde ich aus der Schule entlassen mit einem Zeugnis, in dem u.a. stand: »Religionslehre gut, Lesen gut«, alles andere befriedigend. Unter »Allgemeiner Beurteilung« hieß es: »Joseph ist zum ernsten gesammelten Einsatz seiner Kräfte herangereift und hat eine gute charakterliche Haltung.« Das war selbstverständlich eine katholische Schule.

Im Religionsunterricht lernten wir ein Gebet, das ich nicht vergessen habe, an dessen Richtigkeit sich aber meine Zweifel zu entwickeln begannen:

»Herr, schütze unser deutsches Land,

den Führer, den du uns gesandt,

gib Kraft zu seinem Werke.

Von unserem Volke nimm die Not,

gib Arbeit uns und täglich Brot

und Einigkeit und Stärke.«

Bei meiner Schulentlassung war schon ein halbes Jahr lang der Krieg im Gange. Mein Vater wurde bald eingezogen und hatte die Aufgabe bekommen, als Verantwortlicher für den Sicherheits- und Hilfsdienst (SHD) in Düsseldorf nach Bombenangriffen Verschüttete zu bergen, Blindgänger zu entschärfen und Trümmerschutt von den Straßen zu räumen.

Ich begann eine Lehre als Drogist in der Drogerie in Düsseldorf-Derendorf. Mein jüngerer Bruder kam ins Kinderlandverschickungs-Lager. Er sollte Landwirt und später »Wehrbauer« in dem zu erobernden Osten werden.

Wegen der Bombenangriffe wurde meine Mutter mit vier Kindern nach Österreich evakuiert. Später wurde sie wieder nach Düsseldorf zurückgeschickt und – als die Bombenangriffe wieder zunahmen – nach Thüringen evakuiert. Die Familie wurde auseinandergerissen und ich blieb allein in der elterlichen Wohnung.

Tagsüber war ich in der Drogerie mit dem Entwickeln von Filmen und dem Kopieren von Bildern beschäftigt, nachts saß ich öfters im Luftschutzkeller oder mußte helfen, in der Nachbarschaft Brandbomben zu löschen.

Dennoch bin ich, wenn es die Zeit erlaubte, meinem Hobby, dem Schwimmen, nachgegangen. Ich war im Schwimmverein, der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG), hatte den Grund- und den Leistungsschein erworben und nahm oft an der Stromwache der DLRG am Rhein teil.

Der Krieg rückt näher

Wir hatten zu Hause ein Radio mit Akku und Anode. Die interessantesten Informationen erhielt ich aber in der Drogerie in der Dunkelkammer beim Filme- und Bilderentwickeln. Aus der Kaserne in der Nachbarschaft, der »Ludendorf-Kaserne« in Düsseldorf, kamen Soldaten und brachten ihre Fotoarbeiten zum Entwickeln. Das waren u.a. Bilder von der Front oder von der Ausbildung. Abends, wenn die Bilder abgeholt wurden, wenig Kundschaft im Laden war und der Chef nicht drängelte, kam es oft zu Gesprächen. Und da hörte ich andere Töne als im Radio. Manch einer der Soldaten war weniger begeistert vom Kriege.

Nach der Lehre erwartete mich der Reichsarbeitsdienst (RAD) in Allendorf bei Marburg an der Lahn. Das waren drei Monate Ausbildung mit dem Spaten und im Munitionsbunkerbau.

Ich erhielt 14 Tage Abstellurlaub, den ich zu einem Besuch meiner Mutter und den vier Geschwistern in Thüringen nutzte. Das war eine Gelegenheit, um meinen jüngeren Bruder Hans, der auch zu dieser Zeit in Thüringen weilte, zu treffen.

Dann wechselte schnell die Szene. Am 3 Juli 1943 wurde ich zur Wehrmacht eingezogen und hatte Gelegenheit in Lemgo bei Detmold meinen 18. Geburtstag als Rekrut auf dem Exerzierplatz zu verbringen. Dort spielte das Gebet aus dem Religionsunterricht in der Schule und der »Schutz des Führers« schon eine völlig andere Rolle.

Alle meine Hoffnungen waren darauf gerichtet, bald aus diesem Kasernenhofton und der »Schleiferei« herauszukommen. Das geschah am 4. Oktober.

Aber schon am 20. Oktober wurde ich, nach einem kurzen Skilehrgang in Schmallenberg, an der Ostfront eingesetzt.

Sechs Tage später geriet ich in sowjetische Gefangenschaft. Das war die Zeit, als die Front immer näher an Polen und Deutschland heranrückte.

Nach dem, was ich zu Hause ständig über »die Russen« gehört hatte, stieg in mir die Furcht hoch, daß es jetzt mit meinem Leben zu Ende sein könnte. Wir wurden als Gefangene nicht mit Glacehandschuhen empfangen. Die Waffen, soweit wir sie nicht schon weggeworfen hatten, wurden uns abgenommen. Dann hieß es: »Brieftaschen raus! Uhren abgeben!« Essen gab es zunächst nicht, dafür manchmal einen Tritt oder Schlag, wenn wir nicht reagierten, weil die Anweisungen in Russisch keiner verstand. Wir waren die »Fritzen« oder »Hitlerschweine«, diejenigen, die großes Leid über die Sowjetunion gebracht hatten.

Dennoch, wir lebten, der Krieg war für uns zu Ende.

Erstes Nachdenken

Durch meinen Beruf als Drogist hatte ich den Vorteil, im Verbandsraum der Lagerapotheke eingesetzt zu werden. Dort waren sowjetische und auch deutsche Verwundete, die behandelt und verbunden werden mußten.

Ein verwundeter sowjetischer Offizier erkundigte sich nach meiner Herkunft, meiner Heimat. Als ich ihm sagte, daß ich aus Düsseldorf komme, reagierte er in einem recht gutem Deutsch: »Aus der Heinestadt.« Damit konnte ich nichts anfangen und mein Gesprächspartner konnte es kaum glauben, daß ich nicht wußte, wer oder was Heine war. Wie war mir das peinlich, vom Volk der Dichter und Denker zu hören und nichts von Heine zu wissen. Ich erfuhr von diesem Offizier noch, daß Hitler auch die Bücher von Heine habe verbrennen lassen. Seine Aufforderung, mich später in Düsseldorf nach Heine zu erkundigen, ist mir nie aus dem Kopf gegangen.

 

Als Hilfssanitäter in der Gefangenschaft hatte ich oft mit deutschen Verwundeten Gespräche und später, auf dem sowjetischen Verbandsplatz, mit sowjetischen Verwundeten. Dabei gab es auch sehr unangenehme Begegnungen. Oft wurde ich als Faschist oder Fritz – wahrscheinlich bezogen auf den Soldatenkönig Friedrich – bezeichnet. Auch Drohungen und Handgreiflichkeiten waren nicht selten. In diesen Situationen stand mir die Chefärztin, Frau Dr. Lauchina aus Orel, zur Seite. Sie, in Offiziersuniform, erklärte den neu von der Front gekommenen Verwundeten, daß ich kein Faschist, sondern ein Antifaschist sei. Und wieder wußte ich mit diesem Begriff nichts anzufangen.

Bald aber wurde ich aufgeklärt und es begann eine neue Peinlichkeit. Nämlich als in Gefangenschaft geratene und verwundete Deutsche eintrafen, die mich, als sie vom Antifaschisten hörten, oft schief ansahen.

Für mich wurde die Gefangenschaft, die Arbeit im Feldlazarett, eine Zeit, in der es über vieles nachzudenken gab.

Und was das Essen betrifft, wir bekamen nicht weniger als die sowjetischen Soldaten. Das war mehr als die Zivilisten hinter der Front erhielten, dort, wo die deutsche Wehrmacht eine verbrannte Erde hinterlassen hatte.

Auf dem Weg in die Heimat

Als Sanitäter wurde ich für Transporte von arbeitsunfähigen Gefangenen nach Deutschland, Frankfurt an der Oder, eingesetzt. Beim zweiten Transport gab es in Landsberg an der Warte einen Aufenthalt, weil Brennmaterial für die Lokomotive beschafft werden mußte. Da kam eine Gruppe von Zivilisten auf uns zu. Es waren Frauen und Kinder, die nach Deutschland wollten.

Auf meine Frage an den sowjetischen Zugkommandanten erklärte er: »Wenn deine Frau dabei ist, nehme ich die Leute mit, aber nicht zusammen mit den Gefangenen in einem Güterwagen«.

Ich schloß daraus, einen Waggon für die Zivilpersonen auslagern zu lassen. Vor unserer Ankunft in Frankfurt/Oder gab ich einer Frau, die mit ihrer Mutter und ihrem vierjährigen Jungen unterwegs war, die Adresse meiner Eltern. Ich bat sie, ihnen zu schreiben, daß ich lebe und in sowjetischer Kriegsgefangenschaft sei.

Das hat sie, wie ich später erfahren konnte, auch getan.

Entgegen meinen Vermutungen wurde ich schon am 11. Dezember 1945 in Frankfurt/Oder aus der Gefangenschaft entlassen. Über Berlin-Staaken, Münster, Wetze am Niederrhein ging es nach Düsseldorf. Am 22. 12. 1945 traf ich, 20 Jahre jung, aus Krieg und Gefangenschaft bei der Familie ein. Kurz zuvor war mein Vater, 45-jährig, aus englischer Gefangenschaft nach Hause gekommen, ebenso der jüngere Bruder mit 16 Jahren aus sowjetischer Gefangenschaft.

Meine Mutter war mit den vier kleineren Geschwistern aus Thüringen gekommen.

Nach der Trennung waren wir jetzt wieder alle zusammen in Düsseldorf, der »Heine-Stadt«, in der ich meine Kindheit und die Bombennächte erlebt hatte.

Der Krieg war zu Ende. In Düsseldorf hatten Antifaschisten eine große Anschlagstafel aufgestellt, auf der ich lesen konnte:

»243 Luftangriffe, 1.100.000 Brand- und Sprengbomben, 27.000 Brände in Düsseldorf, zerstört wurden 24.000 Häuser, 6000 tote Frauen und Kinder liegen unter 10 Millionen Kubikmetern Schutt. 4000 Kriegsversehrte und 49.000 Hinterbliebene, 3500 jüdische Düsseldorfer in Konzentrationslagern vergast oder anders umgebracht. Über 4000 aktive Hitlergegner in Düsseldorf haben ihr Leben geopfert, in 110 Prozessen wurden 1800 Angeklagte zu 4900 Jahren Haft verurteilt. Unzählige sind ohne Verfahren inhaftiert und misshandelt worden.

Die Bevölkerung blieb trotz aller Warnungen und trotz des Kampfes der Antifaschisten in Düsseldorf weitgehend taub und teilnahmslos.«

Dieser letzte Satz hatte sicher nicht nur für Düsseldorf seine Gültigkeit.

Der Krieg, den der deutsche Faschismus/Militarismus begonnen und der über 50 Millionen Tote gefordert hatte, war nun zu Ende.

Die Folgen, die Opfer und Wunden waren allgegenwärtig: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Die Schuldigen müssen zur Verantwortung gezogen werden!

Aber wir mußten uns auch den Fragen stellen, was wir getan, geduldet oder aktiv mitgemacht hatten. Interessant war für mich, daß meine Verwandten und Bekannten immer wieder mitleidig fragten, wie die Russen uns behandelt hätten und nie auf den Gedanken kamen, die Frage nach den Ursachen der Gefangenschaft zu stellen. Bei aller Ungewißheit, bei allen Zweifeln mußten wir uns diesen Fragen, mußten wir uns der Geschichte stellen.

Das war die Situation, in der ich die Unsinnigkeit, ja die Gefahr, erkannte, die u.a. mit dem Gebet der Kirche, für den »Führer Schutz und Stärke« zu fordern, verbunden war.

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