Rawanni und der Drogenboss

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Rawanni und der Drogenboss
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Emma Baro














Rawanni







und







der Drogenboss














Band 1






Imprint




Rawanni und der Drogenboss



Band 1



Emma Baro



published by: epubli GmbH, Berlin



www.epubli.de



Copyright: © 2013 Emma Baro



ISBN 978-3-8442-6924-6



Lektorat: Erik Kinting /

www.buchlektorat.net



Covergestaltung: Erik Kinting






Inhalt





Imprint







Inhalt







Kapitel 1







Kapitel 2







Kapitel 3







Kapitel 4







Kapitel 5







Kapitel 6







Kapitel 7







Kapitel 8







Kapitel 9







Kapitel 10







Kapitel 11







Kapitel 12







Kapitel 13







Werbung







Kapitel 1





1987, Wind River Reservat in Wyoming, USA





Die Tränen rollten über ihre Wangen und benetzten das tief zerfurchte Gesicht ihres Großvaters. Er war tot. Wie sollte ihr Leben jetzt weitergehen?




Rawanni war gerade 13 Jahre alt und ihr Großvater der einzige Familienangehörige, den sie kannte. 13 Jahre hatte sie mit ihm in der Einsamkeit der Rocky Mountains gelebt. Hierhin hatten ihn viele bittere Erfahrungen getrieben … Sein ältester Sohn war von einem Weißen ermordet worden; er musste miterleben, wie der Mörder aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde. Eine mehr als zweifelhafte Entscheidung, denn die Aussagen der indianischen Zeugen, die den Mörder belasteten, wurden ignoriert. Als seine Frau wenig später aus Kummer starb, hatte er endgültig mit der Welt abgeschlossen und sich in die Wildnis zurückgezogen.



Fünf Jahre lang vermied er jeglichen Kontakt zu anderen Menschen, auch zu seinen Verwandten. Dann brachte vor 13 Jahren seine Enkelin wieder Freude in sein Leben. Damals kam sein jüngster Sohn, vom Schmerz gebeugt, mit einem kleinen Bündel auf dem Arm den Berg hinauf zu seiner Hütte. Bei der Geburt des kleinen Mädchens war die Mutter gestorben. Sein Sohn hatte den Anblick des Kindes nicht mehr ertragen und vermochte es nicht aufzuziehen. Er gab dem kleinen Mädchen die Schuld am Tod seiner geliebten Frau.



Rawanni hatte niemals ihren Vater kennengelernt, sie wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Ihr Großvater gab ihr die ganze Liebe seines Herzens und brachte ihr alles bei, was sie zum Überleben in der Wildnis wissen musste. Sie erlebte eine glückliche Kindheit in einer wilden, unberührten Natur. Aber ihr Großvater war auch klug genug, ihr von der Welt der Weißen zu erzählen, denn irgendwann würde die Zeit kommen, in der sie auf sie treffen würde, und dann musste sie vorbereitet sein. Er brachte ihr Lesen und Schreiben bei und die Sprache der Weißen.



Er selbst war von der Regierung noch gezwungen worden, die Schule der Weißen zu besuchen und sich von den indianischen Traditionen und Werten zu distanzieren. Dazu wurde er von den Eltern getrennt, um in einem Internat zu leben. Ein schwerwiegender Fehler, der erst spät eingesehen wurde. Trotzdem gerieten die alten Sitten und Gebräuche niemals in Vergessenheit, denn die Art, wie der weiße Mann zu leben, führte für sein Volk in den wenigsten Fällen zu einem besseren Leben, es war nicht

ihr

 Leben. Die Denkweise des weißen Mannes war nicht mit den indianischen Werten zu vereinbaren, weder vor 100 Jahren noch heute. Die kulturelle Identität musste bewahrt werden, und der alte Glaube spielte dabei eine zentrale Rolle. Er bedeutete innere Stärke, Tapferkeit, Mut, Mitgefühl, Großherzigkeit und Respekt vor dem Nächsten — Werte, die er seiner Enkelin in 13 Jahren vermittelt hatte.



Manchmal waren sie gemeinsam hinunter in das nächste Dorf geritten, um selbst gefertigte Lederkleidung oder geschnitzte Figuren an Touristen zu verkaufen. Von diesem Geld erstanden sie dann Dinge, die sie selbst nicht herstellen oder anbauen konnten und die ihr tägliches Leben etwas erleichterten. Bei diesen Gelegenheiten sah Rawanni die Weißen, die so anders aussahen als sie selbst. Mit kindlicher Neugier betrachtete sie jedes Mal die Touristen, die einmal im Jahr zum Pow Wow, dem großen traditionellen Sommerfest kamen, auf dem indianische Tänze und Rodeovorführungen gezeigt sowie kunsthandwerkliche Sachen verkauft wurden.



Rawanni Bluefeather gehörte zum Stamm der nördlichen Arapahoe, die zusammen mit den Schoschonen im dem rund 10.000 Quadratkilometer großen Reservat lebten, das zu den landschaftlich schönsten Reservaten zählte. Einstmals waren diese beiden Stämme verfeindet, doch die Regierung überredete die Schoschonen 1878 dazu, die Arapahoe aufzunehmen. 1937 bekamen sie dafür von der Regierung sogar vier Millionen Dollar. Beide Stämme waren gezwungen, sich zu arrangieren.



Für die meisten Arapahoe, von denen in diesem Reservat heute etwa noch 5.000 existieren, bedeutet das Leben ein Dasein ohne Perspektiven, in Armut und voller Entbehrungen. Viele der jungen Männer, die in den Großstädten der Weißen nach Arbeit suchten, verfielen dem Alkohol und begingen nicht selten Selbstmord.




Rawanni betrachtete sein wettergegerbtes Gesicht mit den markanten Zügen. Nie wieder würde sie seine Stimme hören, seinen Geschichten lauschen oder mit ihm durch die Wälder streifen, um zu jagen. Leise stimmte sie das alte Klagelied ihrer Vorfahren an.



Sie bettete seinen Körper in eine Mulde auf dem Hochplateau und bedeckte ihn mit Steinen. Sein Blick würde immer auf das weite Tal und die Bergkette gerichtet sein. Dann verabschiedete sie sich von ihrem Großvater. Er war jetzt bei seinen Ahnen, aber für sie ging das Leben weiter. Die Zeit war gekommen, die Welt außerhalb des Reservates kennenzulernen.




Am nächsten Morgen packte sie ihre wenigen Habseligkeiten in einen Lederbeutel. Das Gewehr verstaute sie, unsichtbar für fremde Blicke, in einem länglichen Beutel. Dann ließ sie die zehn Hühner und den Hahn frei, die ihnen regelmäßig Eier geliefert hatten und auch mal einen leckeren Braten. Die Ziegen, die sie immer mit frischer Milch versorgt hatten, rannten sofort aus dem Stall, als sie das Tor öffnete. Auch die vier Pferde konnte sie nicht mitnehmen. Zwei der Tiere hatten ihnen bei der Bestellung des kleinen Ackers wertvolle Dienste geleistet.



Sie blickte mit Wehmut auf die Hütte, die über 13 Jahre ihr Zuhause gewesen war, und auf den Garten, in dem noch einiges Gemüse stand. Mit einem tiefen Seufzer sah sie das letzte Mal über das weite majestätische Tal. Würde sie jemals hierher zurückkehren? Was erwartete sie draußen in der Welt?



Sie überlegte kurz, ob sie nach ihrem Vater suchen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder, denn er hatte in all den Jahren nie nach ihr gesehen. Dann machte sie sich an den langen Abstieg ins Tal.




Nach drei Tagen erreichte sie die ersten Häuser der Kleinstadt, die etwa 1.500 Meter über dem Meeresspiegel lag. Heiße Luftmassen wälzten sich an diesem Sommertag durch das Tal, strichen zwischen ausgeschlachteten Autowracks und halb verfallenen Sperrholz- und Lehmhütten hindurch. Ratten und Mäuse wetteiferten mit streunenden Hunden im Dreck auf der Suche nach etwas Fressbarem. Dazwischen spielten schmutzige Kinder in zerrissener Kleidung mit alten Autoreifen. Es war ein trostloser Anblick. Ein Stück weiter gab es in weiten Abständen an der staubigen, festgefahrenen Lehmstraße auch einige kleine Holzhäuser, die offenbar erst kürzlich erbaut worden waren, ein sichtbares Zeichen für einen kleinen Fortschritt.



Während Rawanni die Straße hinunterging, begleiteten sie neugierige Blicke. Vor einer kleinen Holzhütte entdeckte sie einen alten weißhaarigen Indianer, dessen Gesicht von tiefen Falten übersät war und dem Grand Canyon glich. Er döste in einem klapprigen Schaukelstuhl auf der Veranda, nahm sie aber sofort mit einem wachen Blick wahr, als sie auf ihn zu trat.



„Guten Tag“, begrüßte sie ihn in ihrer Muttersprache.



Er nickte wortlos und schaukelte weiter, ohne sie aus den Augen zu lassen. Seine hageren Finger ruhten auf den verblichenen Armlehnen des Holzstuhles, die langen dünnen Haare wehten wie Spinnweben leicht im Wind und verliehen ihm etwas Geisterhaftes.



„Ich suche jemanden, der mich in eine Stadt der Weißen bringen kann.“



Er hörte auf zu schaukeln. „Bist du nicht die kleine Rawanni?“



„Ja. Großvater ist zu seinen Ahnen gegangen.“



Er schaukelte weiter und musterte sie wieder wortlos, ohne dass sich in seinem Gesicht eine Regung zeigte. Sie sagte ebenfalls nichts. Der knarrende Stuhl und die Fliegen verursachten die einzigen Geräusche. Nach einer Weile erhob er sich mit einer Behändigkeit, die sein Alter nicht vermuten ließ.

 



„Komm“, sagte er nur kurz und schritt hinter die Hütte.



Ein alter verbeulter Pick-up voller Rostflecke parkte in der heißen Mittagssonne. Von seiner ursprünglichen Farbe war nichts mehr zu erkennen, mehrere Schichten verschiedener Farbtöne bedeckten den ersten Lackanstrich. Der alte Mann setzte sich hinters Lenkrad und startete den Motor, der erst nach mehreren Versuchen spuckend und stotternd ansprang. Rawanni öffnete unsicher die Beifahrertür, die quietschend und blechern zur Seite schwang, und nahm auf dem durchgesessenen heißen Ledersitz Platz.



Der Alte sagte während der Fahrt nichts und auch Rawanni schwieg. Die Straße, eine ausgefahrene Lehmpiste, erlaubte keine hohen Geschwindigkeiten, die das Fahrzeug sicherlich auch nicht überstanden hätte. Abgesehen davon saß Rawanni das erste Mal in einem Auto und die Fahrt erschien ihr viel zu schnell, was wohl auch die Ursache für das nervöse Magenflattern war, das sich verstärkte, als sie auf eine asphaltierte Straße einbogen und noch schneller fuhren. Ihre Hände krampften sich angstvoll um die Tasche auf ihrem Schoß.



Nach drei Meilen erreichten sie den Highway, der nach Riverton führte, dem größten Ort des Reservates, der allerdings zu achtzig Prozent von Weißen bewohnt wurde — auch eine Folge der Regierungsentscheidung, Teile der Reservation 1906 für die Besiedelung durch Weiße freizugeben.



Der Alte hielt den Wagen am Straßenrand an. Erschrocken, aber auch fasziniert, starrte Rawanni dem Fahrzeug nach, das in diesem Moment an ihnen vorbeischoss.



Der Alte schmunzelte. „Weiter fahre ich nicht. Von hier aus nimmt dich sicher jemand anderes mit.“



Rawanni nickte dankend und stieg aus, dann wendete der Alte und fuhr zurück. Sie beobachtete in der Ferne die in der Sonne blinkenden Fahrzeuge, die wie eine sich windende riesige Schlange näher kamen und dann in größeren Abständen an ihr vorbeirauschten. Der Windzug wirbelte ihre langen Haare wie in einem Sturm heftig durcheinander. Die Fahrer schienen unerbittlich der Zeit nachzujagen und keinen Blick für die Schönheit der vorüberfliegenden Landschaft zu haben.



Alles war so neu. Ihr Großvater hatte nur während der Schulzeit das Reservat verlassen … verlassen müssen, denn nachdem viele seiner Stammesbrüder in der Welt der Weißen gescheitert waren, fühlte er kein Bedürfnis ihnen zu folgen, und so hatte er ihr nicht allzu viel von dieser Welt erzählen können. Die riesigen Trucks erschienen ihr wie unheimliche Ungetüme. Sie wich jedes Mal angstvoll zurück, wenn wieder einer an ihr vorbeidonnerte.



Plötzlich hielt solch ein Ungetüm am Rand auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. Ein bärtiger Mann beugte sich aus dem Fenster. „Na, willst du mitfahren?“, fragte er und nahm die Sonnenbrille ab. Rawanni starrte den Mann nur wortlos an. „Wohin willst du denn?“, fragte er weiter.



„Ich weiß nicht“, antwortete sie zögernd und presste ihre Tasche fest an die Brust, als ob sie dahinter Schutz suchen wollte. Sie taxierte den Mann, den sie auf etwa vierzig schätzte. Er trug ein verschwitztes Unterhemd, das den Blick auf eine behaarte Brust und die kräftigen Muskeln freigab. Sein Gesicht wirkte freundlich und seine klaren Augen blickten sie ohne Hinterlist an. Ihr Großvater hatte ihr eingeschärft, sich vor manchen Männern in Acht zu nehmen. Sie konnten zudringlich werden und ihr Leid zufügen.



„Wenn du mit willst“, schlug er vor und zeigte ein leichtes Lächeln, „dann steig ein. Ich fahre nach Denver.“



Sie überlegte kurz. Er machte eigentlich einen vertrauenswürdigen Eindruck. „Klingt gut“, gab sie sich schließlich einverstanden, obwohl sie nicht wusste, wo Denver lag. Mutig überquerte sie die Straße und ging um das Ungetüm herum.



Er reckte sich zur Beifahrertür, um sie zu öffnen. Mit einem Schwung hievte sie sich von der Trittstufe auf den hohen Sitz hinauf.



„Ich heiße Harry“, stellte er sich vor, nachdem er die achtzehn Räder seines Vierzigtonners wieder in Gang gesetzt hatte.



„Mein Name ist Rawanni“, erwiderte sie beunruhigt und starrte angstvoll auf die Straße, die immer schneller unter ihr verschwand, während der Motor gleichmäßig brummte.



„Du brauchst keine Angst zu haben“, versuchte er sie zu beruhigen, als er ihre weit aufgerissenen Augen bemerkte. Ihre Finger krampften sich um das Polster des Sitzes. „Du bist wohl noch nicht oft mit einem Wagen oder so einem Truck gefahren?“



Sie schüttelte den Kopf, denn ihre Zunge klebte trocken am Gaumen und ließ ihre Stimme verstummen. Um nicht ständig auf diese fliegende Straße sehen zu müssen, wandte sie ihren Blick auf das Armaturenbrett, auf dem zwischen zahlreichen Papieren einige Stofftiere lagen. An der Frontscheibe schaukelten Wimpel und die unterschiedlichsten Andenken; beim Lenkrad leuchteten verschiedenartige Anzeigen. Hinter den Vordersitzen befand sich eine Schlafmöglichkeit und neben einem kleinen Kühlschrank und einer Kochgelegenheit waren mehrere Staufächer und sogar ein Fernseher, wie er auf ihre Frage hin erklärte — doch sie wusste nicht, was das war.



„Ich bin fast jeden Tag unterwegs“, erklärte er weiter, „und übernachte meistens im Wagen. „Bist du aus dem Reservat?“



„Ja“, antwortete sie knapp.



„Bist du von zu Hause ausgerissen?“



„Nein.“



Er zog eine Augenbraue hoch und sah sie von der Seite an. „Du redest wohl nicht viel?“



„Nein.“ Sie sah ihn ebenfalls an. „Sollte ich das denn?“



Er lächelte. „Nein, du brauchst nicht zu reden, aber weißt du, es ist manchmal ganz angenehm, wenn ich mich auf den langen Strecken mit jemandem unterhalten kann.“



Eine Weile schwieg Harry. Dieses Mädchen war ihm ein Rätsel. Sie war noch jung und bereits außergewöhnlich schön. Ihre glatten, blauschwarz schimmernden Haare, die bis zu den Hüften reichten, ihre tiefdunklen Augen über den hohen Wangenknochen und diese sinnlichen Lippen konnten das Blut eines Mannes schon in Wallung bringen. Er spürte ihre ungeheure Ausstrahlung. Was wollte sie allein in einer großen Stadt? Mit ihrem Aussehen war sie doch Freiwild für manche Männer. „Bist du schon einmal in einer Großstadt gewesen?“, fragte er schließlich.



„Wie groß ist eine Großstadt?“



Er lachte über ihre Unwissenheit. „Dort gibt es sehr viele Häuser und Millionen von Menschen.“



„Ich habe das Reservat noch nie verlassen und solche Städte gibt es bei uns nicht.“



„Verstehe. Und was willst du dann in der Stadt machen?“



„Mich umsehen und dort vielleicht wohnen.“



„Hast du etwas gelernt?“



„Was gelernt?“



„Na ja, ich meine einen Beruf. Wenn du in der Stadt leben willst, musst du Geld verdienen und dafür ist es besser, man hat etwas gelernt.“



„Nein, ich habe keinen Beruf.“



Er sah sie stirnrunzelnd an. „In diesem Fall gebe ich dir einen gut gemeinten Rat: Geh zurück ins Reservat.“ Er wandte den Blick wieder auf die Straße. Dieses Mädchen war unwissend und naiv. Über diese Leichtsinnigkeit konnte er nur den Kopf schütteln.



„Es ist für dich allein zu gefährlich“, versuchte er es noch einmal, nachdem sie nichts erwiderte. „In einer Stadt passieren immer wieder Überfälle, und wenn du keine feste Wohnung hast, könntest du leicht ein Opfer werden.“



„Man kann mir nichts stehlen, denn ich besitze nichts.“



„Doch.“ Ernst und eindringlich sah er sie an. „Du besitzt deine Unschuld.“ Er wusste nicht, ob sie verstand was er meinte. Aber sie verstand ihn.



„Sie werden sicherlich recht haben, aber ich möchte die Welt außerhalb des Reservates kennenlernen und ich kann nur durch Erfahrung lernen.“ Sie blickte ihn von der Seite mit einem entschlossenen Lächeln an. „Ich verstehe Ihre Bedenken, Harry. Wenn mir jemand ungebeten zu nahe kommt, weiß ich mich schon zu wehren.“ In ihrer Hand lag auf einmal ein langes Jagdmesser, das sie aus dem Stiefel gezogen hatte.



Harry hätte beinahe das Lenkrad verrissen. „Donnerwetter“, entfuhr es ihm. Er war nicht nur über das Messer überrascht, sondern auch über ihren plötzlichen harten Tonfall und ihre blitzenden Augen. Vorher hatte sie nur naiv und unbekümmert gewirkt, doch jetzt erschien sie ihm eher kriegerisch. Sie wusste offenbar genau, was sie wollte.



„Und ich werde es benutzen, wenn es sein muss“, betonte sie mit einem entschlossenen Lächeln auf ihren Lippen.



„Ja, das glaube ich dir sofort“, entgegnete Harry respektvoll. „Wenn das so ist, dann brauche ich mir um dich ja keine Sorgen zu machen.“



„Sie haben sich um mich gesorgt?“, fragte sie jetzt ihrerseits überrascht.



„Ja, warum nicht?“



„Weil Weiße gewöhnlich wenig Interesse am Schicksal der Indianer zeigen.“



„Hm, mir ist die Hautfarbe immer egal gewesen. Hauptsache, er ist ein anständiger Kerl ... äh Frau.“ Er lächelte sie an und wusste, dass ihre Zurückhaltung endlich durchbrochen war.




Die Fahrt verlief kurzweilig. Er erzählte meistens und sie hörte interessiert zu. Zwischendurch stellte sie immer mal wieder eine Frage und er beantwortete sie bereitwillig. Auch an die Geschwindigkeit hatte sie sich inzwischen gewöhnt und genoss den Blick auf die vielfältige Landschaft. Am Abend spendierte er ihr ein Essen und ein Zimmer in einem Motel, während er in seinem Truck auf dem angrenzenden Rastplatz schlief.



Das Bett bereitete ihr allerdings einige Schwierigkeiten, denn das erste Mal schlief sie in einem richtigen Bett mit Matratze. Unruhig wälzte sie sich hin und her, bis sie sich schließlich nach zwei schlaflosen Stunden auf den Fußboden legte. Auch der Umgang mit der Toilette und den Wasserhähnen hätte jeden zum Lachen gebracht, der ihr Gesicht gesehen hätte, als das Wasser in einem dicken Strahl aus dem Hahn schoss. Sonst hatte sie aus dem nahegelegenen Bachlauf das Wasser geholt, hier brauchte sie einfach nur den Hahn aufzudrehen. Sie musste wirklich noch viel lernen, aber sie wollte diese Aufgabe annehmen.




Am nächsten Morgen nahm Harry sie wieder mit. Sie wusste eigentlich nicht, warum sie mit nach Denver fuhr, sie hätte auch in jeder anderen Stadt auf der Strecke aussteigen können, aber Harrys Gesellschaft war ihr nicht unangenehm und sie hatte schon jetzt viel erfahren.



Nach 400 Meilen erreichten sie Denver, die Hauptstadt von Colorado am Fuße der Rocky Mountains, auf deren Gipfeln noch immer Schnee lag. Von Weitem sah sie bereits die Wolkenkratzer aufragen, die sie in erneutes Staunen versetzte.



„Diese Stadt ist relativ ruhig und beschaulich“, erklärte Harry, „ganz im Gegensatz zu den Metropolen an den Küsten, wie zum Beispiel New York oder San Francisco. Ich mag diese grüne Stadt und komme gern hierher. Es gibt hier auch weniger Verbrechen, als in anderen Großstädten, aber sicherlich sind es immer noch zu viele. Zusammen mit den Vororten hat Denver etwa 2,3 Millionen Einwohner, soweit ich weiß.“



„Sie ist riesig“, stellte sie beeindruckt fest.



„Ja. Ich lasse dich eigentlich nur ungern hier allein zurück.“



„Auch wenn alles neu für mich ist, habe ich keine Angst davor.“



Harry lenkte den Truck an eine Tankstelle in der Nähe des Zentrums, um sie aussteigen zu lassen.



„Hier, nimm das Geld.“ Er drückte ihr 50 Dollar in die Hand.



„Nein, das kann ich nicht annehmen.“



„Doch, nimm es“, beharrte er. „Du musst dir etwas zu essen kaufen und für die Nacht brauchst du ein Zimmer. Dort drüben neben der Tankstelle ist ein preisgünstiges Motel. Vielleicht findest du Arbeit in einem Schnellimbiss hier in der Nähe. Dort stellen sie am ehesten ungelernte Kräfte ein.“



Rawanni war gerührt von Harrys Besorgnis. Schließlich verabschiedete er sich von ihr, dankte ihr für die nette Gesellschaft und lenkte den Truck wieder auf die Straße. Lächelnd winkte er ihr zu und ließ das Signalhorn zweimal kräftig ertönen. Sein Ziel lag am Rande der Stadt.




Bis zum Dunkelwerden wollte Rawanni die Zeit noch zur Erkundung der Stadt nutzen. Gierig sog sie alles Neue auf, es war erregend und unbeschreiblich. Nichts von dem hatte sie jemals gesehen, es war ein Sprung in ein anderes Jahrhundert, in eine andere Welt.



Die riesigen Häuser und breiten Straßen wirkten sauber und aufgeräumt. Unablässige Ströme von Autos fuhren an ihr vorbei und ließen ein Überqueren der Straße unmöglich erscheinen. Sie beobachtete die Menschentrauben, die am Rande standen und auf eine rote Anzeige mit den Worten

DON'T WALK

 blickten. Als das Licht grün wurde und

WALK

 anzeigte, gingen alle wie auf Kommando über die Straße, während die Fahrzeuge geduldig warteten. Sie erkannte schnell, wie dadurch alles in geordnete Bahnen gelenkt wurde.

 



Die Auslagen in den Geschäften, die sich wie an einer Perlenschnur aneinanderreihten, sprengten ihr Fassungsvermögen. Wofür brauchte man das alles? Glitzernder Schmuck, der von hellen Lampen angestrahlt wurde, menschengroße Puppen, angezogen mit vornehmer Kleidung, und die vielen Restaurants … Manches konnte sie nicht einmal mit Namen benennen. Menschen mit vollbepackten Taschen strömten ihr eilig entgegen oder überholten sie, verschwanden in einem Laden und kamen mit noch mehr Tüten heraus. Und überall Lärm und blinkende Leuchtanzeigen. Besonders stiegen ihr manche Gerüche unangenehm in die Nase. Wie konnte man hier nur leben? Selbst an den Geschmack des Essens, das sie sich von Harrys Geld kaufte, musste sie sich erst gewöhnen. Bald taten ihr nicht nur die Füße von den harten Gehwegen weh, sondern auch ihr Kopf schmerzte von den vielen Eindrücken. Sie wollte wieder zurück zu dem Motel neben der Tankstelle, doch sie musste feststellen, dass sie sich hoffnungslos verlaufen hatte. In den Wäldern verirrte sie sich nie, aber hier, zwischen den Häuserschluchten, fand sie sich nicht mehr zurecht.



Unschlüssig, was sie jetzt machen sollte, setzte sie sich erst einmal auf eine Bank in einem der zahlreichen Parks der Stadt. Hatte sie sich doch zu viel zugemutet? Irgendwo musste sie sich einen Platz zum Schlafen suchen. Hier in diesem wunderschönen, mit vielen Blumen bepflanzten Park durfte sie sicherlich nicht schlafen; vielleicht würde sie die Polizei dann aufgreifen und wer weiß wo hinbringen. Die großen Hotels im Zentrum wirkten alle viel zu teuer, außerdem fühlte sie sich unsicher dort nach einem Bett zu fragen.



Nachdem sie sich etwas erholt hatte, schlug sie ziellos eine Richtung ein, die sie schließlich aus dem Zentrum hinausführte. Vielleicht fand sie hier eine billigere Unterkunft. Im Übrigen tat es auch ein Bett unter freiem Himmel, wo sie sonst sowieso immer am liebsten schlief, und das Wetter war auch warm genug. Es sollte nur ein ruhiges Plätzchen sein, an dem sie geschützt vor fremden Blicken war. Wer weiß, was für Typen hier herumschlichen. Sie sollte in der Tat etwas vorsichtiger sein. Harry hatte sie eindringlich vor den möglichen Gefahren gewarnt.




Es dämmerte bereits, als Rawanni ein leer stehendes Fabrikgelände fand. Sicherlich konnte sie sich irgendwo in eine Ecke dieser leeren Hallen legen. Unkraut wucherte zwischen den halb verfallenen Gebäuden, deren Fensterscheiben größtenteils zerbrochen waren. Verrostete Maschinen standen in einer Halle, in einer anderen gab es lange Laufbänder, Ketten hingen von den hohen Decken, überall lagen Müll und zersplitterte Holzkisten. Ratten und Spinnen fehlten ebenfalls nicht. Es war ein Ort, den die meisten Menschen sicherlich meiden würden, besonders bei Dunkelheit.



Plötzlich hörte sie dumpfe, schlagende Geräusche. Sie ging weiter. Dann vernahm sie Stimmen und menschliches Stöhnen. Langsam schlich sie näher. Im Scheinwerferlicht eines Fahrzeuges entdeckte sie die Umrisse von vier Männern, die in einer Halle standen. Ein fünfter Mann lag benommen am Boden und stöhnte vor Schmerzen. Zwei der Männer zerrten ihn gerade hoch, während ein Dritter immer wieder seine Fäuste auf den Körper des bereits übel zugerichteten Mannes hämmerte.



Ein vierter Mann stand daneben, sah zu und rauchte in Ruhe eine Zigarette. Er schien sich an den Schmerzen seines Opfer zu ergötzen. „Los, macht ihn endlich fertig“, befahl er schroff und blies den Rauch langsam aus.



Der Geschlagene war längst bewusstlos, sein Kopf hing schwer herunter und das Gesicht war von Blut bedeckt. Er fiel hart zu Boden, als die beiden Männer ihn losließen. Einer zog aus der Hosentasche ein Messer, das mit einem Klicken aufsprang. Sie wollten ihn töten …



Das konnte Rawanni nicht zulassen. „Das würde ich an eurer Stelle nicht tun“, rief sie, ohne sich über mögliche Folgen ihres Einschreitens Gedanken zu machen.



Alle wirbelten erschrocken herum und suchten nach der Stimme, die kalt und schneidend durch die Halle drang. Sie blickten in die Mündung eines Gewehres.



Langsam trat Rawanni aus dem Schatten heraus, ihre Augen funkelten wild und kriegerisch. Sie hatte noch nie mit einem Gewehr auf Menschen gezielt, aber sie war fest entschlossen nicht zuzusehen, wie dieser Mann getötet wurde.



Sekundenlang starrten die vier Männer reglos diese seltsame Erscheinung im Halbdunkel an. Ohne Aufforderung hoben sie sogar die Hände.



„Lass das Messer fallen!“, forderte Rawanni den Mann auf, der die Waffe hielt, „und dann verschwindet alle!“



Der Anführer fing an zu lachen, als er sah, dass nur ein junges Mädchen vor ihnen stand.



„Du bist wohl lebensmüde, Kleine?“, fragte er mit geringschätzigem Lächeln und machte einen Schritt auf sie zu.



Der Schuss donnerte ohrenbetäubend durch die Halle, die Kugel schlug dicht vor seinen Füßen ein. Das Grinsen verschwand augenblicklich.



„Du solltest besser tun, was ich sage“, forderte sie noch einen Ton schärfer. „Das nächste Mal wird die Kugel höher treffen.“



Rawanni hielt das Gewehr in Augenhöhe und visierte ihn über den Lauf an. Ihre Augen schienen zu glühen. Selbst im schwachen Lichtschein konnten die Männer ihre Entschlossenheit erkennen. Sie zeigte weder Angst noch Unsicherheit.



„Lass das Messer fallen!“, wiederholte sie und richtete jetzt die Waffe auf den Mann, der immer noch das Messer hielt.



Er rührte sich nicht. Sie drückte ab. Der schmerzhafte Aufschrei traf mit dem scheppernden Klang des Messers zusammen, das auf den Betonboden fiel. Der Mann presste seine Hand auf die blutende Wunde am Unterarm, in den die Kugel gedrungen war.



„Verdammt“, fluchte der Anführer, „du solltest dich besser nicht mit uns anlegen. Wir werden dich kriegen und dann bist du dran.“



„Wir werden sehen“, entgegnete sie gelassen, „und jetzt verschwindet endlich.“



Die Männer wandten sich ohne ein weiteres Wort zum Ausgang. Sie mussten einsehen, im Augenblick waren sie in der unterlegenen Position.



„Halt!“, rief sie. „Du mit der blauen Jacke bleibst hier.“



„Was willst du von ihm?“, fragte der Anführer.



„Er bleibt als Sicherheit. Ich lasse ihn frei, wenn ihr wirklich das Gelände verlassen habt und ich sicher bin, dass ihr mir nicht auflauert.“



Sie hatte noch rechtzeitig erkannt, dass sie Hilfe brauchte, um den Verletzten zu einem Arzt zu bringen, denn alleine würde sie es nicht schaffen, da sie sich hier nicht auskannte und auch kein Fahrzeug fahren konnte. Der junge Mann in der blauen Jacke, der den Verletzten zuvor festgehalten hatte, blieb mit erhobenen Händen stehen, während seine Kumpel ohne weiteren Widerspruch in ihr Fahrzeug stiegen und abfuhren. Sie hatte diesen Mann nach kurzem Augenschein ausgewählt, weil er ihr am geeignetsten erschien und offenbar der Jüngste von allen war.



Inzwischen war es vollständig dunkel geworden.



„Geh nach draußen!“, forderte sie den Mann auf. „Ich warne dich, etwas zu unternehmen, ich kann im Dunkeln sehr gut sehen und werde auf dich schießen, wenn du mich angreifst.“



Er gehorchte mit unbeweglicher Miene.



„Wie heißt du?“



„Jerry.“



„Gut, Jerry. Du wirst mir jetzt helfen den Verletzten zu einem Arzt zu bringen. Steht sein Wagen hier irgendwo?“



„Ja, er steht dahinten.“ Er wies mit dem Kopf die dunkle Straße zwischen den Hallen entlang.



„Dann holen wir ihn.“



Jerry ging mit erhobenen Händen voran, während Rawanni mit der Wachsamkeit einer Raubkatze das Gewehr weiter auf ihn gerichtet hielt. Verunsichert drehte er sich halb um, als er von ihr nichts mehr hörte, aber sie war dicht hinter ihm. Sie wirkte so unheimlich wie diese unwirtliche Gegend, die vom Mond in ein gespenstisches Licht getaucht wurde. Kaum jemand würde freiwillig im Dunkeln auch nur einen Fuß auf dieses Gelände setzen.



Rawanni ließ sich nicht davon abschrecken. Sie kannte die extreme Dunkelheit der Wälder und ihre Augen waren deshalb vielleicht besser entwickelt. Das galt auch für ihr Gehör. Allerdings war Jerrys Fluch mehr als laut:



„Verdammt!“ Erschrocken stoppte er, als etwas über seinen Schuh huschte.



„Was ist? Angst vor Mäusen?“ Rawann

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