Kurdische Märchen: Ein Stück des indo-europäischen Kulturerbes

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Kurdische Märchen: Ein Stück des indo-europäischen Kulturerbes
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Kurdische Märchen: Ein Stück des indo-europäischen Kulturerbes

1  Kurdische Märchen: Ein Stück des indo-europäischen Kulturerbes

2  1. Vorwort

3  2. Einführung

4  3. Mirzemhema

5  4. Schah İsmail

6  5. Mirzemhema und der Vogel Teyre Simir

7  6. Alimamo

8  7. Der Jäger Elo

9  8. Dendiknare und ihre sieben Brüder

10  9. Die Angst des Fuchses

11  10. Die Gerechtigkeit der jungen Frau für die drei Brüder

12  11. Ferizkirso

13  12. Joro und die Bärin

14  13. Literatur

Kurdische Märchen: Ein Stück des indo-europäischen Kulturerbes

Emin Yas

Ich widme dieses Buch meinem Großvater (1928-1996) und Den Kurden, deren mündliche Überlieferung noch nicht gut verschriftet worden ist.

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Das Märchen ist ein wichtiger Nachweis dafür, dass der Mensch mit der Realität immer noch nicht Zufrieden ist.

Die Märchen kommen unmittelbar aus der Seele eines Volkes.

Die Märchen sind ein Teil eines Volksgedächtnisses.

1. Vorwort

Es ist bekannt, dass die Mündliche Überlieferungstradition bei den Kurden stark ist. Die kurdischen Märchen sind keine Ausnahme. Sie tragen in sich nicht nur viele kulturellen Elemente aber auch Lebensstil und Denkformen der Kurden. Das kurdische Märchenschätz geht bis zur archaischen Frühzeit.

In den meisten ihrer Märchen spiegeln sich gesellschaftliche und politische Strukturen der Kurden wieder. Der Agha wird in seinem Palast dargestellt, umgeben mit Dienern, Beratern und von wunderschönen Gärten; ihm gegenüber stehen die Bewohner der Städte und Dörfer, die Bauern, die Nomaden. Kurdische Märchen sind reich an Tiergeschichten, Schwänken und Zaubermärchen, wobei die Tierwelt in ihnen offensichtlich ein Hauptthema ist. Es sind wahrscheinlich geographische und anthropologische Gründe, dass Tiere und Tierfabeln einen wichtigen Platz in diesen Märchen haben, denn die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung lebte auf dem Land, in eng zusammen mit den Tieren.

Wenn zum Beispiel der kurdische Schriftsteller und Erzähler Osman Sabri über das Gesamtbild der Kurden spricht, so schreibt er gern in Fabeln von schwachen und verfolgten Tieren. Erwähnt sei hier auch, dass Tierfabeln vor allem bei den indogermanischen Völkern vorkommen[1].

Einer der Lieblingshelden der kurdischen Volksprosa ist Mirza Mihemed, von welchem auch eines der hier niedergeschriebenen Märchen handelt. Es variiert von Region zu Region, wobei ich die hier befindliche Version des Märchens in der Region Siirt in der Türkei gesammelt habe.

Neben den bereits erwähnten Tiermärchen und Fabeln präsentiert das vorliegende Buch sowohl Legenden, Hausmärchen als auch die bei Kurden sehr häufig vorkommenden Zaubermärchen als weitere Genres der Volksprosa.

Die Eigentümlichkeit der kurdischen Märchen sei sehr klar, sagt Frau Luise-Charlotte Wetzel, die gute Arbeit zum Thema kurdischer Märchen geleistet hat, obwohl man in kurdischen Märchen fremde Einflüsse finden kann, wie die arabische Fabulierkunst[2], die Verwandtschaft mit einigen türkischen Schwankerzählungen oder die in allen orientalischen und auch europäischen Märchen zu findenden Motive. Ein Beispiel für diese Eigentümlichkeit ist die Rolle der Frau in kurdischen Märchen, welche unvergleichlich aktiver dargestellt wird. Sie ist Kampfgefährtin des Mannes, ihre Intelligenz und ihr Verhalten werden hochgeschätzt[3].

Erwähnt werden sollen hier auch Ordichane und Celile Celil[4], welche kurdische Märchen, vor allem Volksmärchen, gesammelt, aufgezeichnet und kommentiert haben. Ein anderer bekannter kurdischer Märchensammler ist Cemal Nebez[5]. Er war Lektor zwischen 1971–78 an der Freien Universität von Berlin im Institut für iranische Philologie und leistete besonders im Bereich der kurdischen Linguistik sehr wichtige Arbeiten.

Fast alle von mir selbst gesammelten und hier aufgeschriebenen Märchen haben ein so genanntes „Happy End“, ein allgemeines Charakteristikum der Weltmärchen. Das Böse wird am Ende bestraft und das Gute belohnt, die Protagonisten finden ihr Glück und der Wunsch geht immer in Erfüllung. Die kurdischen Märchen haben meist eine feste Floskel für den Anfang und das Ende.

Am häufigsten beginnen die Märchen mit den Worten: „Çarekî ji çaran rehmet li dê û bavê gûhdaran, li warek x hebû“, was wortgetreu übersetzt heißt: „Ein Mal von vielen Malen, mögen die verstorbenen Mütter und Väter der Zuhörer in Frieden liegen, an einem Ort gab es X[6]“ oder auch „Hebû tinebû, x hebû“, zu Deutsch „Es war einst, es war ein X“.

Zum Abschluss eines Märchens heißt es dann: „Ihre Wünsche sind ihnen erfüllt worden, mögen auch Eure Wünsche in Erfüllung gehen.“ Wenn von einem Glück die Rede ist, heißt es: „Sieben Tage und sieben Nächte tönten die Trommeln und spielte die Sonar. Sie mögen sich ihres Glückes freuen, freut Ihr Euch des euren.“ Neben diesen Abschlussfloskeln wird besonders in der Region Siirt immer folgender Vers gesagt: „Çiroka me ço nav deviya, rehmel li dê û bavê we hemiyan”, zu Deutsch: „Unser Märchen ist zu Ende (wortgetreu: ‚in die Büsche’) gegangen und mögen alle eure Verstorbenen in Frieden liegen.“

Dieses Buch enthält die Märchen, die mir mein Großvater während meiner Kindheit in der Region Siirt zuerst erzählt hatte. In meiner Zeit auf dem Gymnasium hatte ich dann schon manche davon niedergeschrieben. Sie standen seitdem in meinen Tagebüchern, bis ich einigen Leuten begegnete, deren Dörfer Anfang 1990er Jahre aus Sicherheitsgründen evakuiert worden waren, und die sich daraufhin in unserem Dorf niederließen. Zu jener Zeit wohnte ich in der türkischen Stadt Adana, als ich jedoch im Jahr 1993 unser Dorf besuchte und mich mit diesen Familien unterhielt, habe ich mich wieder mit den Märchen beschäftigt. So konnte ich beispielsweise von den zwei Familien Abdulkadir (Qado) Schen, der Sohn Ibrahims, und Ibrahim Schen aus der Region Botan einige Märchen sammeln und sie meinen Märchen hinzufügen. Darüber hinaus konnte ich durch Gespräche über die Märchen diese mit denen meines Großvaters vergleichen und dort notwendige Veränderungen vornehmen.

Für die Richtigkeit der Märchenversionen habe ich nochmals einige Verwandten und Freunde in meiner Heimat befragt. Trotz all meiner Bemühungen konnte ich manche Lücke in einem Märchen nicht ausfüllen. Vor allem das erste Märchen ist nicht vollständig, da es verschiedene Versionen des Märchenteiles gibt. Viele der anderen Märchen habe ich verbessert, einige konnten wiederum unverändert blieben.

Die Idee jedoch, daraus ein Buch zu machen, stammt von meinem Bruder Lokman, welcher Germanistik studierte. Als ich auf die Zulassung für die Doktorarbeit an der Freien Universität Berlin wartete, habe ich mich wieder hingesetzt und mit Lokmans Hilfe alle zehn Märchen neu bearbeitet und zusammengestellt. Mein Bruder kannte sie besser, da er längere Zeit mit unserem Großvater verbracht hatte und sogar neben ihm war, als dieser im Jahr 1995 starb. Mein Großvater hatte keinen Schulabschluss, aber anstelle des Schulbesuches ging er in eine Medresse, wo er bei einem Gelehrten eine religiöse Ausbildung erhielt und so das heilige Buch „Koran“ lesen konnte. Die arabische Schrift schreiben oder Arabisch sprechen hatte er jedoch nicht gelernt. Außer für seinen Militärdienst und einer Pilgerfahrt nach Mekka war er nirgendwohin gereist. Er war sehr gläubig und las uns immer die religiösen Hymnen, Märchen, Erzählungen und Geschichten vor.

Eigentlich hätte ich dieses Buch „Die Märchen meines Großvaters“ nennen sollen, da ich aber ich viele Veränderungen vornahm und neue Märchen eingefügte, wovon viele zu den kurdischen Volksmärchen gehören, habe ich den Titel „Die kurdischen Märchen“ gewählt.

So bedanke ich mich zuerst bei meinem Großvater (Gott möge ihn in Frieden ruhen lassen), dass er mein Interesse für die Märchen geweckt hatte. Ich danke meinem Bruder Lokman für seine viele Hilfe und den Mut, den er mir gab, dieses Buch zu schreiben. Des Weiteren gebührt der Familie Ibrahims und Qados und all den anderen, die aus dem Gebiet Botan in unser Dorf einwanderten, großer Dank.

Ein Freund, bei dem ich mich besonders bedanken möchte, ist Christian Schröter. Wir haben zusammen Iranistik studiert. Er kennt sich sehr gut mit dem Thema Märchen aus und hat sogar einige Erfahrung als Märchenerzähler für Kinder in Berlin und seiner Heimat Thüringen gesammelt. Er erledigte die deutsche Korrektur, nahm nötige Veränderungen vor und brachte die Arbeit auf den letzten Stand. Für die viele Arbeit, die er für dieses Buch geleistet hat, bin ich ihm sehr dankbar.

 

Die jeweiligen zugehörigen Abbildungen geben einen wirklich wunderbaren Eindruck von den einzelnen Erzählungen und wecken das Interesse bei den Lesern. Vielen Dank an den irakischen Kurden Fehmi Balayi für diese Illustrationen. Bei Roni Ozmen bedanke ich mich für die kurdische Redaktion. Außer diesen Personen gehört mein Dank alle jenen, die mir ihre Zeit gaben und mir die Märchen wieder und wieder erzählten. Zu letzt noch ein Dank an meine Freunde und Verwandte für ihre Hilfe.

[1] Luise-Charlotte Wentzel, 1978, Kurdische Märchen, s. 271, Köln, Duseldorf, Diederichs.

[2] Das Rahmen-Motiv aus „1001 Nacht“, dass Geschichten-Erzählen vor drohendem Unheil bewahren kann, wurde auch von den Kurden übernommen.

[3] siehe hierzu das Buch von Eva Savelsberg, Siamend Hajo und Carsten Borck, 2000, „Kurdische Frauen und das Bild der kurdischen Frau‎“ , Kapitel Phantasie: Die weiblichen Heldin, Seite 39.

[4] Ordichane und Celile Celil, 1978, „Kurdische Volksmärchen“, Jerewan/Armenien (mit einem Vorwort in kurdischer Sprache mit kyrillischer Schrift)

[5] Cemal Nebez „Kurdische Märchen und Volkserzählungen“ (1972), Bamberg.

[6] „X“ bedeutet hier einen Menschen, ein Tier oder eine Sache.

2. Einführung

Wenn wir über etwas reden, das schwer zu glauben ist, sagen wir: „Das kommt nur im Märchen vor“, oder: „Das passiert nur im Märchen“. Was sind eigentlich Märchen? Warum erfand der Mensch die Märchen? Haben alle Völker der Welt Märchen? Stoßen die Märchen an die Grenze des Denkens? Dies sind vielleicht schwierige Fragen, ich möchte mich dennoch einigen Punkten kurz zuwenden.

2a. Die Definition von Märchen

Nach der Definition des Wahrig Wörterbuchs (2005) ist das Märchen „fantasievolle Erzählung ohne räumliche und zeitliche Bindung, in der die Naturgesetze aufgehoben sind und das Wunder vorherrscht.“ Das Brockhaus Lexikon (2006) schreibt: Das Märchen ist „eine mündlich oder schriftlich tradierte Prosaerzählung, in der die Bedingungen der Wirklichkeit aufgehoben zu sein erscheinen.“

Märchen hatten immer einen wichtigen Platz in unserem Leben. Sie halfen dabei, dass wir unsere Nächte mit Freude verbrachten. Sie waren ein unentbehrlicher Bestandteil unseres Lebens. Mit ihnen haben wir unsere Kinder beruhigt, so dass sie leise wurden oder schlafen konnten. Sogar heute haben die Märchen nichts von ihrer Bedeutung verloren, denn der Mensch braucht sie noch immer, um mittels ihrer Art seine unerfüllten Wünsche zu befriedigen. Vielleicht haben genau deshalb die Fantasy-Romane „Herry Potter“[1] der Lehrerin Joanne K. Rowling mit all den Zaubereien darin so viele Rekorde gebrochen.

Das Märchen hat die Besonderheit, über die Grenze der Wirklichkeit hinaus zu gehen. Es stellt dar, wie der Mensch auf besondere Weise versuchte, die Erfüllung seiner eigenen Wünsche zu erlangen. Märchen sind wie Musik, Sprache, Essen, Kleidung etc. ein Teil des Volksschatzes, sie weisen zugleich dessen Mentalität auf. Zugleich tragen sie die Spuren der Menschheit von tausenden Jahren. Die meisten mündlich überlieferten Märchen wurden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verschriftlicht[2].

Märchen haben die Grenze zwischen unserer Wirklichkeit und den Träumen[3] bezogen. Sie zeigen unsere Nichtzufriedenheit mit der Realität auf, sie haben sich in unserer Sprache, unserer Denkweise und unserer Kultur angereichert. Die Bedeutung der Märchen war enorm, besonders bis zur Zeit der industriellen Revolution ab dem 19 Jahrhundert, als der Mensch begann, andere Unterhaltungsmedien wie z.B. Radio oder Fernsehen zu erfinden. Märchen haben meiner Meinung nach sogar viel dazu beigetragen, dass sich das Genre der Science-Fiction-Filme so gut und schnell etablieren konnte, denn auch diese sind Produkte der Träume, der Fantasien und zeigen, dass der Mensch sich immer weitreichenden Gedanken macht; nämlich läßt er den Horizont für sich selbst immer erweitern. Nicht wenige Elemente von Science-Fiction-Filmen wurzeln in der Literatur, die aus der Verschriftlichung ehemals mündlich tradierter Geschichten und Märchen stammt.

Zwischen Märchen und den anderen Literaturgattungen wie Prosa, Poesie oder Theaterstücken besteht eine vertikale Beziehung. In fast allen Kulturen[4] entstanden lange schon vor dem 19. Jahrhundert Gedichte, Theaterstücke und Romane.

Man kann sagen, dass unsere heutige visuelle Unterhaltung, welche sich seit Beginn des 19 Jahrhunderts rasend entwickelt hat, auf dieser Etablierung der Literaturgattungen basiert. Ich denke, es besteht auch eine enge Beziehung zwischen den Träumen und den Märchen. Märchen und Träume, besonders beim Betreten der Nicht-Realität, weisen zu einem großen Maße Parallelitäten auf. Beide können eine übernatürliche Welt präsentieren. Der einzige Unterschied besteht jedoch darin, dass die Märchen üblicherweise glücklich, mit einem „Happy End“ enden. In Träumen hingegen begegnet man manchmal unerwünschten Dingen bzw. negativen Ereignissen wie z.B. Horror, Abstützen, Abenteuern, Kriegen, Tod…usw. Ein Traum kann zu einem Albtraum werden.

Zwei Faktoren wirken sich hauptsächlich auf negative Träume aus: jedes für einen Menschen wichtige Geschehen sowie verschiedenste Reize wie Hunger, Durst etc.

Betrachtet man andererseits die positiven Träume, lassen sich zwei Gruppen bilden. Die erste beinhaltet unmögliche Fähigkeiten, wie fliegen können, sich retten, einen Krieg gewinnen, die zweite beinhaltet einfache Wünsche wie Reichtum, Erfolg, Gewinn, ein schönes Leben.

Hierbei sei an die Aussagen der klassischen Theorie der Psychoanalyse erinnert, die annahm, dass es sich bei Träumen um verdeckte Wunscherfüllungen handelt. Sigmund Freud sagte, dass die Wunscherfüllung sowohl mit dem inneren Wesen des Traumes als auch mit den substantiellen Bestimmungsstücken, die zu jedem Traum gehören, verbunden ist. Seiner Ansicht nach waren alle Träume Wunscherfüllungen. Anders gesagt, die Wünsche, die verdrängt und tabuisiert wurden, zeigen sich in symbolisch verkleideter Form in den Träumen. Nach seiner Ansicht versucht der Wunsch nach Erfüllung in das Bewusstsein zu gelangen, das Bewusstsein jedoch wehrt sich gegen diese. Darüber hinaus nahm Freud an, es gäbe einen Traum-Arbeitsmechanismus oder Zensor, damit sehr starke, sozial nicht akzeptierte Wünsche in symbolische, nicht direkt verständliche Bilder umgewandelt werden.

Gibt es ein Volk auf der Welt ohne Märchen? Die Antwort ist höchstwahrscheinlich „Nein“, jedes bekannte Volk scheint Märchen zu haben. Man kann davon ausgehen, dass Märchen mit den unterschiedlichsten Inhalten existieren, je nach den Gegenständen, die einem Volk oder einer Volksgruppe zur Verfügung stehen sowie ihre Umgebung und geografische Lage. Zum Beispiel kann es sein, dass ein Element wie die Hexerei in europäischen Märchen sehr häufig vorkommen als in afrikanischen Märchen[5] oder umgekehrt.

Über den Ursprung der Märchen gibt es einige Thesen. Zaubermärchen gehören demnach zum ältesten Märchentypus. Theodor Benfey (1809-1881)[6], ein prominenter deutscher Orientalist und Sprachforscher vertrat die These[7], dass die europäischen Märchen aus Indien stammen. Sicher war der Einfluss indischer Märchen auf die Entstehung europäischer Märchen groß, ob jedoch der Ursprung der europäischen Märchen in indischen Märchen liegt, wird kontrovers diskutiert. Da manche Dinge in der Wissenschaft schwer zu beweisen sind, existiert stets auch ein Gegen-Argument. Obwohl ich der ersten Diskussion zustimme, ist es weiterhin forschenswert.

Märchen sind meiner Meinung nach so alt wie die Menschheitsgeschichte.

Zur Gemeinsamkeiten der Märchen äußerten sich einige verschiedene Wissenschaftler. Der russische Philologe Wladimir Jakowlewitsch Propp nahm Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner strukturalistischen Untersuchung im Bezug auf die Morphologie des Märchens[8] eine signifikante Darstellung für die Literaturwissenschaft vor. In seiner Arbeit, welche eine wichtige Rolle in der Märchenforschung spielt, bemerkt er: „Allen Märchen liegt eine feste Handlungsstruktur zu Grunde, unabhängig von ihrem Inhalt. Diese Struktur erfüllt bestimmte Funktionen, die mit „archetypischen“ Akteuren verbunden sind (zum Beispiel Held, Gegenspieler, Helfer etc.)“.

Es lässt sich feststellen, dass geografisch nahe zu einander stehende Völker mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder ähnliche Märchen in unterschiedlichen Fassungen haben oder zumindest dieselben Elemente in ihren Märchen auftauchen, wie Zauberer, Drachen, Feen, Hexen. Meiner Meinung nach stammen die Märchen genau wie die Sprachen aus denselben Quellen, haben sich aber aus verschiedenen Gründen voneinander entfernt oder wurden verstreut. Je älter sowie je verbreiteter ein Volksmärchen ist, desto mehr zeigt es Unterschiede, in seinen jeweiligen Ausformungen/Varianten. Durch gesellschaftlichen und technologischen Wandel haben sich die Volksmärchen inhaltlich und auf der Ebene ihrer Elemente geändert. So gehörten die Kurden beispielsweise bis zur Islamisierung(der Islam kam im 7. Jahrhundert n. Chr. nach Kurdistan), dem zoroastrischen Glauben an. Infolge der Islamisierung drangen islamische Elemente wie z.B. Rosenkränze, Beten…usw. in die kurdischen Volksmärchen ein, das Thema bzw. der Ablauf der Handlung des Märchens blieben wahrscheinlich jedoch erhalten. In der Geschichte des Elimamo konnte ich so etwas auffinden. Das Thema Islamisierung war ein großes Ereignis für die Kurden, da dadurch wurden nicht nur Sprache und Literatur mit arabischen Elementen gefüllt sondern es betraf die ganzen Ebenen der kurdischen Kultur, bis hin zur Kleidung und zur Kochkunst.

Ein anderes Bespiel: Die Rolle des damaligen Hofs in Frankreich, infolge der sozio-politischen Konstruktion, hat die Veränderungen ausgelöst, die im Märchen Rotkäppchen wahrscheinlich früher nicht drin waren wie z.B.: der Wolf war im menschlichen Kleidung bekleidet, Rotkäppchen liegt schön im Bett, ein Gedicht ist angehängt, um sie Sittenstrolchen zu warnen. Man sagt, dass Charles Perrault das Märchen zu jener Zeit angepasst hat, besonders in der moralischen Hinsicht.

Die Eigenschaften der Märchen lassen sich auch unter folgenden Gesichtspunkten zusammenstellen: Der Böse wird bestraft, der Gute wird belohnt. Sie tragen damit häufig eine didaktische belehrende Funktion. Zudem vermitteln sie soziale Werte wie beispielsweise das kleine kurdische Mädchen Dendiknare im gleichnamigen Märchen, das ihrer Mutter gehorchen sollte, ein in der kurdischen Kultur aus unterschiedlichen Gründen wichtiges Verhalten.

Der Ort ist meistes nicht bekannt, nur in den Kunstmärchen finden sich teilweise Angaben über den Ort. Mit göttlichem und teuflischem Subjekt wird oft erzählt, übernatürliche Vorfälle kommen häufig vor. Obwohl viele verschiedene Märchenarten existieren, sind die Zaubermärchen am meisten verbreitet.

Unterteilt werden Märchen zumeist in zwei Kategorien, in Volksmärchen und in Kunstmärchen. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, ob der Autor oder die Entstehungszeit bekannt ist oder nicht. Das Volksmärchen ist Volksdichtung, hingegen sind im Kunstmärchen Gestaltung und Struktur verändert, obwohl man Motive und Struktur der Volksdichtung finden kann. Die ursprünglichste Form, also die älteste Art aller Märchen der Welt ist mündliche Tradition. Kunstmärchen wurden dagegen nach der Verschriftlichung der Volksmärchen verfasst, sie sind daher wie eine Art der Fiktion entstanden (auch sind Volksmärchen eine Art von Fiktion). Der Autor Wilhelm Hauff beispielsweise schuf im 19. Jahrhundert viele Kunstmärchen, die unter den Lesern sehr beliebt waren und noch heute sind.

Bevor die europäischen Märchensammler vom Ende des 17. bis zum Ende des 19 Jahrhunderts(die größten waren Franzose Charles Perrault, die Brüder Grimm, Ernst Moritz Arndt, Benedikte Naubert und Ludwig Bechstein sowie der Schweizer Pädagoge Otto Sutermeister) ihre Arbeit aufgriffen, waren die Gestaltung der Märchen und die Märchen selbst in den Händen der Märchenerzähler. Ihr Beitrag für die Überlieferung von Märchen war enorm. Sicher entstanden auch die neueren Märchen durch ihre Kreativität. Dies war wichtig, denn wie gut ein Erzähler war, hing stark von seinem Bildungsstand sowie seinem Gedächtnisvermögen ab. Die späteren Märchensammler verdanken eben diesen Erzählern ihre Märchen.

 

In der historischen Rückschau zeigt sich, dass jedes Volk besonders im Europäischen Raum mit Beginn des 19. Jahrhunderts versuchte, seine bisher mündlich überlieferten Märchen in schriftliche Sammlungen zu übertragen und verschiedene Forschungen darüber zu beginnen.

Im Folgenden sollen kurz einige Bespiele aus unterschiedlichen Ländern erwähnt werden. Die erste Märchensammlung in Deutschland wurde von Jacob und Wilhelm unter dem Titel „Kinder- und Hausmärchen“ 1812 herausgebracht. Charles Perrault veröffentlichte im Jahr 1697 die erste Märchensammlung Frankreichs mit dem Titel „Histoires ou Contes du temps passé avec des moralités“. Älteste Märchensammlung ist das ca. 2000 Jahre alte Panchatantra aus Indien. Der aus Leipzig stammende Indologe Johannes Hertel (1872-1955) arbeitete viel über das Panchatantra und zum kam zu dem Schluss, dass es erhebliche Ähnlichkeiten zwischen der arabischen Märchensammlung „Tausendundeine Nacht“ und Panchantantra gibt.

Erwähnenswert ist zuerst der Italiener Giambattista Basile (1575-1632) zu erwähnen, welcher als erster und größter europäischer Märchensammler gilt. Im Jahr 1674 erschien sein Werk „Il Pentamerone“ genannt, was Fünf-Tage-Werk heißt und in dem es fünfzig Erzählungen gibt[9]. Seine Erzählungen sollen einen wichtigen Einfluss auf den Stil der Grimmschen Märchen gehabt haben. Der Moskauer Rechtsanwalt und Kulturforscher Alexander Nikolajewitsch Afanasjew[10] (1826-1871), der für seine Märchenforschung besonderes zu den russischen Volkmärchen bekannt geworden ist. In Großbritannien ist der Historiker und Literat Joseph Jacobs (1854-1916 für die englischen Märchen bekannt. Ein weiteres in Europa wichtiges Volkmärchen ist das 1845 von Peter Christen Asbjørnsen (1812-1885) geschriebene norwegische „Norske Huldreeventyr og Folkesagn“; es heißt, er sei von Jacob Grimm inspiriert war.

Außer diesen europäischen Märchensammlungen soll unten über die kurdischen und benachbarten Völker geredet werden. Wie schon bekannt ist, haben zum ersten Mal die Staaten, die ihre Unabhängigkeit erhalten haben, die Interessen für die Volksliteratur gehabt. Vorher hat man sie verbal überliefert. Für das Türkische wurden umfangreiche Sammlungen und Studien über die Türkischen Märchen gemacht. So hat W. Eberhard und P.N. Boratav das grundlegende Werk[11] für die Türken erschafft. Man hat auch für die arabischen Märchen[12] eine große Wichtigkeit gezeigt, besonders mit dem Entstehen arabischer nationalen Abhängigkeiten. Die Arbeiten wie diese waren zugleich für das persische Märchen entstanden. Für das Kurdische, jedoch, gab es bis in die Mitte der 70er Jahren nicht viel. Damals entstanden einige Märchensammlungen der Kurden. Einige wichtige Arbeiten im deutschen Literaturverzeichnis über die kurdischen Märchen soll ich nennen. Frau Luise-Charlette (Jahr) hat aus ihrem rein persönlichen Engagement[13] gesammelt. Die Märchensammlung von Celile Celil(1978) auch ist wichtig, die Tonaufnahme war und von 310 Texten bestand. Es war im Kurdischen auf kyrillischer Schrift dann lateinischer Schrift. Eine weitere Veröffentlichung der kurdischen Märchen ist von Jemal Nebez (1972) „Kurdische Märchen und Volkserzählungen“.

Ein weiteres Thema im Bezug auf Märchen ist der Märchenvergleich. Ich möchte kurz auf dieses Thema eingehen und ein Beispiel aus dem kurdischen und deutschen Märchen diskutieren. Denn Dendiknare beim Kurden und Schneewitchen bei Deutsche weisen unglaublich Ähnlichkeiten auf.

2b. Märchenvergleich

Wie wichtig ist es, Märchen zu vergleichen? Was kann damit erreicht werden?

Meines Erachtens entsprechen die unbeantworteten Fragen in Bezug auf Märchen genau den unbeantworteten Fragen im Bereich der Sprachwissenschaften.

Die bekanntesten Forschungen zum Sprachenvergleich führte der einflussreiche Linguist Joseph Greenberg[14] (1915-2001) für die Sprachtypologie und Universalienforschung (das Ziel war/ist die Gemainsamkeiten zwischen menschlichen Sprachen herauszufinden) durch und leistete damit den größten Beitrag zu Klassifikation der Sprachen. Hierbei wurden zahlreiche Gemeinsamkeiten innerhalb der menschlichen Sprachen zu Tage gebracht.

Die Vergleichsuntersuchungen für Sprachen können auch für die Märchen durchgeführt werden. Dies könnte zu Klarheiten über die Ähnlichkeiten der verschiedenen Märchen untereinander führen, zumindest ließe sich herausfinden, inwieweit Gemeinsamkeiten bei Märchen derselben Sprachefamilien bestehen.

Ich denke, dass das Erfinden von Märchen angeboren, in den Genen der Menschen kodiert ist. Denken wir nur daran, wie viele Volksgruppen eigene Märchen erfanden, ohne von anderen Völkern zu wissen, die bereits ähnliche Märchen erfunden hatten.

Eine Frage erstellt sich:“ Gibt es Gene für andere Sache auch wie die Erfindung der Töpferwaren? Die Antwort ist hochtwahrscheinlich „nein“. Die Erfindung der Märchen, ist anders als die Erfindung anderer Gesichten oder Beschreibungen, obwohl sie universell sind, und auch als die Fragen des Menschen mit seiner Umwelt zu verstehen sind, die die Menschen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten unabhängig voneinander ähnliches hervorbrachten, z.B. Schöpfungsgeschichten, Jahreslauf der Natur, Naturkatastrophen, Sonne & Mond, Hochwasser… etc. Denn keine ist wie eine menschliche Sprache (vergleiche: Künstlichen Sprachen, tierischen Sprachen, Engelsprachen..usw) so komplieziert und keine ist wie Märchen so fantezievoll. Hinzufügen ist, dass der Mensch im Laufe der evolusion versucht hat, sowohl bei Erfindung der natürlichen Sprachen und auch bei Erfindung der Märchen eine geistliche Erleichterund zu finden.

Diese Angeborenheit[15]entspricht vielleicht der Realität oder eher der These des bekanntesten heutigen Linguisten Noam Chomsky[16], der festgestellt/postuliert hat, dass es im Gehirn ein spezifisches, angeborenes kognitives Modul für den Spracherwerb gibt[17].

Wie bereits angedeutet, sind sich die meisten Märchenforscher einig, dass es zwei Kriterien gibt, die bestimmen, ob ein Märchen inhaltlich konstant bleibt, nämlich die Verbreitung und das Alter des Märchens. Der Verbreitungsraum der kurdischen und der deutschen Märchen ist nicht so weit von einander entfernt. Es ist recht wahrscheinlich, dass sich ein Märchen zwischen Europa und dem mittleren Osten ziemlich gut verbreitet hat. Es konnte sogar bis in die Neue Welt, nach Amerika, gehen, denn die heutige Kultur des amerikanischen Kontinentes wurzelt hauptsächlich in der indo-europäischen Kultur.

Obwohl Märchen über die Realität hinausgehen und unglaubwürdige, phantasievolle Ereignisse beinhalten, reflektieren sie wie alle anderen Literaturgattungen viele politische, soziale, psychologische Hintergründe der jeweiligen Zeit. Nimmt man an, dass die Märchen zuerst im Mittelalter niederschrieben wurden und sich von dieser Zeit an bis in das 20. Jahrhundert hinein die gesellschaftlichen und politische Systeme geändert haben, so könnte man sagen, dass sie im Laufe der Jahrhunderte aus sozialen und moralischen Gründen inhaltlich verändert wurden. Sicher wurden die Märchen während ihrer mündlichen Überlieferung stärker verändert als in ihrer verschriftlichten Form, welche weniger Änderungen durchlebten. Letztendlich wurden sie den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen, wie Moral und Gesetzen, angepasst.

Ein gutes Bespiel hierfür ist das Märchen „Rotkäppchen“. Die Version des französischen Schriftstellers Charles Perraults „petit chaperon rouge“ unterscheidet sich in einigen Elementen von der deutschen Version. Die französische Version des Märchens erfuhr durch den damaligen sozial-politischen Wandel, die Kultur am Königshof, inhaltliche Veränderungen. Charles Perraoult ließ so zum Beispiel bei seinem Vortrag des Märchens am französischen Hof einige Elemente bewusst weg.

Das Märchen von Rotkäppchen wurde bei allen Völkern Europas über hunderte Jahre hinweg nur mündlich überliefert, es existieren von Land zu Land vielfältige Varianten, es findet sich bei dem russischem Märchenwissenschaftlern Wladimir Jakowlewitsch Propp, bei den deutschen Brüdern Grimm, in Großbritannien unter dem Titel „Little Red Riding Hood“. Der Meinung des italienischen Autors Anselmo Carvetti[18] nach könnte das Märchen Rotkäppchen sogar seit der Frühgeschichte der Menschheit existiert haben.

Im Gegensatz zu den verschiedenen Varianten der europäischen Kultur ist die kurdische Rotkäppchen-Version, bei Kurden heißt das Märchen „Schenga min Penga min“, der deutschen Version inhaltlich sehr ähnlich. So ist beispielsweise das Ende des Märchens gleich. Während der Wolf in der französischen Version sowohl die Großmutter als auch Rotkäppchen frisst, befreit in der kurdischen und deutschen Version hingegen ein Jäger die Mutter und die Tochter aus dem Bauch des Wolfes und näht diesem anstatt dessen Steine in den Bauch. Vom Gewicht der Steine kann der Wolf nicht fliehen und muss sterben. In der italienischen Version kann sich Rotkäppchen durch ihre eigene Klugheit von der falschen Großmutter befreien und am Ende fliehen, der Wolf stirbt anschließend.

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