Buch lesen: «Spitzeltango»
Foto Marco Volken
Emil Zopfi, geboren 1943, studierte nach einer Berufslehre Elektrotechnik und arbeitete als Computerfachmann und Erwachsenenbildner für Informatik und Sprache. Autor von Romanen, Hörspielen, Kinder- und Jugendbüchern sowie Bergmonografien. Er lebt heute als Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem King Albert Mountain Award und dem Glarner Kulturpreis. Im Limmat Verlag sind seit 1977 zahlreiche Bücher erschienen, zuletzt die Andrea-Stamm-Trilogie «Steinschlag», «Spurlos» und «Finale».
Emil Zopfi
Spitzeltango
Roman
Ich gehe, gehe,
ich suche die Freiheit,
ich hoffe, den Weg zu finden,
um weiterzugehen.
Victor Jara (1932–1973)
Robert stand neben dem Gepäckband an der Kurve, wo die Koffer und Taschen der Flugpassagiere aus der Tiefe heraufbefördert wurden und auf die schwarzen Gummischuppen fielen. Er sah zu, wie die halbmondförmigen Schuppen ineinandergriffen, sich verdrehten und dann wieder ausrichteten. Das Band lief schon eine Weile leer, dann stoppte es, die Anzeige am Bildschirm erlosch. Sein Koffer war nicht angekommen.
Die letzten Passagiere seines Flugs schoben ihre Trolleys zum Ausgang. Durch die Glasfront sah er Menschen in der Ankunftshalle, die sich umarmten und küssten. Zwei Kinder schwenkten Fähnchen. Weisses Kreuz auf rotem Grund. «Welcome to Switzerland», stand in schwarzer Schrift auf einer Wand aus Chromstahl.
Der Flug aus Chicago hatte in Frankfurt den Anschluss verpasst, Sturm über dem Atlantik. Man hatte ihm versichert, sein Koffer werde nach Zürich umgeleitet. Er schritt durch die Halle, wo die Passagiere anderer Flüge ihr Gepäck von den Bändern hoben und auf Trolleys türmten. Skiausrüstungen, Rucksäcke, ein Cello, ein Teddybär, der auf einer mit Bindfaden umschnürten Schachtel sass.
Im Fundbüro «Lost and Found» sass eine Afrikanerin hinter einem der Bildschirme, das schwarzglänzende Haar in dicht am Kopf anliegende Zöpfchen geflochten. «May I help you, Sir?»
Ihr Englisch klang kantig, so wie Schweizer sprechen. Im Midwestern-Slang, den er sich seit langem angewöhnt hatte, erklärte Robert, dass sein Koffer nach der verspäteten Ankunft in Frankfurt umgeleitet worden sei. Zuverlässig auf den Anschlussflug, habe man versichert. Er schob der Frau das Flugticket mit dem angeklebten Gepäckschein hin. Sie warf einen Blick darauf, tippte einige Daten in ihre Tastatur, legte ihre Stirn in Falten. Dann telefonierte sie, ihre rauchige Stimme und die Zürcher Mundart befremdeten ihn.
Er sah durch die Glasfront, wie sich die Angekommenen in der Halle zerstreuten, beobachtet von zwei Polizisten in blauen Hemden mit Pistole und Schlagstock am Gürtel. Ein Mann stand noch beim Ausgang, ein Schild in der Hand: «Herr Wehrli». Auch Herr Wehrli ist verloren gegangen. Ein verlorener Sohn wie ich, dachte Robert. Aber nun bin ich hier, für wenige Tage. Wie viele Jahre waren vergangen seit dem letzten Mal? Er mochte nicht nachzählen.
«I’m sorry, Sir.» Man werde sein Gepäck nachliefern, sobald es eintreffe, erklärte die schwarze Schweizerin. Voraussichtlich mit dem nächsten Kurs der Lufthansa aus Frankfurt. Wahrscheinlich sei die Zeit in Frankfurt zu knapp gewesen, um das Gepäck umzuleiten. Sie tippte mit einem Kugelschreiber auf ein Formular. Er müsse hier seine Wohnadresse in der Schweiz eintragen. Hotel oder privat, ein Kurier werde ihm den Koffer ausliefern, auch spät nachts noch, wenn er das wünsche.
«Es ist dringend. Ein Vortrag. Mein Notebook ist im Koffer.»
«Wir tun unser Bestes, Professor Brown.»
Sie hatte seine Personaldaten vom Schirm gelesen. Professor Robert Brown, University of Iowa, Iowa City.
Robert griff nach dem Stift. Die Veranstalter des Symposiums hatten ein Hotel reserviert, doch der Name wollte ihm nicht einfallen. Die Unterlagen waren im Koffer, er hatte sie nur flüchtig durchgesehen. Ein Hotel in der Umgebung der Hochschule, glaubte er sich zu erinnern.
Die Frau nannte zwei oder drei Namen, er hörte nur halb hin, schüttelte den Kopf.
«Sie erinnern sich wirklich nicht?» Mit spitzen roten Fingernägeln zupfte sie an ihrer Augenbraue. Sie glaubte ihm nicht.
«Tut mir leid. Das Alter, Sie verstehen.»
«Soll ich die Hochschule anrufen?»
«Danke, ich kümmere mich darum.» Er schrieb die Nummer seines Smartphones ins Formular.
Sie schob ihm das Papier zurück, markierte eine Linie mit einem Kreuz. «Unterschreiben Sie bitte hier.»
Er setzte seine Unterschrift hin. Robert Brown.
«Können wir Ihnen sonst noch behilflich sein?»
Robert fuhr mit der Hand über seine Gesässtasche, die Brieftasche war da, mit Kreditkarten und Ausweisen, das Smartphone steckte in der Innentasche der Jacke. «Danke, ich kenne mich aus.»
«Rufen Sie an, wenn Sie ein Hotel gefunden haben.» Sie zog einen Kreis um eine Telefonnummer auf dem Formular. «Schönen Aufenthalt in Zürich.»
«Besten Dank.» Er faltete das Papier, steckte es ein.
«Ist noch was?» Sie sah ihn an. Hatte er ohne es zu bemerken Zürichdeutsch gesprochen? Er war Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika. In Zürich aufgewachsen. Doch seine Biografie ging niemanden etwas an, am wenigsten eine kleine Angestellte des Flughafens.
«See you», sagte er.
Sie nickte. «Good luck, Sir.»
Beim Ausgang sah er sich um. Sie hielt den Telefonhörer in der Hand und wählte eine Nummer.
In der Empfangshalle standen die beiden Polizisten, einer telefonierte, und Robert bildete sich ein, die Schwarze habe ihn angerufen. Er wandte sich ab, folgte den Piktogrammen, die zur Bahnstation leiteten. Die Beamten lachten über irgend etwas, nahmen keine Notiz von ihm. Der Mann, der einen Herrn Wehrli erwartet hatte, trat auf Robert zu, hielt ihm das Schild entgegen.
«Bin ich nicht. Bedaure.»
«Dann ist er wohl nicht angekommen». Der Mann faltete den Karton und steckte ihn ein. «Ich habe gewartet, weil ich vermutete, Sie seien es. Auf einem Foto sehen Sie Herrn Wehrli ähnlich.»
«Kommt vor. Jeder Mensch hat Doppelgänger.»
Der Mann zog sein Handy aus der Tasche, nickte Robert zu. «Na dann. Wünsche angenehmen Aufenthalt in Zürich.»
Pippo stieg in die Stiefel, nahm die Schere vom Nagel am Türpfosten seines Gartenhauses und trat ins Freie. Es regnete seit Tagen. Das Wasser stand zwischen den Gartenbeeten, vom Regenfass zog ein Rinnsal den Kiesweg entlang, staute sich in einer Pfütze beim Zaun. Das Dach leckte, es tropfte in die Hütte. Pippo fuhr sich mit der Hand über seine nassen Haare. Wenn der elende Regen endlich aufhören würde, könnte er das Dach flicken. Er stapfte durch die Wege zwischen den Beeten, seine Stiefel hinterliessen tiefe Abdrücke in der Erde. Er bückte sich und zerschnitt eine der roten Schnecken.
«Das einzige, was hier noch wächst, sind Unkraut und Schnecken», grummelte er vor sich hin. Seine Frau hatte Schneckenkörner gestreut, als sie noch lebte, sie hatten sich gestritten deswegen. Sie fand das Zerschneiden mit der Schere brutal, und zudem, sagte sie, blieben die schleimigen Überreste liegen und zogen andere Schnecken an. Kannibalen waren sie, machten sich über ihre Artgenossen her. Gift fand er schlimmer, es schadete der Umwelt und tötete die Igel, die verendete Schnecken frassen. Zudem unterstützte man mit dem Gift einen Chemiekonzern, der seinen Bossen Millionenboni in den Arsch schob.
Sie hatten sich gestritten, seit sie sich kannten. Wenn er mit wilder Wut eine fette Schnecke zerschnitt, wusste er nicht, ob er damit die Abzocker der Banken und Konzerne meinte oder etwa gar … Nein, sie hatten sich doch geliebt. Alice war die Liebe seines Lebens gewesen.
Er biss sich auf die Lippen, steckte die Schere in die Erde, um sie zu reinigen, trat unters Vordach und hängte sie zurück an den Nagel. Dann zündete er eine Parisienne an und sah in den Regen.
Alice war eine schöne Frau gewesen, einige Jahre jünger als er. Für sie hatte er sein wildes Leben in einer Landkooperative in Italien aufgegeben, hatte sich als Tramführer bei der Stadt Zürich beworben, ein Genossenschaftshäuschen am Friesenberg gemietet und einen Schrebergarten. Ich brauche den Kontakt mit der Erde, pflegte er zu sagen. Auch wenn die grossen Träume von kollektiv bewirtschafteten Gütern mit Olivenhainen und Artischockenfeldern, Schafskäse und eigenem Wein verweht waren – wenn er seinen Salat zog und seine Bohnen steckte, tauchten vor seinem inneren Auge immer wieder die Bilder auf. Wie er mit dem Traktor die Erde unter den Olivenbäumen pflügt, auf den Terrassen am Abhang des Monte Cavallo hoch über der Ebene von Calenzano und Prato, in der Ferne die Kuppel des Doms von Florenz. Die Touristin aus Zürich mit dem Al-Fatah-Tuch um den Hals balanciert vorsichtig über eine Trockensteinmauer, Wein, Wasser, Brot und Käse im Korb. Sie macht Ferien auf dem Bauernhof in der Toskana, unbeschwert und neugierig mit braunen Augen, die immerzu lachen. Am Anfang hatten sie nicht gestritten und auch am Ende nicht mehr. Am Ende hatte sie nicht mehr geredet, konnte sie nicht mehr reden.
Pippo warf die Zigarette in eine Pfütze, wo sie zischend erlöschte. Das Futter im Katzenteller unter dem Vordach war unberührt, Rosalba hatte sich einen trockenen Unterschlupf gesucht. Irgendwann war ihm die rote Tigerkatze zugelaufen, er fütterte sie gelegentlich. Dann verschwand sie wieder für Wochen.
In der Hütte riss er eine Büchse Bier auf, trank gierig. Schaum rann ihm übers Kinn. Die leere Büchse warf er auf den Boden, trat sie mit dem Absatz flach. Dann setzte er seine Lesebrille auf, griff sich die Zeitung, die ihm Greta vom Nachbargarten hingelegt hatte. Ein Gratisblatt. Er überflog die Titel, ein Finanzskandal, eine Umweltkatastrophe, das politische Kasperlitheater in Bern. Gelegentlich schnitt er einen Text aus und schob ihn in eines der Mäppchen, in denen er seit Jahren alle Übel der Welt sammelte, nach Themen geordnet. Er hatte Leserbriefe geschrieben, auch für bürgerliche Blätter. Lange und komplizierte Texte, die er auf seiner Schreibmaschine mit zwei Fingern tippte. Nur selten wurde einer gedruckt, meist gekürzt und oft verzerrt. Er hatte aufgehört, als eine Redaktion schrieb, sie nähmen Zuschriften nur noch in elektronischer Form entgegen. Aus lauter Gewohnheit sammelte er noch immer Zeitungsausschnitte.
Die Bananenschachtel mit den Ordnern und den Mäppchen bewahrte er unter einem Gestell in einem Winkel des Gartenhauses auf. Alice hatte das Zeug nicht geduldet in der Wohnung, das Geklapper der Schreibmaschine hatte sie gestört.
Pippo las: «Fall Kunz: Velo aus Limmat geborgen!»
Taucher hätten das Fahrrad des verunglückten Politikers beim Schiffssteg am Limmatquai gefunden. Vermutlich sei er unter Alkoholeinfluss von der Strasse abgekommen und in den Fluss gestürzt.
«Schwachsinn», murmelte Pippo. Er kannte den Ort, wo das Limmatschiff anlegte. Zwei Treppen führten zu einer Plattform am Wasser, dort fuhr einer im grössten Suff nicht hinunter. Es war stadtbekannt, dass Martin Kunz Alkoholiker war. Aber so etwas konnte nur ein Depp von Journalist schreiben, der die Stadt bloss durch den Bildschirm betrachtete. Früher hätte er gleich seine Adler vom Gestell geholt, ein Blatt eingespannt und eine gepfefferte Entgegnung geschrieben. Wie man belogen, betrogen, manipuliert wurde durch die von Managern im Dienst gieriger Aktionäre gesteuerten Medien. Ach, was solls.
Pippos Lippen zitterten. Noch ein Bier. Dann holte er die Schneckenschere, schnitt den Bericht aus, schob ihn in ein Mäppchen mit der Überschrift «Alte Genossen».
Da war ein Brief. Hermann drückte mit einer Hand die Klappe des Briefkastens hoch, versuchte mit zwei Fingern das dicke Kuvert herauszuklauben. «Shit!» Der Postbote hatte den Brief in den Schlitz gezwängt, nun steckte er fest. Den Schlüssel hatte er verlegt. Hermann atmete schwer, dann schlug er mit der Faust aufs Blech. Die andern Briefkästen trugen keine Namensschilder, einer war aufgerissen. Auf der Treppe lagen zerfledderte Gratiszeitungen herum.
Er trat ins Freie, lehnte gegen die Mauer, drehte sich eine Zigarette. Die Hand mit dem Feuerzeug zitterte. Er hielt die Flamme in den Regen, sah zu, wie die Tropfen verdampften. Autoreifen zischten durch Pfützen, Masken glotzten hinter rudernden Scheibenwischern auf die Strasse. Der Brief, dachte er. Er trug das Signet der Filmstiftung. Hermann wusste, was er enthielt. Gesuch für einen Werkbeitrag, Dokumentarfilmprojekt «Tanguerilla». Hermann Amberg, Filmautor. Sein Dossier, in das er viel Zeit investiert hatte. Viel Herzblut. Mit Dank zurück. Wie schon ein halbes Dutzend Dossiers zuvor. Einige Monate Recherche in Zürichs Tangoszene, achtlos in den Blechkasten gestopft. Der Briefträger hätte ihn auch gleich zu den Schrottzeitungen schmeissen können. Spielberg müsste man heissen, nicht Amberg.
Hermann warf die halb gerauchte Zigarette auf den Gehsteig, schritt den Häusern entlang zur Langstrasse. Zwei Schwarze kamen ihm entgegen, machten keine Anstalten auszuweichen. Einer sah ihn an: «Gras?»
«Danke, bin bedient.» Hermann trat auf die Strasse, ein Taxi streifte ihn beinahe. «Arschloch», schrie er ihm nach, streckte den Mittelfinger hoch. Der Fahrer hielt kurz an, ein Typ mit kahlem Schädel, sah in den Rückspiegel, tippte mit zwei Fingern an die Schläfe, dann fuhr er weiter.
Im «Aargauerhof» sass eine Rentnerin über eine Zeitung gebeugt, einen Kaffee im Glas vor sich. Wie vor fünfzig Jahren, dachte Hermann, als das Lokal noch eine Quartierknelle war und sein Vater Stammgast. An der Bar fingerten zwei füllige Blondinen mit Ohrstöpseln auf ihren Smartphones herum. Ihre Schenkel wippten im Takt der Musik, die als rhythmisches Zischen zu hören war. Hermann setzte sich an einen der runden Tische beim Fenster.
«Was darfs sein?», fragte die Kellnerin.
«Tee citron bitte.» Hermann blätterte im «Tages-Anzeiger», der auf dem Tisch lag, ohne zu lesen. Sein Projekt war abgelehnt, das war so sicher wie das Urbi et Orbi des Papstes an Ostern. Wir machen einen Film, und du bist der Star, hatte er Carmen vorgeschwärmt. Ich bin kein Schwätzer, verstehst du. In Berlin habe ich Kurzfilme gedreht, einen Preis am Festival in Oberhausen bekommen. Ehrlich, ich kann dir das Diplom zeigen.
Oberhausen, hatte Carmen gesagt. Das klingt wie Entenhausen. Disney? Ich Daisy Duck? Drehen in Hollywood?
Nix Hollywood, Kind. Tango hat seine Wurzeln in der Arbeiterklasse, in der Emigration, das weisst du doch. Du als Migrantin. Das Heimweh, die Auflehnung gegen die sozialen Verhältnisse, die Melancholie. Du kennst doch den Song von Carlos Gardel, Mi noche triste … Du, Carmen, du bist der Star. Kind der Villas Miserias von Buenos Aires.
Er schaltete sein Smartphone ein, steckte sich einen Hörer ins Ohr. Astor Piazzolla, «Libertango». Mit dem Zeigefinger tippte er den Takt auf dem Tisch.
Carmen hauste in einem Verschlag im Estrich, zahlte keine Miete. Dafür hatte sie ihn in ihren Tangoclub mitgeschleppt, wo sie unterrichtete. Oder ehrlich gesagt, einen Tangolehrer und Obermacho aus dem Zürcher Oberland als Partnerin beim Unterricht unterstützte. Aber nun war sie weg. Wieder mal. Und er hockte im Loch, ganz ganz tief. Zu allem Unglück kam auch noch das Dossier zurück, Shit happens. Zürich, die ganz grosse Scheisse.
«Ich hau wieder ab nach Berlin», brabbelte er vor sich hin. Wedelte mit der Zeitung Krümel vom Tisch und stiess dabei das Teeglas um.
«Ach, ich Trottel …»
Die Kellnerin eilte herbei, tupfte mit einer Serviette den Tee auf. «Schon gut. Ich bring dir einen neuen.»
Hermann zog den Hörer aus dem Ohr, faltete die Hände, stützte das Kinn drauf und schloss die Augen. Ich hab noch einen Koffer in Berlin. Aber dahin wollte Carmen nicht, auf keinen Fall. Entre los alemanes, no gracias. Zu kalt, zu unfreundlich, zu grau.
Er war kurz eingenickt, als ihn etwas Feuchtes ans Bein stupfte. Er langte hinab, fühlte eine Hundeschnauze, eine raue Zunge, die seinen Handrücken leckte.
«Was treibst du hier im Ausland?»
«Doofkopf», brummte Hermann. «Lass mich in Ruhe.»
Ihm gegenüber liess sich ein Typ mit grauer Zottelmähne und einem verfilzten Bart nieder. Iwan, ein alter Bekannter. Unter dem Tisch schnüffelte sein schwarz-weisser Border Collie herum.
«Ein Zürcher im ‹Aargauerhof›, gehts noch?»
«Familientradition.»
Der Bärtige winkte der Kellnerin, die am Büfett mit den fülligen Damen plauderte. «Ein Tschumpeli Maienfelder bitte.»
Dann deutete er auf das Teeglas. «Bist du krank?»
Hermann gab keine Antwort, blätterte durch die Zeitung. Die Kellnerin brachte den Tee und den Wein auf einem Tablett. Iwan hob sein Glas, zwinkerte Hermann zu. «Zum Wohl. Und danke schön.»
«Du glaubst ja wohl nicht, dass ich dich einlade, Iwan?»
«Ach, Hermi. Seit die Berliner Mauer gefallen ist, glauben wir beide doch nichts mehr.»
«Stimmt, ich war dabei, als die Ossis das Ding niederhackten. Da hats bei mir Klick gemacht.» Er schüttete zwei Briefchen Zucker in den Tee.
Iwan nahm einen tüchtigen Schluck, atmete tief durch. «Du bist doch Hausbesitzer, ein Kapitalist. Und ich ein armer alter Prolet.»
«Meine Ruine gehört der Bank. Schulden bis unters Dach, und das tropft wie ein Sieb.»
«Dort oben wohnt doch deine Schöne, oder nicht?»
«Meine Untermieterin meinst du?»
«Dem kann man auch so sagen.» Iwan kippte den Rest, dann hob er das leere Glas, rief mit lauter Stimme: «Noch ein Tschumpeli. Auf den real nicht mehr existierenden Sozialismus.»
Iwan war in jungen Jahren Mechaniker bei Escher Wyss und ein fleissiger Parteisoldat der Kommunisten gewesen, bis man ihn ausgeschlossen hatte. Revisionist, Polizeispitzel oder Trotzkist, irgendwas. Kein Mensch wusste, wie er wirklich hiess, doch an jeder Versammlung, an jeder Gewerkschaftssitzung oder Kundgebung stand er auf und hielt eine wirre Brandrede. Man nannte ihn deshalb auch «Iwan den Schrecklichen». Jetzt hütete er im Sommer auf einer Alp im Bündnerland Schafe oder Rinder und roch auch so.
«Weisst du das Neuste schon? Wegen dem Martin?» Iwan drehte sich die Bartspitze um den Finger, beugte sich vor.
«Ein tragischer Fall. Friede seiner Asche.»
Die Kellnerin trat an den Tisch, hielt sich die Nase zu und legte einen Kassenzettel auf den Tisch. «Wer bezahlt?»
«Mein guter Freund da.» Iwan schob den Zettel zu Hermann hinüber.
Der beherrschte sich, fand in der Hosentasche eine zerknitterte Note. «Stimmt so.»
Iwan zog den «Tages-Anzeiger» zu sich heran, schlug den Lokalbund auf und klopfte mit dem Knöchel auf einen Bericht. Das Bild zeigte zwei Taucher, die ein Velo mit verbogenem Vorderrad aus der Limmat hoben.
«Martin war stockbesoffen», sagte Hermann. «Das ist nichts Neues.»
«Besoffen ersoffen», kalauerte Iwan. «Promille einskommavier, sagt die Schmier.» Er trommelte mit seinen schmutzigen Fingern auf den Tisch und wiederholte den dummen Reim ein paarmal. Der Hund sprang hoch, bellte kurz.
Hermann überflog den Bericht. Das meiste hatte er schon online gelesen. Martin Kunz, Gemeinderat der Grünen, war in der vorletzten Nacht beim Schiffssteg am Limmatquai mit dem Fahrrad in den Fluss gestürzt und ertrunken. Die Polizei ging von einem Unfall aus. Er holte Papier und Tabak hervor, begann sich eine Zigarette zu drehen.
«Und was weisst du, was nicht in der Zeitung steht?»
Er liess das Feuerzeug aufflammen, doch da stand schon die Kellnerin am Tisch. «Hier nicht rauchen, gell!»
«Zu Befehl, Madame.»
«Trinken wir doch noch einen zusammen», griente Iwan. «Auf den Genossen Martin selig.» Er streckte zwei Finger auf.
Hermann schüttelte den Kopf. «Für mich ein Mineral. Und diesmal auf deine Rechnung, Alpöhi.»
«Ah, der Herr ist jetzt beim Blauen Kreuz? Der arme Martin wäre auch gescheiter abstinent geworden.»
Hermann drehte sich zur Seite, als Iwan seinen Stuhl näher schob. Es mussten Schweine gewesen sein, diesen Sommer, dachte er. Rinder und Schafe stinken anders.
Der Bärtige dämpfte seine Stimme. «Man hat drei Typen auf Motorrädern gesehen, die Martin verfolgten.»
«Wer erzählt das?»
«Ich hab so meine Quellen.»
«So wie die Partei damals, als sie dich rausgeworfen hat. Aufgrund von Gerüchten.»
Iwan ging nicht auf die Anspielung ein. «Morgen Nachmittag gibts im Volkshaus eine kleine Trauerfeier für den alten Genossen.»
«Martin ist tot, was solls.»
«Er war doch dein Freund, oder nicht?»
Hermann stand auf. Der Hund schnupperte ihm um die Beine. Ein sauberes Tier, nicht so verkommen wie sein Meister.
«Platz, Laika.»
Laika, dachte Hermann. Der Schweinehirt trauert noch immer den alten Zeiten nach. Tauft seine Hündin nach der Laika, die die Russen 1957 ins All schossen und dort krepieren liessen. Und die Tierquälerei als Triumph der sowjetischen Raumfahrt feierten. Laika kauerte neben Iwans verdreckten Bergschuhen auf den Boden, er streichelte ihr den Kopf.
Die Kellnerin stand bei der Tür, wünschte einen schönen Tag. Trotz Wetter.
Ohne Gepäck fühlte sich Robert wie befreit. Locker schritt er durch die Halle des Hauptbahnhofs, unter deren Dach der fette blaue Engel mit den goldenen Flügeln schwebte, die Skulptur von Niki de Saint Phalle. Mit dem Koffer schien ihm auch die Sorge um seinen Vortrag oder um ein Hotel abhanden gekommen zu sein. Eine Last war von ihm gefallen, all der Plunder, den ihm Marilyn eingepackt hatte, zweiter Anzug, Hemden, Krawatten, Rasierapparat. Und das Notebook mit dem Vortragstext. Max Frischs amerikanisches Trauma.
Zürich! Wie lange war er nicht mehr hier gewesen. Vor einem Dutzend Jahren war sein Vater gestorben, der alte und verbitterte Lehrer, der die Welt nicht mehr verstand. Seinen Sohn hatte er schon lange nicht mehr verstanden. Nur kurz war Robert damals in der Stadt gewesen, um den Nachlass zu regeln, eine Sperrgutmulde voll abgewohnter Möbel, ein bescheidenes Sparkonto bei der Kantonalbank. Das wars dann. Der Schutzengel hatte schon damals unterm Dach des Bahnhofs gehangen.
Er trat beim Taxistand ins Freie, graues Gewölk lastete über der Bahnhofstrasse, es regnete. Der Bankenkönig Alfred Escher, in Bronze erstarrt auf der Säule des Brunnens am Platz, wandte ihm seinen nassen Rücken zu. Am Taxistand warteten Chauffeure mit Baseballmützen neben ihren Autos, eine Hand in der Hosentasche, die andere mit dem Mobiltelefon am Ohr. Afrikaner oder Araber, die ihn mit finsterem Ausdruck musterten. Kein Gepäck, kein Kunde.
Zürich, eine fremde Stadt. Schon die Anfahrt durch Baustellen bei Oerlikon und im Industriequartier, durch einen Dschungel von Kranen und Gerüsten, hatte ihn irritiert. Ein alles überragender Turm, ein Phallus aus grünem Glas, ragte aus dem Industriequartier in den Himmel. Ein Fremdkörper, schien ihm. Zürich war nicht Chicago. Die S-Bahn hatte kurz an einem Bahnhof angehalten, von dem er noch nie gehört hatte. Beinahe wäre er zu früh ausgestiegen: Hardbrücke.
Er brauchte einen Schirm. Bei der Tramhaltestelle kam ihm ein dichter Strom von dunkel gekleideten Gestalten entgegen. Feierabend, die Angestellten aus den Banken und Büros drängten sich zum Bahnhof und zu den Pendlerzügen. Eine Frau in gelber Seglerjacke stand am Abgang der Rolltreppen zur Ladenpassage, verteilte Zeitungen an die Vorbeihastenden. Auch ihn nötigte sie, ein Gratisblatt in die Hand zu nehmen. So hatte er vor Jahren Flugschriften verteilt vor Fabriktoren. Ein Songtext auf einem jener Blätter fiel ihm ein.
Ich gehe, gehe,
ich suche die Freiheit,
Ich hoffe, den Weg zu finden,
um weiterzugehen.
Er warf einen Blick auf das Frontbild der Zeitung. Taucher bergen ein Fahrrad aus der Limmat. Er steckte das Blatt ins Haifischmaul eines Abfalleimers aus Chromstahl. Genau wie es die Fabrikarbeiter mit den politischen Traktaten gemacht hatten, über deren Texten sie in der Gruppe tagelang gebrütet und gestritten hatten.
Der Strom von Menschen aus der Bahnhofstrasse trieb ihn nach links, an McDonald’s, Starbucks und einem Apple Store vorbei zur Bahnhofbrücke über die Limmat. Das Restaurant Du Nord hiess jetzt «Au Gratin». Zürich hatte sich neue Fassaden und neue Sprachen zugelegt, und doch kam es ihm vor, als habe er nicht Jahrzehnte im Ausland gelebt, als sei er nur heimgekehrt nach einer langen Reise. Auch in Iowa City gab es McDonald’s, Starbucks und einen Apple Store. Vielleicht war seine Reise nur ein Traum gewesen, Iowa City, die University, Marilyn, die Tochter und sein Enkel Jonathan. Seinen Koffer mit dem Notebook und den Unterlagen hatte er sich bloss eingebildet. Ein Traum, ein anderes Leben.
War es möglich, dass man zwei Leben lebte, die nichts miteinander zu tun hatten? Etwas in seinem Kopf schien wie ausgelöscht, zwischen den zwei Leben klaffte eine Lücke. Er spürte einen Stich hinter dem rechten Auge, tief in seinem Gehirn. Seit ein paar Wochen kam er gelegentlich wieder, kurz und heftig, wie eine Injektion in sein Unterbewusstsein.
Ich gehe, ich gehe.
Bei der Limmatbrücke vor dem flachen Gebäude eines Supermarktes fiel ihm wieder ein: der Schirm.
Coop – für Sie offen Montag bis Samstag 7 bis 22 Uhr.
Er kaufte sich einen Knirps, bezahlte mit Kreditkarte. Unter dem Vordach des Coop versuchte er den Schirm aufzuspannen, doch der Mechanismus klemmte. Ein Auto fuhr vorbei, aus einer Pfütze spritzte Wasser auf. Tropfen glitzerten im Licht der Schaufenster. Für Sekunden tauchte ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Schimmernde Wasserfontänen im Sonnenlicht. Eine Reihe von Polizisten sperrt die Brücke, sie tragen blaue Hemden mit kurzen Ärmeln, Krawatten und Uniformhüte. Wasser schiesst aus Feuerwehrrohren gegen eine Menge junger Menschen, die vom Central und vom Bahnhof her gegen das Gebäude stürmen. Junge Männer mit langen Haaren und blossen Oberkörpern stürzen auf den Polizeikordon los, reissen Abschrankungen nieder, zerren die Feuerwehrschläuche weg, lassen sich nass spritzen. Andere schleudern Pflastersteine und Bierflaschen gegen die Beamten. Vom Balkon des Eckhauses feuert der Kommandant der Polizeitruppe über Megafon seine Leute an: Packt den Langhaarigen da vorn! Nehmt ihn rein! Vier Polizisten greifen zu, reissen einen Jungen zu Boden. Er wehrt sich, schreit und schlägt um sich. An Armen und Beinen schleifen sie ihn weg.
Der 29. Juni 1968 war ein heisser Sommertag, ein Samstag. Robert war per Zufall vorbeigekommen auf dem Weg vom Seebad Tiefenbrunnen nach Hause. «Globuskrawall» nannte man später die Strassenschlacht um den flachen Bau, der dem Warenhaus Globus als Provisorium gedient hatte und leer stand. Die rebellische Jugend der Stadt wollte das Gebäude besetzen und zum autonomen Jugendzentrum machen. Sie fühlte sich von den Behörden hintergangen, die schon längst ein Jugendhaus versprochen, aber nie gebaut hatten.
Robert war plötzlich in der vordersten Reihe gestanden, pudelnass gespritzt. Später erinnerte er sich nicht mehr, wie er dahin gekommen war. Die Bullen packen ihn von der Seite, von hinten. Er schlägt um sich, er ist stark, spielt Handball in der Universitätsmannschaft. Einer der Polizisten geht zu Boden, blutet aus der Nase. Seine Kollegen fluchen, lassen von ihm ab. Er war mit ein paar Schrammen davongekommen, nicht wie andere, die ins Gebäude gezerrt, verprügelt und später wegen Landfriedensbruch verurteilt wurden. Jener Tag hatte sein Leben verändert.
Der Schirm sprang auf, er trat in den Regen hinaus. Die Hülle steckte er in die Jackentasche. Im Limmatschiff, das sich flussaufwärts gegen den See pflügte, sassen wenige Touristen unter dem Glasverdeck. Die herausgeputzten Fassaden am Limmatquai und die Türme des Grossmünsters hatten sich nicht verändert. Nur das Tram, das ihm vom Central her entgegenkam, war nicht mehr blau wie einst, sondern mit greller Werbung für eine Bank bemalt.
Neben einer Steinsäule am Limmatquai kauerte eine Frau vor einer Art Altar mit brennenden Kerzen in roten Gläsern, Blumensträussen und handgeschriebenen Zetteln. «Martin, wir lieben dich.» – «In Erinnerung an unsern Freund Martin Kunz.» An die Säule war ein Bild geklebt, aus einer Zeitung geschnitten. Ein älterer Mann mit sichelförmigem Schnurrbart, geröteten Wangensäcken, melancholischem Blick. Das Gesicht eines Alkoholikers.
Robert blieb stehen. Martin, dachte er, unverkennbar, auch nach so vielen Jahren. Die junge Frau sah zu ihm hoch, sie trug einen Filzhut, flach wie ein Suppenteller, einen violetten Schal um den Hals geschlungen. An einem Lederband baumelte ein Friedenszeichen aus Messing, Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht.
«Haben Sie Martin gekannt?» Ihr Gesicht war nass, von der kühlen Luft gerötet. Sie senkte ihren Blick, beschäftigte sich wieder mit den Kerzen und den Blumen.
«Er war mal mein Anwalt.» Robert griff sich an den Hals, als ob er den Klumpen lösen könnte, der ihm das Atmen schwer machte. «Er ist also tot.»
Sie nickte, zog ihre Unterlippe ein, ihre Mundwinkel zuckten. «Ein so engagierter, feiner Mensch.»
Sie stand auf, lehnte sich ans Gitter, deutete auf einen Brückenpfeiler. «Da hat man ihn aus dem Wasser gezogen. Es war kein Unfall, wie die Polizei behauptet, bestimmt nicht.»
Martin Kunz. Die Erinnerung war da und zugleich der Schmerz. Der Stich hinter dem Auge. Robert hielt sich am Geländer fest.
«Ist Ihnen nicht gut?»
«Geht gleich vorüber. Was ist mit Martin?»
«Sie haben ihn umgebracht.»
«Sie?»
«Die Baumafia. Spekulanten.» Ihre Hände umklammerten das Geländer so fest, dass ihre Knöchel weiss wurden. «Er hat ihre korrupten Geschäfte vermasselt.» Gemeinderat der Grünen sei er gewesen, Präsident der Baukommission.
«War er nicht früher bei den Sozis?»
«Schon möglich.»
«Er war ein guter Anwalt.»
Sie lehnten nebeneinander am Geländer, schauten in den Fluss. Spiegelnde Lichter tanzten auf den Wellen. Robert hielt den Schirm so, dass er die junge Frau halb bedeckte. Ariane hiess sie. Sie war klein, er musste etwas in die Knie gehen. Ihre Finger spielten mit dem Friedenszeichen. Die Sätze des Songs gingen ihm wieder durch den Kopf. Einmal waren sie wichtig gewesen, in Zürich, in dem Leben hier. Er sagte sie halblaut vor sich hin. Eine zweite Strophe fiel ihm ein.