Rawanni und der Drogenboss

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Jerry sah sie an und glaubte ihre Augen glühen zu sehen. „Kann ich jetzt gehen?“

„Steig wieder ein“, forderte sie ihn auf, „und bring uns zu einem Arzt!“

„Fahr doch selbst!“

„Ich kann nicht Auto fahren.“

„Was? Nun brat mir doch einer 'nen Storch. Wie alt bist du denn?“

„Ich habe gesagt, du sollst einsteigen.“ Ihre Augen verengten sich, während sie den Lauf der Waffe anhob.

„Okay, okay, ich steig ja ein.“

Rawanni nahm wieder hinten Platz und legte den Kopf des Bewusstlosen in ihren Schoß.

„Wo soll ich hinfahren?“

„Ich weiß nicht, du kennst dich doch sicherlich hier aus.“

„Zum Krankenhaus?“

„Ja, gut. Und Jerry: tu nichts, was mich veranlassen könnte auf dich zu schießen.“

„Nein.“ Er sah in den Rückspiegel und ihre Blicke trafen sich. Er hatte im Augenblick tatsächlich nicht die Absicht etwas gegen sie zu unternehmen, denn sie fing an ihn zu interessieren. Sie war wirklich außergewöhnlich schön und besaß großen Mut. Und fürs Bett war sie sicherlich auch gut geeignet, bestimmt noch Jungfrau. Er leckte sich über die Lippen.

„Was ist das?“, fragte Rawanni während der Fahrt und riss ihn aus seinen erotischen Gedanken. Sie hielt ihm ein Abzeichen entgegen.

„Das ist eine Polizeimarke.“

„Ihr wolltet einen Polizisten töten?“

„Du kennst ihn nicht?“

„Nein.“

„Und warum willst du ihm helfen? Er hätte auch ein Mörder sein können.“

„Dann hätte ich auch verhindert, dass ihr ihn tötet.“

Jerry betrachtete sie verwundert im Rückspiegel.

Sie studierte inzwischen den Ausweis und las seinen Namen: Pete Dickson. Er war 30 Jahre alt. Dann steckte sie den Ausweis wieder zurück. „Warum wolltet ihr ihn töten?“

„Er kam uns in die Quere.“

Sie durchsuchte weiter die Taschen des Polizisten und fand ein Taschentuch, mit dem sie ihm das Blut aus dem Gesicht wischte. Das rechte Auge war bereits zugeschwollen, die Nase schien gebrochen und an der Schläfe klaffte eine Platzwunde.

Er wachte auf und stöhnte vor Schmerzen.

„Keine Sorge, Mr Dickson“, beruhigte sie ihn, „wir sind gleich beim Krankenhaus.“

Sein Kopf lag noch immer in ihrem Schoß, während sie sanft über seine Haare streichelte. Sein linkes Auge suchte nach dem Gesicht zu der angenehmen Stimme.

„Was ... ?“ Er verstummte vor Schmerzen, als er tiefer Luft holte. Offenbar waren auch Rippen gebrochen.

„Reden Sie besser nicht, Sie werden gleich ärztlich versorgt.“

Jerry fuhr inzwischen die Auffahrt zur Notaufnahme des Krankenhauses hinauf. Zwei Sanitäter eilten kurz darauf herbei und legten Dickson auf eine fahrbare Liege.

„Er wurde zusammengeschlagen. Er ist Polizist“, rief sie aus dem Wagen den Sanitätern zu.

Sie nickten und schoben ihn ins Innere.

„Was nun?“, fragte Jerry und drehte sich zu ihr um, sein Arm lag auf der Rückenlehne. Das erste Mal sah er sie bei heller Beleuchtung. Mann, war die schön!

„Wir können den Wagen hier nicht stehen lassen“, meinte sie.

„Es gibt eine Tiefgarage.“

„Dann fahr da hin.“

Rawanni wunderte sich, dass er es ohne zu zögern tat. Er hätte sie jetzt ohne Weiteres verlassen können, denn sie drohte ihm nicht mehr mit der Waffe, die zu ihren Füßen lag. Er zeigte nur ein Grinsen und lenkte den Wagen in die unteren Geschosse des Krankenhauses, wo er in einer Parkbucht anhielt und den Motor abstellte.

Beide stiegen aus. Jerry blieb vor ihr stehen, schob die Hände lässig in die Hosentaschen und betrachtete sie eingehend mit seinen intensiven blauen Augen. Sie war unbewaffnet. Warum? Er hätte jetzt alles mit ihr machen können, aber irgendetwas hielt ihn davon ab.

Rawanni musterte ihn ebenso genau. Er musste noch jung sein, nicht älter als 18. Seine hellblonden Haare hingen ihm zerzaust in die Stirn, im Nacken waren sie sehr kurz geschnitten.

„Du kannst jetzt gehen“, sagte sie ohne ein Anzeichen von Angst und sah ihm fest in die Augen. „Vielen Dank für deine Hilfe.“

„Wie heißt du?“

„Rawanni.“

Leise wiederholte er ihren Namen, er wollte sich ihn genau einprägen, denn dieses Mädchen würde er nicht so schnell vergessen. Er lächelte und ging langsam rückwärts, dann verschwand er durch einen der Ausgänge.

Rawanni verstaute das Gewehr wieder in dem Lederbeutel, hängte ihn zusammen mit ihrer anderen Tasche über die Schulter, schloss den Wagen ab und ging zum Aufgang. Da sie einen Fahrstuhl nicht kannte, nahm sie die Treppe bis zum Haupteingang. Unsicher blickte sie sich um und suchte nach einer Person, die sie fragen konnte. Beim Informationsschalter half ihr eine nette Dame weiter. Dickson wurde noch behandelt, daher wartete sie in einem Raum, den die Frau ihr zeigte, bis man ihr Bescheid geben würde.

Sie hatte noch nie ein Krankenhaus gesehen, ständig liefen Menschen in weißen Kitteln hektisch ihn und her. Es wirkte alles so unpersönlich, niemand schien Zeit für den anderen zu haben, aber es gab sicherlich viele Kranke, die versorgt werden mussten.

Nach einer Stunde trat ein älterer Herr aus dem Fahrstuhl, hinter ihm eine junge Frau und ein Farbiger. Rawanni hörte, wie er bei der Information nach Pete Dickson fragte. Sie wurden ebenso zum Warten im Aufenthaltsraum aufgefordert.

Die drei nickten ihr kurz zum Gruß zu und setzten sich auf die Stühle ihr gegenüber.

„Verzeihung“, wandte Rawanni sich an die drei, „sind Sie Bekannte von Mr Dickson?“

Der ältere Herr mit den ergrauten Haaren und dem freundlichen Gesicht sah sie neugierig an. „Sie kennen Pete?“

„Kennen ist zu viel gesagt, ich habe ihn gefunden und würde gerne wissen wie es ihm geht, bevor ich wieder gehe.“

„Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“

„Sind Sie auch von der Polizei?“, fragte Rawanni vorsichtig.

„Ja, aber Entschuldigung, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt: Ich heiße Jeff Andrews, das sind Peggy Milton und Dan Williams. Sie arbeiten für mich, ebenso wie Pete Dickson. Ich leite eine Sonderabteilung der hiesigen Polizei.“

„Mein Name ist Rawanni“, stellte sie sich ebenfalls vor. „Ich habe zufällig gesehen, wie Mr Dickson von vier Männern zusammengeschlagen wurde und konnte gerade noch verhindern, dass sie ihn töteten. Einer der Männer, er heißt Jerry, hat mir dann geholfen, Mr Dickson ins Krankenhaus zu fahren.“

Alle blickten sie überrascht an. Ihre schlicht vorgetragenen Worte konnten sie nicht recht begreifen.

„Willst du damit sagen“, fragte Peggy Milton, „du hast dich diesen Männern allein entgegengestellt?“

„Und wie hast du diesen Jerry dazu gebracht“, fragte Dan Williams, ohne eine Antwort abzuwarten, „Pete ins Krankenhaus zu fahren?“

Rawanni lächelte. „Ich musste ein bisschen hiermit nachhelfen.“ Sie klopfte dabei auf ihren Lederbeutel. „Auf meine netten Worte allein hätte sicherlich niemand gehört.“

„Dürfen wir mal sehen?“ Jeff Andrews erhob sich neugierig.

Rawanni öffnete den Beutel und zog das Gewehr heraus.

„Donnerwetter!“, entfuhr es ihm.

„Und da ich nicht Auto fahren kann“, erklärte sie weiter, „brauchte ich Hilfe.“

Die drei wechselten ungläubige Blicke. Peggy fand als Erste die Worte wieder und umarmte sie spontan. „Danke. Pete hat dir sein Leben zu verdanken. Du bist sein Schutzengel.“

In diesem Augenblick trat der Arzt auf sie zu: „Sind Sie die Angehörigen von Mr Dickson?“

„Ich bin sein Vorgesetzter, Jeff Andrews.“ Er zeigte seinen Dienstausweis.

Der Arzt warf einen kurzen Blick darauf. „Mr Dickson geht es den Umständen entsprechend gut. Er hat mehrere Rippenbrüche und zahlreiche Prellungen, die Milz ist gerissen … wir mussten operieren und konnten sie Gott sei Dank retten. Alles in allem hat er sehr viel Glück gehabt, vor allen Dingen weil er so schnell ins Krankenhaus gebracht wurde. Er wird bald wieder auf dem Damm sein.“

„Können wir ihn sehen?“

„Ja, aber er befindet sich noch in der Narkose. Die Schwester wird Ihnen Bescheid geben, wenn er aufwacht.“

„Danke, Doktor.“

Während der Wartezeit unterhielt Rawanni sich mit Andrews und seinen Mitarbeiter aufs Angenehmste. Diese Menschen traten ihr offen und herzlich entgegentraten und daher waren sie ihr gleich von Anfang an sympathisch. Sie erzählte bereitwillig über ihr Leben, als sie nach ihrer Herkunft gefragt wurde, und auch Andrews und seine beiden Mitarbeiter berichteten von ihrer Arbeit. Er war Polizeichef von Denver gewesen und jetzt im Ruhestand, doch er hatte nicht einfach die Hände in den Schoß legen können, dazu liebte er seine Arbeit zu sehr. Daher hatte er nach seiner Pensionierung eine Sonderabteilung der Polizei von Denver gegründet, um sich alten, ungeklärten Fällen zu widmen. Er arbeitete von seinem eigenen Haus aus, in dem auch seine drei Mitarbeiter wohnten. Als Andrews erfuhr, dass Rawanni keine Unterkunft hatte, bot er ihr spontan ein Zimmer in seinem Haus an, dies war zumindest ein kleiner Dank für die Rettung von Pete, wie er meinte. Rawanni nahm die Einladung gerne an, da sie im Augenblick sowieso nicht wusste, wo sie schlafen sollte.

Als Dickson aufgewacht war, brachte eine Krankenschwester sie zu seinem Krankenzimmer, mahnte aber zu einem kurzen Besuch, um den Patienten nicht zu überanstrengen.

Er hatte die Augen geöffnet, wirkte aber noch sehr benommen. Die Platzwunde am Kopf und die gebrochene Nase waren versorgt worden, das Auge war immer noch zugeschwollen und schränkte sein Blickfeld ein.

„Hi, Pete“, begrüßte Andrews ihn herzlich.

„Hallo … “, krächzte er mit belegter Stimme und versuchte ein schwaches Lächeln.

 

„Alter Junge“, murmelte Dan ergriffen. „Was machst du nur für Sachen? Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht. Das nächste Mal gehst du aber nicht wieder allein los.“

„Versprochen.“

„Wir hätten dich sehr vermisst, wenn du draufgegangen wärst“, meinte Peggy gerührt und streichelte über seinen Arm.

„Ich weiß gar nicht“, überlegte Pete, „wie ich da rausgekommen bin. Ich kann mich nur noch an ein wunderschönes Gesicht erinnern, an schwarze, lange Haare und leuchtende dunkle Augen. Das waren wahrscheinlich schon Hirngespinste auf dem Weg ins Jenseits.“

Alle drei fingen an zu grinsen und blickten hinüber zu Rawanni, die abseits stehen geblieben war.

„Ja, dieses wunderschöne Gesicht“, meinte Andrews, „haben wir auch gesehen. Er hielt Rawanni die Hand entgegen und zog sie näher.

„Was?“

Andrews schob sie dicht ans Bett. „Darf ich vorstellen: das ist Rawanni, dein Schutzengel. Ohne sie würdest du wahrscheinlich nicht mehr unter uns weilen.“

Pete lächelte sie an und hob die Hand.

Rawanni ergriff sie. „Es freut mich, dass ich helfen konnte“, sagte sie zaghaft, fast schüchtern.

„Mein Engel“, hauchte er leise und hatte Mühe, das unverletzte Auge offen zu halten.

„Wir sollten dich jetzt besser in Ruhe lassen“, mahnte Andrews. „Wir kommen morgen wieder.“

„Kommt mein Engel auch mit?“

Jeff Andrews stand hinter Rawanni und legte die Hände auf ihre Schultern. „Natürlich, dafür sorgen wir schon. Sie wird erst einmal bei uns wohnen, so schnell lassen wir sie nicht wieder gehen.“

Pete lächelte müde und ließ ihre Hand los.

„Ich werde besser einen Beamten vor deinem Zimmer postieren“, überlegte Andrews. „Vielleicht hat jemand die Absicht dich doch noch loszuwerden, denn sie wissen wo du bist.“

Pete nickte nur, dann fiel ihm auch das nicht verletzte Auge zu. Leise verließen sie das Zimmer, um ihm die nötige Ruhe zu gönnen.

Jeff Andrews telefonierte kurz, um die Bewachung von Pete zu veranlassen. Rawanni übergab Dan den Schlüssel von Petes Wagen, den er nach Hause zurückfuhr, während sie bei Andrews und Peggy mitfuhr.

Nach einer Stunde Fahrzeit erreichten sie das hellblau gestrichene Holzhaus mit den weiß abgesetzten Fensterrahmen. Es lag in einer reinen Wohngegend in einem Vorort von Denver mit schmucken Einfamilienhäusern und gepflegten Gärten.

Peggy nahm Rawanni gleich bei der Hand und führte sie die Treppe hinauf zu einem geräumigen Zimmer, in dem ein großes Bett stand. Ein kleines Sofa, vor dem Fenster ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und zwei kleinere Schränkchen mit offenen Regalen gab es ebenfalls. Sogar ein Fernseher fehlte nicht. Staunend drehte Rawanni sich im Zimmer herum, während Peggy sie mit einem Schmunzeln dabei beobachtete. Aus dem Fenster blickte sie in einen großen, beleuchteten Garten hinunter, in dem viele Bäume und Blumen wuchsen. Gartenmöbel unter einem Schatten spendenden Baum luden zum Faulenzen ein.

„Ist das Zimmer etwa für mich ganz allein?“

„Ja, und hier hast du noch dein eigenes Bad.“ Peggy öffnete die Tür zu dem kleinen Raum.

„Mr Andrews scheint wirklich sehr nett zu sein.“

„Ja, das ist er. Es macht viel Freude für ihn zu arbeiten, er ist für uns eher wie ein Vater. Dass wir hier gleichzeitig wohnen können, ist natürlich ein großer Vorteil.“

„Hat er keine Ehefrau?“

„Nein, seine Frau ist schon vor zehn Jahren gestorben. Eigene Kinder haben sie nicht und so sind wir jetzt für ihn seine Kinder, wie er immer betont.“ Sie schmunzelte. „Hast du noch Hunger?“

„Nein.“

„Gut, dann besorge ich dir noch Bettwäsche und Handtücher. Morgen früh wirst du dann unsere gute Seele Grace kennenlernen. Sie ist die Haushälterin und sorgt für Ordnung im Haus und unser leibliches Wohl. Sie ist eine hervorragende Köchin und ... ich würde sogar sagen, sie hat die Mutterrolle inne. Man kann mit ihr über alles reden. Sie ist ein wahrer Schatz.“

Peggy ging kurz hinaus und kam mit einem Arm voller Wäsche zurück, bezog rasch das Bett, während sie weiter plauderte, und legte dann noch die Handtücher ins Bad.

„Im Bad findest du Seife und eine Zahnbürste. Brauchst du sonst noch etwas?“

„Nein …- Ihr seid alle so nett zu mir“, meinte Rawanni sichtlich gerührt.

Peggy lächelte und umarmte sie. „Das ist doch das Mindeste, was wir für dich tun können. Vielleicht gefällt es dir bei uns und du bleibst etwas länger. Noch eine Frau im Haus wäre gar nicht so schlecht“, meinte sie lächelnd. „So, nun leg dich schlafen. Die Nacht ist schon fast vorbei. Gute Nacht, Rawanni.“

„Gute Nacht und danke.“

Sie stand allein im Zimmer und blickte sich um. Alles war so fremd für sie. Erste Erfahrungen mit der Benutzung der Toilette und den Wasserhähnen hatte sie ja bereits im Motel gemacht. Es kam sogar warmes Wasser aus dem Hahn, nur das Bett bereitete wieder Probleme.

Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür. Es war Peggy die gleich anfing hinter vorgehaltener Hand zu kichern, als sie Rawanni auf dem Fußboden vor dem Bett liegen sah. „Was machst du denn da?“

„Ich konnte im Bett nicht schlafen, es ist so weich“, gab sie verlegen zu.

„Na, daran wirst du dich sicherlich noch gewöhnen. Ich wollte dich holen. Grace hat das Frühstück bereitet und danach wollen wir alle Pete besuchen. Hier, ich habe dir ein paar von meinen Sachen mitgebracht, die werden dir sicherlich passen.“ Sie legte mehrere T-Shirts, Blusen und zwei Jeans aufs Bett. „Wenn du fertig bist komm runter.“ Sie ließ sie wieder allein.

Rawanni ging ins Bad, duschte und zog Peggys Sachen über. Die Hose passte wie angegossen. Über das weiße T-Shirt streifte sie eine der karierten Blusen, die sie offen ließ. Während sie die Treppe hinunterging, betrachtete sie neugierig die Bilder, die an den Wänden hingen und vorwiegend Landschaften zeigten. Das Haus wirkte hell und freundlich. Sie folgte den Stimmen, die aus dem Esszimmer drangen. Alle saßen an einem großen Tisch und blickten auf, als sie den Raum betrat.

Peggy stand gleich auf und stellte ihr Grace vor. Sie war eine Farbige, Mitte 40 und dunkler als Dan, sehr rundlich und mit einem herzerfrischenden Lachen. Sie kam gleich mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und drückte sie an ihre breite, üppige Brust.

„Da ist ja Petes Schutzengel und sie sieht wirklich wie ein Engel aus. Dich muss unser Herrgott geschickt haben. Setz dich, ich habe für dich mein bestes Frühstück zubereitet.“ Grace verschwand mit kleinen Trippelschritten in die angrenzende Küche.

Jeff, Dan und Peggy grinsten amüsiert. Rawanni wusste gar nicht, was sie sagen sollte.

Grace türmte Berge von Essen vor ihr auf. „Nun iss tüchtig mein Kind, du bist ja spindeldürre“, stellte sie mütterlich fest.

„Wir kriegen nie solche Mengen zum Frühstück“, murrte Dan neckend.

„Ihr habt ja auch nicht Pete das Leben gerettet“, brummte Grace mit ihrer tiefen Stimme, „und außerdem kann Rawanni etwas mehr auf den Rippen vertragen.“ Sie lachte und zeigte dabei ihre strahlend weißen Zähne, dann schaukelte sie zur Kaffeemaschine, um allen nachzuschenken.

Rawanni schaffte nur einen Bruchteil der herrlichen Speisen, obwohl es hervorragend schmeckte. Sie spürte die große Harmonie in diesem Haus und fühlte sich von Anfang an wohl bei diesen Menschen. Niemand zeigte irgendwelche Vorbehalte gegenüber ihrer Herkunft, sie wurde wie Ihresgleichen behandelt.

Über alles hielt Jeff Andrews seine lenkende Hand und er fühlte sich selbst eher als Vater einer Familie. Er war 65 und sein freundliches Gesicht strahlte Güte und Wärme aus, aber auch Entschlossenheit und Durchsetzungskraft. Sein dichtes, graues Haar bestand aus widerspenstigen kleinen Locken, die ihm einen humorvollen Ausdruck verliehen, ebenso wie seine Lachfältchen an den Augenwinkeln.

Peggy Milton war die Computerspezialistin des Teams, 28, gertenschlank und mit einer blonden, langen Löwenmähne gesegnet. Sie sprühte vor überschäumender Lebensfreude und konnte jeden im Haus schnell wieder aufmuntern, wenn er mal deprimiert war. Ihr messerscharfer und analytischer Verstand fügte manches Puzzle zusammen.

Der breitschultrige Dan Williams steuerte neben seinem Fachwissen auch eine Portion Muskeln bei, die zwar selten, aber doch hin und wieder eingesetzt werden mussten. Der 32-jährige war der ruhige und besonnene Pol des Teams. In der Reihe seiner schwarzen Vorfahren gab es einige Vermischungen mit Weißen, was ihm eine schöne hellbraune Hautfarbe vermacht hatte, die seine wohlgeformten Gesichtszüge noch attraktiver zur Geltung brachte.

Der zwei Jahre jüngere Pete Dickson war genau das Gegenteil von seinem Freund und Partner Dan: quirlig und immer zu Späßen aufgelegt. Seine dunkelblonden Locken wellten sich frech bis zum Nacken und gaben ihm einen lausbubenhaften Touch. Wenn es notwendig war, konnte er ebenfalls seine Fäuste einsetzen, doch diesmal hatte es ihm nicht geholfen.

Nach zwei Wochen wurde Pete endlich aus dem Krankenhaus entlassen, nachdem er die Krankenschwestern so lange genervt hatte, bis sie ihn lachend hinauswarfen. Doch sollte er sich in den nächsten Tagen noch schonen und daher verbrachte er die meiste Zeit im Haus oder Garten.

Rawanni leistete ihm sehr gerne Gesellschaft, während die anderen ihrer Arbeit nachgingen. Pete erzählte ihr eine Menge über die Art ihrer Tätigkeiten, und sie begann sich immer mehr dafür zu interessieren. Oft sah sie Peggy am Computer über die Schulter und auch von Jeff erhielt sie genauere Einblicke in die Fälle, die sie gerade bearbeiteten. Er bemerkte ihre schnelle Auffassungsgabe und ihr logisches Denken. Während er und seine Mitarbeiter über manchen Fällen mit rauchenden Köpfen saßen und nach der Lösung suchten, fand Rawanni sie spontan durch ihr gradliniges Denken. Die anderen waren zu sehr eingefahren in ihre oftmals komplizierte Denkweise, sodass sie das Einfachste gar nicht auf Anhieb erkannten. Jeff lachte jedes Mal und meinte, sie sähen den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Rawanni wohnte jetzt bereits vier Wochen bei Jeff Andrews, obwohl es ihr unangenehm war, dass Jeff für ihren Unterhalt aufkam, aber er bestand darauf, denn sie würde ja schließlich einiges zu ihren Fällen beitragen. In der Tat hatte sie das Gefühl, er würde auch in ihr inzwischen eine Tochter sehen.

Eines Tages rief er sie zu sich ins Wohnzimmer: „Hast du dir schon einmal überlegt“, fing er mit einem väterlichen Ton an und faltete die Hände im Schoß, „wie dein weiteres Leben aussehen soll?“

„Nein“, gestand sie, „soweit habe ich noch nicht gedacht.“

Er lächelte nachsichtig. „Ja, das habe ich geahnt. Ich sehe, wie viel Spaß dir unsere Arbeit macht. Du kannst dich sehr gut in das Verhalten eines Verbrechers hineinversetzen, hast eine schnelle Auffassungsgabe und kannst gut kombinieren. Was hältst du davon bei uns zu bleiben und zur Schule zu gehen, um später als Polizistin zu arbeiten?“

Ihre großen Augen sahen ihn fragend an. „Was? Du meinst, ich könnte … ?“

„Ja, mit Sicherheit. Wir werden dich zunächst unterrichten“, schlug er weiter vor, „bis deine gröbsten Wissenslücken aufgefüllt sind und du dann eine Schule besuchen kannst. Mit dem Abschluss einer Highschool kannst du weiter zur Polizeiakademie. Es wird natürlich eine große Umstellung für dich sein, vor allen Dingen musst du einem festen Tagesrhythmus mit vorgegebenen Aufgaben folgen. Es gehört eine Menge Disziplin dazu. Wenn du bereit bist diese Regeln anzunehmen, wirst du es schaffen, davon bin ich fest überzeugt. Bis du Polizistin bist, kannst du uns weiterhin hier bei einigen Fällen helfen und dabei schon viel für die Zukunft lernen. Ich empfehle dir, frühzeitig mit einem speziellen Kampftraining anzufangen und auch den Umgang mit Waffen zu üben, umso besser bist zu später. Wir würden uns alle freuen, wenn du bei uns bleibst. Na, was sagst du dazu?“

Sie war sehr überrascht über sein Angebot. „Glaubst du wirklich, ich könnte das schaffen?“

„Warum nicht? Inzwischen kenne ich dich gut genug, um sagen zu können, dass du die entsprechenden Fähigkeiten für eine Polizistin mitbringst.“

Rawanni lächelte gerührt und war zunächst sprachlos. Sie dachte an Harry, den Trucker, der ihr gesagt hatte sie bräuchte einen Beruf, wenn sie allein in einer Stadt leben wolle. Jeff bot ihr diese Möglichkeit, die sie wahrscheinlich nie wieder erhalten würde, ansonsten bliebe ihr nur die Rückkehr ins Reservat. Aber wollte sie so leben, wie die letzten 13 Jahre? Nein! Sie stimmte zu.

Peggy, Pete und Dan waren ebenso begeistert über ihre Entscheidung. Jeff hatte zuvor natürlich mit ihnen darüber gesprochen, denn auf die drei kam eine große Aufgabe zu.

 

Sie halfen Rawanni dabei, die schulischen Grundkenntnisse, die sie bisher versäumt hatte, nachzuholen. Außerdem erhielt sie Unterricht von einem Privatlehrer, der ihr in den folgenden zwei Jahren fundiertes Wissen vermittelte, damit sie schließlich eine Highschool besuchen konnte.

Nebenbei erlernte sie verschiedene Kampftechniken und auch den Gebrauch von Schusswaffen. Es beeindruckte sie sehr, dass sie trotz ihrer geringen Körperkräfte einen ausgewachsenen, Mann mit wenigen Griffen zu Boden werfen konnte. Obwohl sie Gewalt ablehnte und hoffte niemals damit in Berührung zu kommen, war sie doch eine gelehrige und gute Schülerin. Sollte sie jemals angegriffen werden, musste sie sich verteidigen können, ihr Leben konnte davon abhängen.

Was das Schießen anging, hatte ihr Großvater bereits einige Vorarbeit geleistet, denn sie waren oft jagen gegangen. Fleisch war ihre Hauptnahrungsquelle, außerdem konnten aus den Fellen und anderen tierischen Bestandteilen viele Dinge für das tägliche Leben hergestellt werden. Die Benutzung eines Gewehres hatte also schon früh zu ihrem Leben gehört. Doch sie empfand auch hierbei eine große Ablehnung Waffen auf Menschen zu richten, ganz zu schweigen davon auch auf sie zu schießen, obwohl sie bewiesen hatte, dass sie dies konnte wenn es darauf ankam. Jeff, Peggy, Pete und Dan erklärten ihr, dass es manchmal notwendig sei sie zu benutzen. Ein Verbrecher kannte keine Skrupel abzudrücken. Auch als Drohung erfüllte eine Schusswaffe oftmals ihren Zweck. Aber wenn man angegriffen wurde musste man in der Lage sein sie abzufeuern, nur eine Sekunde des Zögerns konnte für einen selbst den Tod bedeuten. Rawanni hoffte, dass dieser Fall niemals eintreten würde, auch wenn es nur in Notwehr geschah. Deshalb trainierte sie mehr als andere, um ihre Treffsicherheit sowie ihr Reaktionsvermögen so gut auszubilden, dass sie den Gegner möglichst nur verletzte. Bald beherrschte sie verschiedene Waffen in höchster Perfektion.

Da Rawanni noch minderjährig war, wurde Jeff als Vormund eingesetzt, um auch den gesetzlichen Bestimmungen Genüge zu tun. Dazu übernahm er sämtliche Kosten ihrer Ausbildung — ein mehr als großzügiges Angebot.

In den folgenden zwei Jahren lernte sie vieles, was andere Mädchen in ihrem Alter längst wussten. Es war wie ein großes Abenteuer und jeden Tag kam etwas Neues hinzu, was sie wissbegierig aufnahm. Durch das Fernsehen erfuhr sie, wie es in anderen Teilen der Welt aussah. Sie hätte dies alles niemals für möglich gehalten.

Doch oft fehlte ihr die ungezwungene Freiheit und sie fühlte sich manchmal wie in einem Gefängnis. Jeff hatte ihr anfangs gesagt, welche große Umstellung es für sie bedeuten würde, und er zeigte viel Verständnis, wenn sie wieder mal von dieser inneren Unruhe ergriffen wurde. Er gab ihr den nötigen Freiraum und fuhr mit ihr dann jedes Mal zwei, drei Tage in die nahegelegenen Berge, wo sie wieder Kraft tanken konnte. Auch Pete und Dan begleiteten sie öfters, denn die beiden angelten gerne und konnten ihrem Hobby bei dieser Gelegenheit endlich mal wieder nachgehen.

Nach zwei Jahren, seit ihrem Zusammentreffen mit der neuen Welt, war es endlich soweit: Es war ein ungewöhnlicher Werdegang, aber Jeff Andrews verfügte über die entsprechenden Kontakte und so spielten auch die Behörden mit. Die Prüfungen, die Rawanni mit ausgezeichneten Noten bestand, berechtigten sie zum Besuch einer Highschool. Der erste Schritt war getan.

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