Bansiner Fischertod

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Bansiner Fischertod
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Elke Pupke

BANSINER FISCHERTOD


Inhalt

August 1988

Montag, 7.Oktober

Mittwoch, 9. Oktober

Sonnabend, 12. Oktober

Montag, 14. Oktober

Freitag, 18. Oktober

Sonntag, 20. Oktober

Dienstag, 22. Oktober

Mittwoch, 23. Oktober

Freitag, 25. Oktober

Montag, 28. Oktober

Donnerstag, 31. Oktober

Freitagvormittag, 1. November

Juni 1988

Freitagabend, 1. November

Montag, 4. November

Samstag, 9. November

Sonntag, 10. November

Dienstagnachmittag, 12. November

Sommer 1988

Dienstagabend, 12. November

Montag, 18. November

Freitag, 22. November

Samstag, 23. November

Montag, 25. November

Donnerstag, 28. November

Montag, 2. Dezember

Sonntag, 8. Dezember

Mittwochmittag, 11. Dezember

Sommer 1988

Mittwochnachmittag, 11. Dezember

Sonntag, 15. Dezember

Dienstag, 17. Dezember

Mittwoch, 18. Dezember

Donnerstag, 19. Dezember

Freitag, 20. Dezember

Dienstag, 24. Dezember

Freitag, 27. Dezember

Sonnabend, 28. Dezember

Dienstag, 31. Dezember

Mittwoch, 1. Januar

Donnerstag, 2. Januar

Sonnabend, 4. Januar

Montag, 6. Januar

Dienstag, 7. Januar

Mittwoch, 8. Januar

Donnerstag, 9. Januar

Freitag, 10. Januar

Montag, 13. Januar

Dienstag, 14. Januar

Über die Autorin

August 1988

Frühmorgens am Strand war der Wind kaum zu spüren. Er wehte leicht von Westen her, der Wasserspiegel war schon hoch, aber glatt. Der Rügenradio-Seewetterbericht hatte Windstärke 4 bis 5 angekündigt. Als sie ablegten, ging gerade die Sonne auf. Ihr Ziel lag südlich von Bornholm. Sie wollten Dorsch fangen, fuhren deshalb mit dem großen Boot. Mit dem kleinen durften sie nur drei Seemeilen hinaus auf die Ostsee. Meist fischten die Brüder Ansgar und Boto Thor allein, heute brauchten sie einen dritten Mann. Cuno Thor, Cousin der beiden, war an diesem Morgen mit an Bord, weil er wie sie Fischer und Mitglied der Fischereigenossenschaft war. Irgendjemanden mit aufs Boot zu nehmen, war verboten, musste man sich doch mit Namen und Kennnummer, Ziel, Beginn und voraussichtlichem Ende der Fahrt bei der Grenzbrigade Küste abmelden.

Acht Stunden fuhren sie in nördliche Richtung. Boto stand im Ruderhaus und steuerte das Boot. Cuno hatte es sich auf den Netzen bequem gemacht. Er war müde, hätte gern noch ein bisschen geschlafen, bevor sie mit der schweren Arbeit beginnen würden, aber Ansgar knurrte ihn an, er solle Anker und Steurer fertig machen. Wenn sie im Fanggebiet ankämen, müsse es schnell gehen.

Gereizt steckte Cuno sich eine Zigarette an. Es war inzwischen windig geworden, das Feuerzeug ging mehrmals aus, bis sie endlich brannte. Er nahm einen tiefen Zug und fuhr zusammen, als sein Cousin ihm die Zigarette aus dem Mund schlug. »Du bist hier nicht auf Vergnügungsfahrt!«, brüllte er. »Mach deine Arbeit!«

In Cuno stieg Wut heiß auf, er wäre am liebsten auf Ansgar losgegangen, aber der war größer und stärker und er war der Kapitän auf diesem Kutter. »Das war das letzte Mal, mein Freund, dass ich mich von dir schikanieren lasse«, schwor er murmelnd, als er sich wegdrehte.

Kurz vor Bornholm drehte der Wind auf Nordost und frischte auf. Sie beeilten sich, die Netze auszulegen. Die Wellen wurden höher, schneller, kräftiger. Das Boot schwankte heftig. Cuno saß auf der Hock, einem schmalen Steg hinter dem Ruderhaus. Mit der rechten Hand ließ er das schwere Netz über die Bordwand gleiten, mit der linken musste er sich festhalten. Plötzlich gab es einen Ruck, er konnte seinen Arm gerade noch vom Netz befreien, sonst hätte es ihn über Bord gezogen. Es hatte sich in der Schiffsschraube verfangen. Der Motor verstummte. Die Wellen waren meterhoch, niemand konnte hier ins Wasser gehen.

Ansgar band ein Messer an einen der Bootshaken, den er Cuno reichte. Der versuchte damit, das Netz aus der Schraube zu schneiden. Es dauerte. Trotz der schwarzen Stiefelhosen und der schweren Gummijacken, die die Männer trugen, waren sie durchnässt. Die Wellen schlugen über Bord, das Wasser kam von allen Seiten. Cuno wollte eine Pause machen, er war völlig erschöpft. Aber Ansgar spornte ihn an, weiterzumachen. Er hielt Cuno fest, während der sich weit hinausbeugte.

Dann, endlich, war es geschafft. Sie zogen das kaputte Netz ins Boot.

Boto ging ins Ruderhaus, um den Motor anzulassen. ›Nur weg hier, in den Windschatten von Bornholm‹, dachte er. Nach Hause würden sie es jetzt nicht schaffen, denn der Sturm wurde noch stärker. Er hörte nur das schwere Rauschen der Brandung, nicht den Schrei. Dann sah er entsetzt, dass einer der Männer wie in Zeitlupe über Bord ging und zwischen den Schaumkämmen der hohen Wellen verschwand. Er wusste, dass sich die brusthohe Hose des Fischers in Sekundenschnelle mit Wasser füllen und das Gewicht ihn unbarmherzig in die Tiefe ziehen würde. Es gab keine Rettung.

Montag, 7.Oktober

Sophie streicht zum dritten Mal die Tischdecke glatt, rückt die kleine Vase mit den bunten Astern zehn Zentimeter nach links, sodass sie genau in der Mitte des Tisches steht, und blickt aus den Augenwinkeln hinüber zum Fenstertisch.

Dort sitzt eine Familie, die aus Vater, Mutter und drei kleinen Kindern besteht und die anscheinend beschlossen hat, ihren Urlaub hier in der Gaststätte zu verbringen. Sie sitzen jetzt seit beinahe zwei Stunden am Frühstückstisch. Genauer gesagt sitzen die Eltern dort, während die Kinder zwischen den Tischen Verstecken und Fangen spielen. Als dabei eine Vase umfällt, wirft der Vater Sophie einen Blick zu – eher stolz, als um Entschuldigung bittend: So »reizenden« Kindern kann man doch einfach nicht böse sein. Die Mutter hat den Vorfall nicht bemerkt, sie starrt auf ihr Smartphone. Ob ihr wohl schon aufgefallen ist, dass sie von ihrem Platz aus direkt auf die Ostsee sehen kann?

 

Nach dem gestrigen Sturm ist der Strand heute ziemlich schmal, die wenigen Strandkörbe, die noch nicht im Winterquartier sind, stehen gefährlich dicht am Wasser. Das ist heute spiegelglatt, auch die Schiffe fahren wieder. Die VINETA legt gerade an, zwei Leute rennen über den Seesteg, um sie zu erreichen. Ob eine Schifffahrt über die Ostsee nach Misdroy oder Swinemünde den Kindern nicht mehr Spaß gebracht hätte, als hier in der Gaststätte zu toben?

Die Pension Kehr wieder steht an der Strandpromenade. In der Gründerzeit des Seebades von den Vorfahren der Wirtin errichtet, ist sie mit ihren großen Fenstern, den Säulen, Balkonen und Türmchen typisch für die Bäderarchitektur, die Bansin prägt. Fast das gesamte Erdgeschoss wird von der Gaststätte, die auch als Frühstücksraum dient, eingenommen. Zur Seeseite hin hat das Haus eine großzügige Fensterfront, die Licht hineinlässt und den Blick aufs Meer freigibt.

Der Eingang an der Bergstraße befindet sich an der Rückseite des Gebäudes. Links neben der Tür hat Sophie die Rezeption einbauen lassen und damit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Sie kann die Pensionsgäste stilvoll empfangen und die hohe Rückwand verbirgt die Tür zur Küche und den Stammtisch. Der große, runde Tisch, der vermutlich zur Erstausstattung des Hauses gehörte, hat die jetzige Wirtin schon immer gestört. Besonders die Fischer in ihrer Arbeitskleidung waren ihrer Meinung nach dem Niveau des Restaurants abträglich. Mit zunehmendem Alkoholkonsum scheuten die sich nicht, Bemerkungen über die Gäste auszutauschen oder diese sogar anzusprechen, was Sophie manchmal in peinliche Situationen gebracht hatte. Den Stammtisch einfach abzuschaffen, verhinderte wiederum Berta, Sophies Tante und Vorgängerin. Jetzt befindet er sich in einer gemütlichen Ecke, zwischen der Rückwand des Empfangsbereiches und der Wand zur Küche. Gegenüber, neben der Küchentür, ist der Ausschank, den Sophie mit einem hohen Tresen und ein paar Hockern als Bar gestaltet hat. An der rechten Seite des Saales gelangt man ins Treppenhaus, das zu den drei Obergeschossen der Pension führt.

Im Raum sind zehn Vierertische verteilt und fünf größere Tische unter den Fenstern. Ein wunderbarer Spielplatz für die drei Kinder, die jetzt dabei sind, die Stühle zu verrücken, um sich eine »Eisenbahn« zu bauen.

Der Wirtin reicht es. Energisch geht sie zum Frühstücksbüfett und beginnt abzuräumen.

Das jüngste Familienmitglied, ein etwa dreijähriges Pummelchen mit nutellaverschmiertem Gesicht und klebrigen Fingern wollte gerade nach einer Wurstscheibe greifen und tritt Sophie ans Schienbein, als diese die Platte wegnimmt.

Mühsam beherrscht nimmt sie auch die Käseplatte aus der Reichweite des Kindes und geht erst einmal in die Küche, um tief durchzuatmen.

Dort erreicht sie der Ruf der Frau: »Könnte ich noch eine Tasse Kaffee bekommen?«

Ganz langsam stellt sie die Platten ab, zählt bis zehn, zwingt ein Lächeln in ihr Gesicht und will zurückgehen. Vor der Pendeltür bleibt sie stehen.

»Wir möchten noch …«, hört sie, dann wird die ungeduldige Stimme der Urlauberin unterbrochen.

»Unsere Frühstückszeit ist vorbei, wir müssen die Gaststätte für den Mittagstisch vorbereiten.« Tante Berta hat ihre vormittägliche Zeitungslektüre beendet und kümmert sich um die Gäste. »Ihr legt sofort die Marmelade zurück! Wirf ruhig, dann kriegst du morgen Haferflockensuppe zum Frühstück oder Schwarzbrot. Brötchen gibt es dann nämlich nicht mehr.«

Das Mädchen blickt kurz zu ihren Eltern, senkt, als von dort keine Unterstützung kommt, den erhobenen Arm und legt zögernd die Backware zurück in den Korb. »Das darfst du nicht«, versucht sie noch, sich zu behaupten.

»Doch, das darf ich«, versichert die alte Frau, packt die beiden kleinen Jungen an den Schultern und schiebt sie energisch in Richtung Familientisch. »So und jetzt raus mit euch an die frische Luft!« Sie lächelt das Ehepaar entwaffnend freundlich an. »Sehen Sie mal aus dem Fenster, es hat aufgehört zu regnen. Es ist doch schade um die schöne Urlaubszeit, die Sie hier drin vertrödeln. Wollt ihr nicht zum Strand gehen und Muscheln sammeln? Vielleicht findet ihr sogar Bernstein.«

Die Kinder zeigen sich wenig begeistert von dem Vorschlag. »Bist du die Oma von der da?«, lenkt das Mädchen vom Thema ab und zeigt mit dem Finger auf Sophie.

»Nein, die ist doch selber eine Oma.«

Der Junge blickt zwischen den Frauen hin und her. Bevor er eine andere Erklärung für die Familienähnlichkeit findet, nimmt sein Vater ihn an die Hand und schiebt mit der anderen, in der er das Smartphone hält, den Rest der Familie in Richtung Ausgang.

Zehn Minuten später lässt sich Sophie am Stammtisch nieder und atmet laut auf.

Ihre Tante hat schon zwei Tassen Kaffee hingestellt. »Du musst deinen Gästen ab und zu mal eine Ansage machen«, rät sie. »Die merken sonst gar nicht, wie unverschämt sie sind.«

»Jetzt warst du aber gerade selbst sprachlos.« Sophie lächelt. »Mir war gar nicht bewusst, dass wir uns so ähnlich sehen. Kinder sind doch manchmal erstaunlich scharfsichtig.«

»Ja, nur schade, dass die Eltern das gar nicht mitkriegen.«

»Das nennen die wahrscheinlich antiautoritäre Erziehung.«

»Ich würde es Vernachlässigung nennen.«

»Was geht es uns an?! Zum Glück reisen die morgen ab.« Sie lehnt sich zurück und seufzt zufrieden.

Berta mustert ihre Nichte wohlwollend. Ihr gefällt es, dass diese ihr nicht nur im Charakter, sondern auch im Aussehen ähnlich ist, was jetzt, wo Sophie Mitte fünfzig ist, trotz kupferrot gefärbter Haare immer deutlicher wird. Sie sind etwa gleich groß, die ältere allerdings deutlich kräftiger gebaut als die zierliche Wirtin. Das energische Kinn, eine kleine Stupsnase und vor allem die strahlend blauen Augen, die durch dunkle Wimpern und einen blassen Teint noch betont werden, haben beide gemeinsam. Für Berta ein deutlicher Beweis dafür, dass ihre Vorfahren, die zum großen Teil Seefahrer waren, von den Wikingern abstammen.

Sophie ist das ziemlich egal, zumal sie in Berlin geboren und aufgewachsen ist, dennoch hat sie sich hier an der Ostsee immer am wohlsten gefühlt. Nachdem sie vor acht Jahren die Pension von ihrer Tante übernommen und anschließend umgebaut hat, ist Bansin ihr Zuhause. Und das ist gut so. »Ich brauche dringend Urlaub«, stellt sie jetzt fest. »Am liebsten würde ich weit wegfahren, irgendwohin, wo es noch warm ist. Am Strand liegen, im Mittelmeer baden, mich im Hotel verwöhnen lassen.«

»Man sollte doch annehmen, du hättest hier genug Hotel. Und Strand auch.«

»Es ist aber schon ein Unterschied, ob man im Hotel arbeitet oder wohnt.«

»Na ja, trotzdem.« Berta schüttelt verständnislos den Kopf. »Wenn du noch sagen würdest, du möchtest mal in die Berge fahren.«

»Das musst du gerade sagen. Warst du schon mal im Gebirge?«

»Ja, Anfang der Achtzigerjahre. In Thüringen – glaub ich. Jedenfalls waren da eine Menge Berge und Burgen und Fachwerkhäuser.«

»Guck an. War’s schön?«

»Nein.« Sie überlegt eine Weile. »Eigentlich war ich froh, als ich wieder nach Hause fahren konnte. Da kriegt man Platzangst, wenn man keinen Kilometer geradeaus gucken kann. Und berghoch und bergrunter zu laufen, ist auch nichts für mich. Ich gehe lieber am Strand lang.«

»Wahrscheinlich hattest du nach einer Woche Heimweh.«

»Genau.« Berta nickt nachdrücklich. »Ich will gar nicht in den Urlaub fahren. Wozu denn auch? Der Urlaub kommt doch zu mir. Siehst du, jetzt ist die Saison vorbei, die meisten Gäste sind weg, man trifft wieder die Einheimischen auf der Straße. Es ist so schön ruhig, ganz anders als im Sommer. Und die Natur ist herrlich. Schöner kann es am Mittelmeer auch nicht sein. Im November kommen die Stürme, vielleicht kriegen wir wieder Sturmhochwasser oder die Ostsee friert zu – das ist mir Abenteuer genug. Und auch genügend Abwechslung. Ich muss nirgendwo hinfahren.«

»Na ja. Ich wollte dich auch gar nicht mitnehmen. Was sollte Bansin ohne dich machen? Stell dir vor, es passiert wieder was und du bist nicht da.«

Ihre Tante will gerade zu einer Antwort ansetzen, als sie hören, wie die Haustür geöffnet wird.

»Ich bin’s nur«, tönt ein zartes Stimmchen, bevor Sophie aufstehen und nachsehen kann. Die Person, die um die Ecke kommt, passt zur Stimme. Sie ist noch kleiner als Sophie, also nicht einmal mittelgroß, sehr schlank und wirkt trotz ihrer 32 Jahre beinahe kindlich mit schulterlangen, blondgefärbten Locken, blassblauen, immer etwas erstaunt blickenden Augen und ein paar Sommersprossen im blassen, schmalen Gesicht.

»Morgen, Evelin!« Sophie sieht auf die Uhr. »Du bist ja heute früh dran.«

»Ja, was soll ich zu Hause rumsitzen, wenn hier so viel zu tun ist. Dafür mache ich im Winter dann mal wieder früher Feierabend. Ich kann ja erst mal in die Zimmer gehen. Ist die Chaotenfamilie nicht heute abgereist?«

»Nein«, seufzt Sophie, »leider erst morgen. Aber die aus der 12 und 13 sind weg.«

»Nun setz dich erst mal hin und trinke einen Kaffee mit uns!«, unterbricht Berta die Arbeitsbesprechung. »Und mach hier keinen Stress!«

»Ich will doch nicht … Hab ich euch gestört?« Erschrocken reißt die junge Frau die Augen auf und setzt sich schnell auf den nächsten Stuhl.

Sophie schüttelt den Kopf. Warum lässt sich Evelin nur immer von Berta einschüchtern, sie müsste doch längst wissen, dass ihre Tante nicht so unfreundlich ist, wie sie tut. Jedenfalls nicht den Menschen gegenüber, die sie mag. Das sind die meisten und die kleine Kellnerin gehört im Moment dazu.

»Quatsch nicht! Hol dir einen Kaffee! Hast du überhaupt schon gefrühstückt? Ist egal«, fährt sie fort, bevor Evelin antworten kann, »in der Küche steht noch alles. Was sollen die Leute von uns denken, wenn du so verhungert aussiehst? Nun geh schon, bevor Renate alles in die Tonne schmeißt.« Beim letzten Satz grinst sie die große, kräftige Frau an, die gerade hereingekommen ist.

»Was schmeiß ich in die Tonne? Guten Morgen erst mal. Habt ihr noch Kaffee?« Renate wartet nicht auf eine Antwort, sie geht in die Küche und kommt kurz darauf im weißen Kittel, den sie im Gehen zuknöpft, zurück.

Sophie hat inzwischen zwei Tassen Kaffee geholt, stellt sie ihren beiden Angestellten hin und holt für Renate eine Zuckerdose.

Berta lehnt sich entspannt zurück. So hat sie es gern. Eine gemütliche Runde am Stammtisch und Renate hat offensichtlich Neuigkeiten zu erzählen, so aufgeregt, wie sie in ihrer Tasse rührt.

»Stellt euch vor, bei Winklers und einer weiteren Familie ist eingebrochen worden«, verkündet die Köchin dann auch. »Und genau wie damals bei den … Dings – du weißt schon.« Sie sieht Berta an. Die nickt.

»Wieder keine Spuren, die wissen gar nicht, wann es passiert ist. Haben es erst bemerkt, als sie Geld aus ihrem Geheimversteck nehmen wollten und nichts mehr da war.«

»Sicher hatten sie ein ganz tolles Versteck«, vermutet Berta sarkastisch. »Im Schlafzimmer zwischen der Bettwäsche oder in einer Dose im Küchenschrank.«

»Ist ja auch egal.« Sophie ist entsetzt. »Die Frage ist doch, wie sind die Einbrecher in die Wohnungen gekommen, ohne dass einer was gemerkt hat?«

Evelin freut sich, dass die alte Frau jetzt abgelenkt ist und nicht mehr daran denkt, dass sie was essen sollte. »Das waren bestimmt Polen«, piepst sie. »Da steht heute auch wieder was in der Zeitung drüber.«

Berta wirft einen kurzen Blick auf die Ostsee-Zeitung, die zusammengefaltet auf dem Tisch liegt, und schüttelt den Kopf. »Ja, da steht, dass sie Fahrräder geklaut haben und Jacken aus den Boutiquen. Aber die brechen nicht in Wohnungen ein, ohne dass es sofort bemerkt wird.« Sie kraust die Stirn und blickt nachdenklich aus dem Fenster, während die anderen drei Frauen weitere Vermutungen austauschen.

Als Erste schiebt Renate ihre Kaffeetasse weg und steht stöhnend auf. »So, ich muss in die Küche. Ben hat heute frei, ich muss Kartoffeln schälen und Gemüse putzen.«

»Evelin kann dir helfen«, bestimmt Sophie. »Die Gaststätte ist so weit fertig, ich mach noch schnell die beiden Zimmer sauber.«

»Und ich gehe zum Strand und guck mal, was Paul und Arno so treiben. Soll ich Fisch mitbringen, wenn sie was haben?«

»Ja, klar.« Renate stellt die Kaffeetassen zusammen und nickt energisch, während sie mit dem Hinterteil die Pendeltür zur Küche aufstößt. »Egal, was er hat. Das Mittagsgeschäft ist noch gut und es sind eine Menge Leute im Ort. Ich kann auch schon was für den Winter einfrieren.«

 

Am Nachmittag glaubt Sophie ein Déjà-vu zu haben. Die Eltern mit den drei Kindern sind wieder die letzten Gäste, wieder beschäftigen sich die Erwachsenen mit ihren Smartphones, während die drei Kleinen durch den Raum toben. Diesmal reicht allerdings Bertas Erscheinen, dass sie Evelin winken, um zu zahlen und dann relativ schnell verschwinden.

Die alte Wirtin hat ihren erzieherischen Erfolg gar nicht bemerkt, sie unterhält sich lebhaft mit Sophies Freundin Anne, die mit ihr zusammen ins Haus gekommen ist. Auch wenn Bertas Nichte in Berlin aufgewachsen ist, hat sie doch alle Ferien bei ihrer Tante in Bansin verbracht und immer zusammen mit Anne.

Als Berta Kelling ihren alten Familienbesitz, die Pension Kehr wieder, 1990 zurückbekommen hatte, wusste sie zunächst wenig damit anzufangen. Sie war eine einfache, wenn auch sehr gute Köchin, hatte keinerlei Erfahrung in der Marktwirtschaft – Woher denn auch? –, scheute sich, einen hohen Kredit aufzunehmen und misstraute den zahlreichen dubiosen Beratern, die plötzlich auftauchten und auf sie einredeten. Die meisten empfahlen, ihnen das Haus zu verkaufen, bevor es ganz zusammenfallen würde; die Touristen würden sowieso nicht mehr an die Ostsee, sondern lieber in den Süden fahren. Aus reinem Trotz aber auch, weil sie sich ihren Vorfahren, besonders ihrer erst kürzlich verstorbenen Mutter, gegenüber verpflichtet fühlte, behielt sie das Haus. Sie vermietete die Zimmer an anspruchslosere Gäste: ehemalige DDR-Bürger oder Arbeiter. Die Gaststätte lief weiterhin gut, besonders die Einheimischen wussten Berta Kellings Küche zu schätzen und die Preise spielten natürlich auch eine Rolle.

Zwölf Jahre später aber hatte sie eine Entscheidung treffen müssen. Sie fühlte sich mit ihren 62 Jahren zwar körperlich und auch geistig fit, war aber mit dem maroden Haus und der Gesamtsituation überfordert. Schweren Herzens entschloss sie sich, nun doch zu verkaufen. Dass Sophie dann das Haus übernahm, erschien im Nachhinein völlig logisch, es war die perfekte Lösung. Aber damals hatte niemand diese Möglichkeit ernsthaft erwogen. Sophie hatte zwar eine passende Ausbildung und sogar Tourismus studiert, aber sie plante eine Karriere in Berlin. Für Berta war es immer ein Traum gewesen, ihre Nichte irgendwann an die Ostsee zu holen. Die Bansiner Pensionswirtin hatte weder Mann noch Kind und liebte Sophie wie eine Tochter, aber gerade deshalb wollte sie ihr das alte Haus mit seinen ganzen baulichen und wirtschaftlichen Problemen nicht zumuten. Als Sophie das Kehr wieder dennoch übernahm, war sie einfach nur glücklich. Nun blieb die Pension, die Bertas Urgroßvater erbaut und in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, doch in Familienbesitz, was ihr wichtiger war, als sie zugab. Und ihr Stammtisch blieb erhalten. –Wie hätte sie ohne den leben können? Sie kann sich überhaupt nicht vorstellen, jeden Abend allein zu sein und vielleicht nur vor dem Fernseher zu sitzen. Hier trifft sie alle Menschen, die ihr wichtig sind und die sie mag. Und auch andere, die sie weniger mag, aber auch von denen erfährt sie, was in Bansin so vor sich geht. Auch wenn Sophie manchmal vorwurfsvoll oder verächtlich von »Klatsch und Tratsch« redet, das ist Berta egal. Sie muss wissen, was im Ort passiert, und glaubt auch nicht, dass es etwas gibt, was sie nichts angeht. Sie ist sehr geschickt darin, die Leute auszufragen. Was sie davon weitererzählt, überlegt sie sich genau. Bisher ist sie mit dieser Taktik gut gefahren, das muss sogar Sophie zugeben, nachdem ihre Tante mehrere Verbrechen aufgeklärt hat.

Sophie war die Entscheidung Anfang der 2000er nicht leichtgefallen. Sie wusste um das Risiko, als sie einen hohen Kredit aufnahm, um die Pension von innen zu modernisieren und völlig umzubauen. Erschwerend war hinzugekommen, dass das denkmalgeschützte Haus an der Außenfassade nicht verändert, sondern nur restauriert werden durfte, was die Sache nicht einfacher aber vor allem noch teurer machte. Aber gleich mehrere Argumente hatten dafür gesprochen, es doch zu wagen. Der Standort des Hauses direkt an der Strandpromenade mit Blick auf die Ostsee hätte nicht besser sein können. Dann Bansin selbst, das mit seiner schönen Bäderarchitektur noch immer die Eleganz der Gründerzeit des Seebades erahnen ließ und mittlerweile wieder zu einem beliebten Kurort geworden war. Dazu der breite weiße Strand, die angrenzende Steilküste, der Buchenwald, der den Ort umgibt – nicht nur Berta, auch Sophie konnte sich vorstellen, hier den Rest ihres Lebens zu verbringen.

Und natürlich verbringt sie gern Zeit mit ihrer Tante. Schon als Kind hat sie sich, wenn sie Probleme hatte, an sie gewandt, Berta wusste immer Rat und hat nie versucht, sie zu erziehen, hier fühlte sie sich geborgen und verstanden.

Zu Bansin gehört auch Anne, ihre beste Freundin seit der Kindheit, obwohl sie sich früher nur in den Ferien sahen. Inzwischen ist Anne Wiesner 1,85 m groß und fast doppelt so schwer wie ihre zierliche Freundin. Im Gegensatz zu Sophies gefärbten Haaren ist ihre Mähne naturrot, wenn auch inzwischen etwas ausgeblichen und von etwas Grau durchzogen. Sie lebt allein, ihre Familie sind Berta und Sophie, das Kehr wieder ist ihr Zuhause.

Anne lässt sich jetzt auf einen Stuhl am Stammtisch fallen, atmet laut auf und sagt: »Gott sei Dank, Feierabend! Ich hatte so bescheuerte Gäste heute, das glaubt ihr nicht.«

»Hast du schon Mittag gegessen?«, unterbricht Sophie, bevor ihre Freundin ins Detail geht.

»Ja, ich war in Kamminke, bei der Fischräucherei. Hab super leckeren Lachs gegessen.«

»Na, dann solltest du doch bessere Laune haben. – Danke!« Berta nickt ihrer Nichte zu, die ihr eine Tasse Kaffee hingestellt hat. Auch Anne bekommt eine, dann setzt sich Sophie zu den beiden.

»Ach, ich hab einfach die Schnauze voll. Entweder werden die Gäste immer bekloppter oder ich werde alt. Ich habe keine Nerven mehr für die blöden Fragen und das Gemecker.« Sie nippt missmutig an ihrer Tasse. »Oder ich bin einfach urlaubsreif«, vermutet sie dann. »Im Frühjahr kann ich die Leute immer viel besser leiden.«

»Das Thema hatten wir heute schon«, bemerkt Sophie. »Mir geht es nämlich genauso.«

»Ja, dann fahrt doch einfach mal weg! Ihr redet immer nur davon. Es ist jedes Jahr das gleiche mit euch«, murrt Berta.

»Also im Moment geht es noch nicht. Bis Ende November habe ich jede Menge Aufträge.« Anne ist Gästeführerin auf Usedom. Sie fährt mit Reisegruppen über die Insel und erzählt dabei über die Geschichte und die Gegenwart. Meist macht es ihr Spaß, aber nach einer anstrengenden Saison kann sie sich manchmal selbst nicht mehr hören.

»Ich habe auch noch einige Buchungen. Im November hab ich zwei Reisegruppen im Haus. Außerdem einige Familienfeiern in der Gaststätte. Wie wäre es denn im Dezember?«

»Ihr wollt mich doch wohl in der Adventszeit nicht alleine lassen?« Berta ist empört.

»Dann komm doch einfach mit!«, schlägt Anne vor. »Wir fahren irgendwo hin, wo es warm ist und du am Strand liegen und im Meer baden kannst.« Sie grinst bei der Vorstellung und fängt einen vernichtenden Blick der alten Frau ein.

»Mir gefällt das Wetter hier ausgezeichnet, auch im Dezember. Außerdem will ich gar nicht wegfahren. Ich habe schließlich das ganze Jahr Urlaub.«

»Es könnte ja auch wieder was passieren in Bansin und du wärst nicht da. Eine Katastrophe!« Anne hat den gleichen Gedanken wie Sophie am Vormittag.

Die protestiert jetzt aber. »Beschrei es bloß nicht! Ich hoffe doch, wir haben mit den ganzen Gangstern hier gründlich aufgeräumt.«

»Also, ich weiß nicht«, Berta sieht nachdenklich zu Evelin hinüber, die gerade dabei ist, Tischtücher zu wechseln und die Gaststätte aufzuräumen. »Ich glaube nicht, dass die Polen etwas mit diesen Einbrüchen zu tun haben. Da steckt vermutlich mehr dahinter, als wir denken.«

»Was für Einbrüche? Davon weiß ich ja gar nichts.« Anne ist erstaunt.

»Es waren ja erst zwei«, wiegelt Sophie ab und verdreht leicht die Augen. Sie befürchtet, dass ihre Tante Langeweile hat und mal wieder ein Verbrechen aufklären möchte. Wenn es keins gibt, erfindet sie es eben oder deutet in einen harmlosen Diebstahl mehr hinein.

»Ich weiß schon, was du denkst«, stellt Berta ganz richtig fest, »aber glaub mir, ich habe eine Nase dafür.«

»Na ja«, versucht Anne zu vermitteln, »es wird ja gern alles auf die Polen geschoben. Aber woher willst du wissen, dass sie es nicht waren?«

»Weil der Dieb vermutlich einen Schlüssel hatte oder einen anderen Zugang zur Wohnung, sodass es nicht gleich aufgefallen ist. Beim ersten Mal dachte ich, es wäre ein Diebstahl innerhalb der Familie oder im Bekanntenkreis, also jemand, der sich ganz normal im Haus aufhalten konnte und dann das Geld und den Schmuck gestohlen hat. Aber jetzt deutet sich eine Serie an. Da scheint jemand sehr raffiniert vorzugehen.«

»Zwei Vorfälle würde ich ja nun nicht als Serie bezeichnen«, protestiert Sophie.

»Ich weiß zumindest von einem weiteren Vorfall.« Berta beugt sich über den Tisch und spricht etwas leiser weiter: »Eine ehemalige Kollegin hat mir das erzählt. Sie hat ihren Schwiegersohn im Verdacht und wollte meine Meinung dazu wissen. Ich glaube nicht, dass er es war. Und wer weiß, wie oft das noch vorgekommen ist. Die Leute reden nicht darüber, wenn sie glauben, einer aus der Familie hat sie beklaut.«

»Das ist ja fies.« Anne ist empört. »Aber was denkst du denn, wie der Dieb in die Wohnungen kommt?«

»Genau das würde ich gern herausfinden.«