Finale

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14

Eine Kette von Lichtern kroch wie ein Glühwurm den steilen, von Felsstufen durchsetzten Hang hinab. Immer wieder rollten Steine in die Tiefe, gefolgt von Warnrufen und Geschrei. Felix hangelte sich an einem Seil hinab, das an einen Baum geknüpft war. Es war alt und ausgewaschen, einige Knoten gaben Halt. Der Weg war durch die Erosion zum Bachbett geworden, gefüllt mit losem Geröll. Er beeilte sich, damit er die Transportschale nicht aus den Augen verlor. Andrea war bei Bewusstsein und stöhnte leise, wenn einer der Träger ausrutschte und die Bahre umzukippen drohte. Kletterer aus verschiedenen Ländern lösten sich beim Tragen ab. Einer stolperte nebenher, hielt den Infusionsbeutel in die Höhe. Durch das Sprachengewirr schallten die Kommandos des Offiziers. «Capo», nannten ihn die Italiener.

«Avanti! En avant! Vorwärts!», krähte er. «Wenn wir unten sind, habe ich auch noch Deutsch gelernt.»

«Vorwärts ist ja schon unsere halbe Sprache», gab ein Deutscher zurück. Einige lachten.

Am Fuss der Schuttrinne erkannte Felix im Lichtkegel eines Scheinwerfers Tom und Sabine. Sie sassen auf einem Absatz, Tom stützte den Kopf in die Hände, wirkte erschöpft. Sabine massierte seinen Rücken. Sie sind ein Paar, dachte Felix. Volker hatte Hina ins Hotel begleitet. Während der Woche hatte er sich ständig mit Sabine gestritten. Er war wohl eifersüchtig, weil sie stärker kletterte, mit Tom wetteiferte und schäkerte. Tom, der eitle Kerl, war bei Andrea abgeblitzt, hatte auch bei Hina gescharrt. Doch sie liess sich nicht einmal sichern von ihm. Spiele junger Leute, oder war es mehr? Felix fiel ein, dass Tom die Unglücksroute vor ihm geklettert war. Vielleicht hatte er etwas manipuliert an der Umlenkung, schob nun die Schuld auf ihn. Ein absurder Verdacht, den er gleich von sich wies. Es war ein Unfall. Aus Erfahrung wusste er, dass Bergführer oft in banalen Situationen verunglückten. Sie stürzten unangeseilt in Gletscherspalten, rutschten auf Hüttenwegen aus, endeten unter Schneebrettern. Andrea war ihm den ganzen Tag schon unkonzentriert, in Gedanken abwesend erschienen. Etwas bedrückte sie.

Die Transportschale stockte, Träger wechselten sich ab. Felix trat heran: «Wie geht’s?»

«Okay», presste Andrea hervor.

«Schmerzen?»

«Es geht.»

«Wir sind bald unten.»

Sie schloss die Augen, ihre Gesichtszüge verkrampften sich.

Frische Träger packten an. Im gleichen Augenblick stockte der Generator, das Scheinwerferlicht ging aus. Rufe flogen durch die Dunkelheit hin und her, Steine krachten herab. Jemand schrie auf und fluchte, offenbar getroffen. Der Brennstoff war ausgegangen. Der Capo brüllte ins Telefonino, orderte Benzin.

«Keiner bewegt sich!», befahl er. Ohne Licht sei der Transport zu gefährlich, Steinschlag, Absturzgefahr. Die wenigen Stirnlampen, die noch funktionierten, genügten nicht. Also warten.

Sie befanden sich in der Nähe eines Bachs auf Felsplatten, die mit Moos bewachsen und glitschig waren. Zigaretten glommen auf. Eine Frau ging herum, verteilte Kaugummi. Felix zog sich einen, bedankte sich, rollte das Papier zwischen den Fingern und schnippte es weg.

«Unten gibt’s Freibier und Pizza», rief jemand. Gelächter kam auf, man erzählte Witze und Anekdoten, eine aufgeräumte Stimmung machte sich breit. Die Nationen Europas hatten sich zur Rettung vereint wie einst am Eiger, als man am Stahlseil den Italiener Claudio Corti aus der Nordwand holte, seinen Begleiter Stefano Longhi jedoch hängen und sterben lassen musste. Die Eigerwand war das Ziel gewesen, damals. Aber der Freund hatte sich am Vorabend unwohl gefühlt, und so waren sie zur Nordostwand ausgewichen. Sie hätten die Nordwand geschafft, davon war Felix überzeugt, sein Freund hätte überlebt, und auch sein Leben wäre anders verlaufen. Expeditionen, Achttausender, Anden. Er spuckte den Kaugummi aus.

Die Träger hatten die Transportschale abgesetzt, schief lag sie auf den Felsplatten in der Dunkelheit. Felix sass auf einem Baumstrunk, rieb sich Hände und Arme. Er hatte geschwitzt, nun fror er. Seine Kleider waren feucht, die Vliesjacke hatte er als Polster für die Verletzte weggegeben. Endlich setzte das Knattern des Aggregats ein, der Schweinwerfer ging wieder an.

«Forza, ragazzi! Vorwärts!» Die Männer hoben die Bahre hoch, langsam glitt sie auf die ausgewaschenen Felsen am Talgrund zu, über die ein Rinnsal floss. Auf der andern Seite des Bachs empfing sie eine Schar Neugieriger, die schwatzten und glotzten. Der Kommandant schritt voraus, scheuchte sie mit rudernden Armbewegungen zur Seite. Pfleger in weissen Kitteln kamen ihnen entgegen, Zigaretten zwischen den Lippen. Sie folgten der Bahre, die in einem langen Zug von Menschen daherschwebte wie eine Trophäe nach einer erfolgreichen Jagd. Blitzlicht zuckte auf, Journalisten mischten sich unter die Retter. Bei einer Steinbrücke erreichte die Kolonne die Fahrstrasse. Mehrere Feuerwehrfahrzeuge, zwei Ambulanzen, Polizeiwagen und Privatautos parkten in einer langen Kolonne. Polizisten in Uniform regelten mit Leuchtstäben den Verkehr. Die Zuschauer klatschten, als die Rettungsmannschaft eintraf. Presseleute drängten sich um den Offizier, der sich in der Rolle des Helden und Retters in Pose warf, nach allen Seiten Auskunft gab, Hände schüttelte.

Ein Arzt in grünem Kittel und feinen Schuhen dirigierte die Träger mit der Transportschale zu einer Ambulanz. Wieder blitzten Kameras. Pfleger hoben die Bahre aus der Schale auf einen Rollwagen, schoben ihn ins Fahrzeug. Sirenen gingen an, Blaulicht begann zu kreisen, die Ambulanzen fuhren los.

Felix lehnte an die Brüstung der Steinbrücke, ein Schwächegefühl hatte ihn ergriffen, die Erleichterung nach der stundenlangen Anspannung. Nun spürte er Hunger und einen bohrenden Schmerz im Kopf, weil er schon lange nichts mehr getrunken hatte.

Ein junger Mann in Jeans und Faserpelzjacke trat auf ihn zu. «Sie waren beim Unfall dabei?» Er zeigte einen Ausweis. «Polizia di Stato. Ispettore Milani. Sie sprechen Italienisch?»

«Certo, Ispettore.»

Es gebe ein Protokoll, wie immer nach Rettungen. «Versicherungen und so weiter, Sie verstehen.» Milani fuhr sich mit der Hand über den blanken Schädel, zog aus der Gesässtasche einen kleinen Block, notierte Name, Adresse, Hotel, Handynummer. Felix zeigte seine Identitätskarte. Schilderte kurz den Hergang des Unfalls aus seiner Sicht.

«Die Frau hat die Umlenkung erreicht und ist dann gestürzt. Warum?»

«Das kann ich mir nicht erklären.»

«Sie haben doch gesichert.»

«Ich habe keinen Zug verspürt. Das Seil blieb einfach hängen.»

«Haben Sie etwas fasch gemacht beim Sichern? Das kommt hin und wieder vor.»

«Bestimmt nicht.»

«Ihre Kollegen glauben das aber.»

Er hatte Tom und Sabine befragt. Sie seien überzeugt, Felix habe einen Fehler gemacht beim Sichern.

«Sie kletterten auf einer andern Route, können nichts gesehen haben.»

«Gab es Augenzeugen ausser Ihnen?»

«Eine Teilnehmerin war in der Nähe. Ob sie etwas gesehen hat, weiss ich nicht. Sie ist ins Hotel zurückgekehrt.»

Milani machte eine Notiz. Dann sah er Felix an: «Sie seien ein wenig erfahrener Kletterer, sagen Ihre Kollegen. Stimmt das?»

Felix zog mit dem Schuh eine Linie in den sandigen Grund. «Als junger Mensch war ich ab und zu in den Bergen. Ist aber schon lange her.»

Der Inspektor reichte ihm eine Visitenkarte. «Melden Sie sich bitte morgen Vormittag auf der Questura in Savona, Via dei Partigiani. Fürs Protokoll, eine Formalität.»

«Werde ich.»

«Bringen Sie die Frau mit, die noch dabei war. Wie hiess sie?»

«Hina. Mehr weiss ich nicht.»

Der Inspektor stutzte, als er den ungewöhnlichen Namen hörte. Dann fragte er, ob er Felix ins Hotel bringen könne.

«Danke, ich gehe zu Fuss.»

Milani bestieg einen blau-weissen Alfa, ein Polizist in Uniform sass am Steuer. Es war das letzte Auto, das wegfuhr. Felix blieb allein auf der Brücke zurück. Auch Tom und Sabine waren verschwunden. Nacht und Stille lagen über dem schwarzen Tal, die Felsbänder in den steilen Abhängen schimmerten bleich. Bei einer Gruppe von Häusern an der Strasse sah er das Schild Pizzeria Cornei, doch war nirgends mehr Licht. Die Deichseln eines alten Bauernkarrens, der im Garten stand, ragten in die Luft wie Kanonenrohre. Felix merkte, dass er noch immer den Klettergürtel trug, Expressschlingen daran und das offene Magnesiasäcklein. Er zog den Gürtel aus, stopfte ihn in den Rucksack.

Während er auf der Strasse gegen das Meer schritt, redete er zu seiner Frau. «Warum musste ich alter Esel wieder mit Klettern beginnen? Verzeihst du mir, Anna?» Sie schwieg, wie immer. Ihre Antwort kannte er, es wäre dieselbe gewesen wie damals. Ich oder der Berg. Entscheide dich, Felice.

Er hatte sich für Anna entschieden. Für die grosse Liebe und ein langweiliges Leben als Gymnasiallehrer. Warum ihn die Lust gepackt hatte, die jahrzehntelang verdrängte Passion wieder aufzunehmen, konnte er sich nicht wirklich erklären. Er war vor einem Schaufenster gestanden, hatte Seile gesehen, Expressschlingen und moderne Kletterschuhe mit schwarzer Sohle ohne Profil. Er hatte den Laden betreten, sich nach Kletterkursen erkundigt, Schuhe, Gürtel und ein paar andere Dinge gekauft. Er hatte die Website von rock’n’ice studiert und sich für die Kletterwoche angemeldet.

Ein Auto kam ihm entgegen, blendete ab, fuhr vorbei. Wasser spritzte aus einem Schlagloch an seine Hosenbeine. Die ersten Häuser tauchten auf, eine Brücke führte über das Flussbett, an dessen Grund lange Schilfrohre wuchsen. Die Luft roch nach Abwasser und Schlamm.

15

Sie versuchte sich zu erinnern. Was war geschehen? Wie war sie in dieses Gefährt gekommen, das sie durchschüttelte, als bebe die Erde? Sie lag hingestreckt, angeschnallt, gefesselt. Wenn der Wagen über Schlaglöcher sprang, fuhren Stiche durch ihren Körper, vom Bein durchs Gesäss und durch den Rücken ins Gehirn. In einer Metallschale hüpften Scheren und Pinzetten auf und ab, ihr Klirren schmerzte in den Ohren. Jemand hatte ihr eine Klammer an einen Finger geklemmt, ein hektisches Zirpen zeigte ihren Herztakt. Manchmal stockte er. Dann hielt sie den Atem an und dachte: Jetzt ist es so weit. Eine Nadel steckte in ihrem Arm, mit Heftpflaster festgeklebt, über ihr pendelte an einem Haken ein Behälter voll klarer Flüssigkeit. Eine Halskrause hinderte sie daran, den Kopf zu drehen. Aufs Rad geflochten bin ich. Ihr war speiübel, sie fürchtete, gleich kotzen zu müssen. Panik packte sie. Auf dem Rücken liegend werde ich am Erbrochenen ersticken. «Vomit, vomit …», würgte sie hervor. Ein ersticktes Gurgeln drang aus ihrem Mund.

 

Ein rundes Gesicht beugte sich über sie, schwarze Augen. «Vomit, no problem. We help you.»

Ein Schwarzer in weissem Overall. Er kauerte neben sie, fasste ihre Hand. Die Schlaglöcher wurden seltener, die Fahrt schneller und sanfter. Wenn sie die Augen verdrehte, sah sie blaue Blitze über bleiche Hausfassaden zucken. Sirenen wimmerten.

«Stellen Sie diesen Lärm ab!»

«Cosa?» Der Schwarze hielt seine Hände als Trichter hinter seine Ohrmuscheln.

«Wo bin ich? Where are we? Dove siamo?»

«Ambulanza. Santa Corona. Tutto bene, tutto bene.» Das breite Lächeln hatte etwas Beruhigendes. Sein Händedruck war fest. Lange, knochige Finger.

Sie versuchte sich zu erinnern. Finale, eine Kletterwoche. Wenige Anmeldungen, doch sie hatte sich gefreut. Daniel wollte mitkommen. Dann hatten sie sich gestritten. Er müsse sich vorbereiten auf eine Sitzung wegen seiner Berufung … Ein Vorwand, sie hatte es in seinem Gesicht gelesen. Da war etwas anderes … Er hatte zu einer Erklärung angesetzt, doch sie war aufgestanden. Deine Karriere ist alles, und ich bin dir gleichgültig. Er hatte Patagonien entgegnet, ihre verrückten Touren, die Kumpels, mit denen sie wochenlang in den Wänden hing. Eifersucht. Er war doch auch ein Freak gewesen, nur Fels im Kopf, und nun? Chefarzt will er werden. Die Tür hinter ihr war ins Schloss geknallt, unabsichtlich. Es hatte ihr leid getan, sie hatte im Treppenhaus gewartet, Flattern im Bauch, doch er war ihr nicht gefolgt. Schluss.

Die Ambulanz hielt an, Türen gingen, Gerät klirrte, ihre Bahre kippte nach hinten. Das gleiche Gefühl, wie vor dem Sturz … Der Himmel, dann der Blick ins Tal und der Moment, als sie glaubte, ihre Seele verlasse ihren Leib. Aber was war zuvor? Sie erinnerte sich, dass der Alte sicherte, der Mann, den sie Opa nannten. Wie war sein Name? … Eigenartig. Ein Pensionierter, der klettern will. Anfänger, sagte er. Ein neues Leben beginnen wahrscheinlich. Fit im Alter, mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an. Und so weiter. Er hatte wenig von sich erzählt. Mit der Jungen, die immer fror, hatte er japanische Zahlenrätsel gelöst. Wie hiessen die? Ein seltsamer Namen, der ihr nicht mehr einfallen wollte. Schwarze Ponyfransen, Stupsnase und immer diese Stulpen an den Handgelenken. Kifferin. Magersüchtig. Verwöhnte Göre.

Andrea riss die Augen auf. Über ihr zogen Neonröhren dahin, eine perforierte Decke, Drähte hingen aus einem Loch herab. Rollen summten über glatten Boden. Der Geruch von Desinfektionsmittel, Spital. Grün vermummte Gestalten beugten sich über sie, betasteten sie am ganzen Körper, murmelten hinter Masken. Eine Lampe blendete. Eiskalt fuhr ein Gerät über ihren Bauch, farbige Flecken schwammen über einen Bildschirm. Was stellen die mit mir an? Schläfrig wurde sie. Man hatte ihr ein Mittel in die Infusion gemischt, Morphium vielleicht. Klirren hörte sie, Skalpelle, Pinzetten, Scheren. Die sägen mir mein Bein ab. Sie begann zu schreien: «Stopp, nein! Daniel! Mein Mann! Mio marito …»

«Si calmi, signorina.» Eine Stimme, ruhig und sicher.

Das Vollmondgesicht des Schwarzen schob sich vor das grelle Licht. «Everything okay, Missis.» Wie die Sonnenfinsternis damals auf dem Weisshorngipfel. Die plötzliche graue Kälte, der Weltuntergang.

Man hob sie an, sie schwebte, man legte sie auf einen Tisch, Operationstisch oder Schlachtbank. Sie schrie, sie schlug um sich, bis die grün Maskierten sich auf sie stürzten, sie packten, festhielten, an Händen, Armen, Schultern, Kopf, Beinen. Der Schmerz jagte so brutal durch ihren Körper, dass ihr Bewusstsein schwand. Nach einem Augenblick oder nach Stunden kam sie wieder zu sich, sah eine Hand direkt vor ihrem Gesicht, mit einem Gerät, das einer Pistole glich. Eine Bohrmaschine, wie man sie in den Felswänden benutzte, um Haken zu setzen. Was wollten die damit. Sie war doch nicht am Klettern, keine Erstbegehung, sie lag auf einem Schragen, festgehalten, festgebunden, gefesselt, hilflos. Hände packten ihr Bein, hoben es an, zerrten und rissen, und der Bohrer drang durch ihre Ferse. Sie wusste nicht, ob sie heulte und fluchte, ob sie träumte, ob sie noch lebte oder schon tot war, ertrunken im schwarzen Schmerzenmeer. Dann lag sie im Dunkeln, wie in Watte gebettet, in heissglühende Stahlwatte. Es roch nach verbranntem Fleisch und Knochenmehl. Über ihrem Gesicht summte eine Mücke.

16

Daniel fuhr dem Meer entlang nach Westen, bis die Stimme aus dem GPS auf einem Kreisel «Rechts abbiegen» befahl. Die Leuchtschrift auf dem Portalbogen vor dem Spital war defekt: ANTA CORONA SPEDALE. Eine Barriere sperrte die Zufahrt. Daniel zog ein Ticket, die Schranke ging hoch. Er stellte den Wagen unter Palmen neben einem Informationsstand ab. Mitternacht. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos. Die spärliche Beleuchtung spiegelte sich in Pfützen. Ein Lichtschimmer fiel auf einen Lageplan neben dem Kassenautomaten. Lesen konnte er nichts, aber er sah, dass das Spital eine grosse Zahl von Gebäuden umfasste. Neben einem zweistöckigen Ambulatorium führte eine Rampe zur Notaufnahme, Pronto Soccorso. Das Gebäude mit dem breiten Tor glich einer Autowaschanlage. Gedämpftes Licht drang aus einem Glasverschlag, in dem ein Mann vor einem Fernseher sass. Über den Bildschirm hüpften leicht bekleidete Girls im Kreis, schwangen ihre Hinterteile, ihre kräftigen Busen wippten im Takt. Ein Privatsender des Ministerpräsidenten, vermutete Daniel.

Er klopfte an die Scheibe. Der Pförtner schreckte auf, erhob sich umständlich und öffnete den Schalter einen Spalt. «Che c’è?»

«English?»

Der Mann schüttelte den Kopf: «Poco, poco.» Sein Uniformkittel war aufgeknöpft, auf dem Tisch lag ein angebissenes Sandwich in einem fleckigen Papier neben einer Büchse Bier.

Daniel versuchte, sich in einer Mischung von Englisch, Deutsch und italienischen Brocken verständlich zu machen. Ob die verunfallte Frau eingeliefert sei?

«Sì, signore.»

Wie sie heisse. «Il nome?»

Der Mann tippte mit nikotingelben Fingernägeln auf den Bildschirm über seinem Pult: «Verrà operata domani. Tomorrow operazione.»

«No operation here!», rief Daniel aus. Versuchte, dem Mann klarzumachen, dass er mit dem verantwortlichen Arzt sprechen möchte, dass er die Patientin sehen müsse, sogleich, er sei ihr Partner und selber Arzt, doch der Pförtner legte sein Gesicht in Falten. «Mi dispiace, mi dispiace …»

Endlich griff er zum Telefon, wenig später schlurfte eine Pflegerin herbei, mit verschlafenem Gesicht. Die blonden Haare hingen ihr offen über die Schultern. Immerhin verstand sie Englisch. Dottoressa Khalifa habe sich hingelegt nach dem hektischen Tag, vierzehn Stunden ohne Pause, dann dieser Unfall. Sie dürfe nur bei Notfällen geweckt werden. Die Patientin sei gut versorgt und schlafe. Er könne sie morgen früh besuchen.

«Ich muss meine Frau jetzt sehen.» In seiner Erregung hatte Daniel Andrea als seine Frau bezeichnet. Zum ersten Mal.

Die Pflegerin tuschelte mit dem Pförtner, sie wollte ihn begleiten, glaubte Daniel zu verstehen. Der Mann griff nach einem Papier in einer Sichtmappe, tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle.

«Er darf niemanden einlassen. Vorschrift, wegen Terroristen oder andern Verbrechern. Wenn Sie Arzt sind, werden Sie verstehen. Kommen Sie morgen früh.»

Die Pflegerin zog ihren Piepser aus der Brusttasche, als habe er Signal gegeben. «Mi dispiace, signore. A domani.» Sie ging weg.

Vom Wagen aus rief Daniel seine Klinik an, bekam seine Stellvertreterin an den Apparat. Er erklärte Silke, was geschehen war, und bat sie, mit der Rettungsflugwacht Kontakt aufzunehmen, damit sie für den kommenden Nachmittag einen Jet bereitstellte. Die Bettenstation solle ein Privatzimmer vorbereiten.

«Du brauchst eine Bestätigung der lokalen Klinik, dass die Patientin transportfähig ist.»

«Klar, werde ich organisieren.»

Daniel schlüpfte in seinen Berufskittel, den er beim Aufbruch auf den Rücksitz geworfen hatte. Dosimeter und Piepser steckten in der Brusttasche, der Badge baumelte daran. Er ging zurück über den Parkplatz, an der Rampe vorbei und sah, dass von der Notaufnahme eine Passerelle zu einem mehrstöckigen Altbau führte. Der Pförtner hatte sich wieder dem Fernsehschirm mit den hopsenden Girls zugewandt, sein Kopf war gesenkt, er war eingenickt. Daniel trat leise ein, ging an der Pförtnerloge vorbei. Der Mann bewegte sich nicht.

Im Treppenhaus jenseits der Passerelle fand er eine Orientierungstafel. Traumatologia las er, dritter Stock. Er stieg eine Treppe höher, ein schwach beleuchteter Korridor wirkte wie eine Baustelle. Deckenelemente fehlten, Kabel hingen lose herab. Eine Pflegerin kam ihm mit einer Bettschüssel in der Hand entgegen. Er beschleunigte seinen Schritt, rauschte mit wehendem Kittel an ihr vorbei, nickte ihr zu. Sie schenkte ihm ein Lächeln. Er öffnete Türen, sah sich um in Mehrbettzimmern, in denen Männer oder Frauen schliefen, schnarchten, stöhnten. «Dottore …», rief jemand.

Rasch zog er die Tür wieder zu.

Zuhinterst im Korridor stand ein Kaffeeautomat. Er warf Münzen ein, drückte sich einen Espresso. Lehnte sich an die Mauer und trank. Schritte näherten sich. Es war die blonde Pflegerin. Die Haare gekämmt und geschminkt, glich sie den jungen Frauen aus der Fernsehshow des Premierministers. Sie blieb stehen. «Dottore … ?»

Dann erkannte sie ihn, wich einen Schritt zurück: «You?»

Daniel tippte mit dem Zeigefinger auf seine Unterlippe. «Where is my wife?»

Sie starrte ihn an, brachte endlich ein Wort hervor. «Quarantasei.» Sie drehte sich um und eilte davon. Ob sie den Pförtner weckte oder diese Dottoressa Khalifa oder Terroralarm schlug, Daniel war es egal. Er riss die Tür zur Nummer 46 auf, die Ausdünstung schlafender Patientinnen schlug ihm entgegen. Im Licht der Nachtlampe erkannte er sechs Betten, der Wand entlang aufgereiht, einige umstellt mit den üblichen Geräten und Monitoren. Kontrolllichter leuchteten, Bildschirme zeichneten flackernde Linienmuster. Im Bett beim Fenster ragten weisse Laken in die Höhe. Sie bedeckten ein Bein, an dem an einem Seilzug Gewichte hingen. Die Patientin war bis zum Hals zugedeckt, das Gesicht bleich, halb zur Seite gedreht, so dass er den winzigen Diamanten in ihrem Nasenflügel erkennen konnte. Es war Andrea. Daniel wollte ihre Hand ergreifen, sie war mit einer Schiene fixiert und verbunden.

«Mein Gott, Andrea», rief er aus.

«Silenzio!», kreischte eine Frauenstimme aus einem Bett bei der Tür. Ein wütender Wortschwall folgte. Daniel kümmerte sich nicht darum.

«Andrea. Was ist geschehen?»

Spärliches Licht fiel durchs Fenster auf ihr Gesicht, es schien entspannt, der Kopf unversehrt. Die Augen hielt sie geschlossen. Leise sprach er auf sie ein.

«Daniel, du?», murmelte sie. Er glaubte, ein Lächeln spiele um ihren Mund. Sie war mit Schmerzmitteln vollgepumpt, schien aber gut versorgt. Daniel schlug die Decke zurück, betrachtete ihr Bein, das von Hämatomen und Schürfungen bedeckt war. Gewiss mehrfach gebrochen, doch nirgends stiess Knochen durch die Haut. Das beruhigte ihn. Der Seilzug war an einem Dorn befestigt, den die Notfallärzte durch ihre Ferse getrieben hatten. Er trat auf die andere Seite des Bettes, nahm ihre unversehrte Rechte in beide Hände. «Andrea. Was ist geschehen?»

«Ich bin gestürzt.»

«Warum?»

«Keine Ahnung. Es ist schön, dass du da bist.»

«Ich lass dich nicht im Stich, Andrea. Nie mehr.»

Ihre Mundwinkel zuckten, ob sie sich freute oder weinte, konnte er nicht erkennen. Sie wirkte zerbrechlich, so hilflos, wie sie dalag, aber sie war eine starke Frau, das wusste Daniel. Sie würde alles durchstehen, mit ihrem Willen und ihrer Verbissenheit, sie würde weiterhin auf Berge steigen.

 

Die Tür ging. Ein Lichtstreifen fiel ins Zimmer, die blonde Pflegerin trat neben Daniel. «Sie müssen gehen», zischte sie. Die Frau im Bett bei der Tür begann wieder zu keifen. Die Pflegerin beruhigte sie flüsternd. Auch andere Patientinnen wurden unruhig, begannen zu murren. Angehörige, die neben ihnen auf Stühlen Nachtwache hielten, erhoben sich, unterhielten sich halblaut.

Daniel küsste Andrea auf die Stirn. «Ich bring dich nach Hause. Alles wird gut.»

Im Korridor erwartete ihn die Pflegerin. «Nehmen Sie den Lift ins Untergeschoss, dann den Hinterausgang.»

«Thank you», sagte Daniel.

Bei der Kassenstation bezahlte er das Ticket, fuhr nach Finale zurück. In der Nähe des Strandes hielt er an. Mit geöffneter Tür lauschte er der Brandung, den Wind vom Meer her im Gesicht. Zwischen fliegenden Wolken zeigte sich ein Stern. Nach einer Weile begann er zu frieren und fühlte, wie verschwitzt und durchnässt er war. Er zog die Tür zu, stellte den Sitz tief und versuchte einzuschlafen.

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