Schattendasein

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Die Sprache lernen und anderen Flüchtlingen helfen
Hassim und Abbas, zwei Jugendliche aus Syrien

Hassim kommt fröhlich und lachend ins Büro. Er sprudelt immer voll positiver Energie. Seit zwei Wochen ist er in eine Wohngemeinschaft gemeinsam mit anderen, deutschen Studierenden eingezogen. Er hat auch schon seinen blauen Flüchtlingspass. Hassim ist bei allen sehr beliebt.

Kaffee? – frage ich ihn. „Sehr gerne!“ antwortet er. Gemeinsam gehen wir in die Küche.

Na? Alles klar bei dir? Wie ist das Leben in der neuen Wohnung? – „Alles Super! Ich werde wie ein Bruder behandelt. Mir wurde ein PC geschenkt und viele Möbel. Wir gehen oft in Konzerte und machen Ausflüge. Die Deutschen sind so nett zu mir!“ – Das freut mich Hassim. Du bist echt von Gott geliebt, antworte ich ihm.

Bevor ich anfange, mit ihm das Gespräch zu führen, meint Hassim abwehrend: „Ich will nicht über Syrien sprechen. Ich habe so viel Schlimmes gesehen. Aber gerne teile ich mit dir meine Erfahrungen während der Reise. Ist das ok?“, fragt er. Natürlich, sagte ich ihm: Ich bin dankbar für alles, was immer du mir mitteilen möchtest.

Hassim sitzt leuchtenden Augen voller Aufregung auf seinem Stuhl und meint: „Yallah, ich bin bereit!“

EF

Hassim, wie war dein Leben vor dem Krieg?

Hassim (in der Folge H)

Mein Leben war sehr schön! Ich habe viel Zeit mit meiner Familie und mit meinen Freunden verbracht. Jeden Tag, wenn ich von der Schule zurückgekommen bin, hatte meine Mutter schon das Essen vorbereitet, und wir aßen in aller Ruhe zu Mittag. Am Nachmittag war ich dann unterwegs mit meinen Freunden.

EF

Du bist aus Homs, richtig?

H

Genau. Homs war eine wunderschöne Stadt, mit viel Natur in der Umgebung.

EF

Hast du Geschwister?

H

Ja. Ich habe einen jüngeren Bruder und drei ältere Schwestern. Das Schönste für mich war immer, mit meiner Familie zusammen zu sein, mich nicht fremd zu fühlen, in einem anderen Land.

Hassim seufzt …

Das ist das Schwierigste für mich in Deutschland: Ich bin hier ganz allein. Niemand von meiner Familie ist hier. Das macht mich sehr einsam.

EF

Hassim, du hast in Homs studiert und warst schon im zweiten Semester. Richtig?

H

Ja, richtig. Ich habe Maschinenbau studiert. –

Bevor ich mein zweites Semester abschließen konnte, fing der Krieg an. Damals war ich 18 Jahre alt. In diesem Alter war es Pflicht, Militärdienst zu leisten.

Eines Tages, auf dem Weg zur Universität, wurde ich am Checkpoint angehalten. Ich wurde herausgeholt, und mir wurde von den Soldaten gesagt: „Heute ist dein letzter Tag in der Universität. Morgen kommst du zur Militärbasis, bringst alle deine Papiere mit und meldest dich zum Militärdienst!“

Ich ging nach Hause und erzählte alles meinen Eltern. Sie besprachen sich in der Nacht lange und ausführlich. Am frühen Morgen sagten sie mir, dass es aus ihrer Sicht das Beste für mich sei, wenn ich in den Libanon gehe. Klar, meine Eltern wussten, was es heißen würde, wenn ich als Soldat mitten in diesen Konflikt geraten würde.

Ende 2012 floh ich dann in den Libanon.

EF

Warst du alleine im Libanon? Blieben deine Eltern in Syrien zurück?

H

Ja, meine Eltern blieben in Syrien. Mein Vater hatte seine eigene Firma. Eine Transportfirma, um Menschen von Homs nach Beirut zu bringen. Dadurch konnte ich mehrmals meinen Vater im Libanon treffen, ihn fragen, wie es der Familie geht. Das hat vieles erleichtert. Doch das blieb so nicht auf längere Dauer.

Ein paar Monate danach wurde mein Vater an einem Checkpoint festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Eineinhalb Jahre blieb er im Gefängnis in Homs. Während dieser Zeit hatte meine Familie keinerlei finanzielle Unterstützung. Somit arbeitete ich im Libanon und habe Geld nach Hause geschickt. Mein Vater wurde erst entlassen, nachdem meine Familie 13.000 Dollar gezahlt hatte. Seitdem habe ich meinen Vater und meine Familie nicht mehr gesehen.

EF

Du hast aber jetzt Kontakt mit deiner Familie?

H

Gott sei Dank! Meinem Vater geht es gut. Meiner Familie auch. Sie leben unter dem Schutz der Barmherzigkeit Gottes.

EF

Lebt deine Familie noch in Homs?

H

Nein. Unser Haus wurde bombardiert. Meine Familie floh in ein Dorf in der Nähe, das Aldiea heißt. Gott sei Dank es geht ihnen gut. Erst gestern habe ich mit ihnen telefoniert.

Aber sie berichteten, dass jetzt schon ganz in der Nähe von Aldiea geschossen wird.

EF

Warum entschied sich deine Familie nicht, mit dir zusammen zu fliehen?

H

Das ist eine schwierige Geschichte. Mein Vater hat die Mentalität der älteren Generation. Er will nicht aus dem Land seiner Väter und Urväter weggehen. Ihm ist es lieber, in Syrien zu sterben, als auszuwandern. Ich habe mehrmals versucht, meine Mutter zu überzeugen, dass sie mit meinen Schwestern zu mir in den Libanon kommt. Doch mein Vater war auch dafür nicht. Damals sprach ich jeden Tag mit meinem Vater: „So Gott will kommst du zu mir in den Libanon!“ Doch mein Vater antwortete immer: „Wir sind in Syrien geboren, und was Gott für uns bestimmt hat, das ist für uns bestimmt!“

EF

Du hast dich dann Ende 2015 entschieden, nach Deutschland zu flüchten.

H

Genau. Die politische Situation im Libanon wurde von Tag zu Tag unstabiler. Es gab große Spannungen zwischen der libanesischen Bevölkerung und den syrischen Flüchtlingen. Ich will nicht in die Details gehen. Ich fühlte mich nicht mehr sicher.

Ich dachte mir auch, dass die Zukunftsmöglichkeiten für mich in Deutschland viel besser sein würden als im Libanon. Meine Eltern waren anfangs nicht dafür und meinten, dass ich im Libanon doch noch in relativer Nähe bei ihnen wäre.

Nach langem Dialog meinten meine Eltern dann doch: „Wir lassen dich frei. Entscheide, was für dich das Beste ist.“

So entschied ich mich Ende 2015, meine große Reise zu organisieren.

Ich bin erst in die Türkei gereist, dort verbrachte ich ein paar Tage bei meiner Tante.

Es klopft an der Tür! „Ja? Wer ist da?“, frage ich. „Ich bin es, Abbas.“ – „Dann komm rein!“

Abbas ist, wie Hassim, auch ein allein reisender, dreiundzwanzig Jahre junger Mann aus Syrien. Er kam heute extra zu Besuch zu mir, um seine Geschichte zu erzählen.

Strahlend kommt er herein! „Boh! Ist das heiß bei euch in den Büros!“

Wasser? Kaffee? Tee?

„Wasser bitte!“

Ich erkläre Abbas ganz kurz, dass wir gerade über Hassims Reise sprechen. „Ja, super, dann reise ich einfach spontan mit!“

„Sababa! Super!“, sage ich.

EF

Jetzt erzähl’ mal, Hassim! Wie hast du die Reise organisiert?

H

Ich hatte Kontakt mit einem Schleuser in der Türkei. Er war Syrer. Dieser wiederum hatte Kontakt mit einem Schleuser in Griechenland. Das waren hoch organisierte Banden in der Türkei.

In Iskandarun, einem Städtchen an der syrischen Grenze, haben wir uns zusammengefunden und sind von dort nach Izmir gefahren. Von Izmir weiter bis nach Cesame und von dort mit dem Boot übers Meer auf die griechische Insel Chios.

Du siehst, wie nah das ist! Nur fünf Stunden haben wir dafür gebraucht.

EF

Seid ihr eigentlich gemeinsam gereist?

Abbas

Nein. Aber auf der gleichen Route.

Hassim fährt fort

Wir hatten anfangs einen guten Kontakt mit dem griechischen GPS. Doch das türkische Radar hat uns die Verbindung unterbrochen. Dadurch haben wir uns auf dem Meer verirrt. Anstatt uns den Weg zur der griechischen Insel zu weisen, hat uns das GPS Richtung Istanbul geführt.

Doch mein Freund konnte sich wieder mit dem griechischen GPS in Verbindung setzen, und somit sind wir wieder in die richtige Richtung gefahren. Aber kurz danach haben wir die Verbindung ganz verloren. Wir waren mitten auf dem Meer.

Ich dachte mir: Khalas! Jetzt ist Schluss! Wir werden alle sterben!

Doch plötzlich sahen wir ein großes türkisches Schiff, das in unsere Richtung fuhr. Der Schleuser dachte nicht lange nach und gab dann einfach Vollgas! Und wie durch ein Wunder kamen wir, schweißgebadet vor Angst, an die griechische Küste. Dort konnten uns die Türken nichts mehr machen. Wir wussten: In Griechenland sind wir sicher. Von dort aus fuhren wir mit einer großen Fähre nach Athen.

EF

Gab es Hilfsorganisationen in Griechenland? Das Rote Kreuz?

H

Ja, das Rote Kreuz hat uns in vielen Ländern gut begleitet. Speziell, als wir in Athen angekommen sind, war ich sehr begeistert vom Rotem Kreuz. Nachdem die Menschen fürs Erste mit Essen und Trinken versorgt worden sind und eine Unterkunft zugewiesen bekamen, hat eine Gruppe vom Roten Kreuz ein paar Spiele mit den Kindern organisiert, um sie abzulenken von der ganzen Angst und von dem ganzen Druck! Das war sehr schön zu erleben. Das hat gut getan.

Einen Tag später ging die Reise weiter. In unserer Gruppe fuhren wir – meist mit Bussen – von Athen bis Makedonien. Zwischendurch mussten wir manchmal drei, vier Kilometer laufen. Mal Zug, mal Bus, mal laufen! Es war schrecklich kalt und regnerisch.

Abbas fügt hinzu

Manchmal mussten wir dreizehn, vierzehn Stunden mit dem Bus fahren! Dann wieder zu Fuß laufen … dann wieder zehn bis vierzehn Stunden mit dem Bus!

 

EF

Was habt ihr empfunden während der Reise?

Abwechselnd beide

Wir hatten Angst! Angst vor dem Ungewissen! Eine Woche lang ständige Ungewissheit! Angst vor der Gewalt, die von den Soldaten ausging!

Wir waren uns nicht sicher, ob wir in allen Ländern willkommen sein würden. – Es war Spannung hoch zehn!

Gott sei Dank sind wir nicht durch Ungarn gereist! Wir haben Horrorgeschichten über die Ungarn gehört! Dass sie die Menschen in Gefängnisse geschmissen haben und sehr grausam waren. Aus diesem Grund sind wir auch durch die Slowakei gereist!

Dann waren wir endlich in Österreich! Erst in Wien habe ich mich wieder richtig sicher gefühlt! In Wien haben die Menschen uns willkommen geheißen. Nicht das Militär wie in den anderen Ländern! Es war so ein wunderschönes Gefühl, wieder relativ sicher und geborgen zu sein!

EF

Und was habt ihr während der Reise gegessen?

Abbas lacht

Sardinen und Thunfisch! Ich kann diese beiden Fischsorten nicht mehr riechen!

Hassim fügt hinzu

Für uns Jungs war das ja noch ok. Aber es gab ja in unserer Gruppe auch kleine Kinder, die das nicht essen konnten.

Also noch einmal: Es war so richtig schön, in Wien angekommen zu sein. Ich habe mich wieder wie ein Mensch gefühlt! Ich empfand mich wie neu geboren!

Hassim sagt noch

Danke Deutschland, dass du uns aufgenommen hast! Danke!

Das Deutsche Volk ist sehr liebevoll!

Danke! Danke!

EF

Was sind eure Hoffnungen für die Zukunft?

H

Alhamdulillah! Dank sei Gott! Ich habe schon mein Zimmer in einer deutschen Wohngemeinschaft. Mein Traum ist es, meine Eltern stolz zu machen, indem ich mein Studium, das ich in Syrien anfangen habe, hier abschließen kann! Inshallah! Dadurch können wir auch Syrien beim Wiederaufbau helfen! Inshallah!

Ich habe ein ganz klares Ziel hier in Deutschland. Der erste Schritt dahin ist, die deutsche Sprache gut zu lernen. Das ist der Grundstein des Mosaiks, das ich mir für die nächste Zukunft vorgenommen habe.

Abbas fügt hinzu

Und das Wichtigste neben dem Studium ist: Auch danach Arbeit zu finden!

Ich spreche vier Sprachen: Kurdisch, Türkisch, Arabisch und jetzt auch ein wenig Deutsch. Wenn ich die deutsche Sprache gut beherrsche, dann möchte ich noch weitere Sprachen lernen.

Ich möchte gerne als Helfer für die kommenden Migrantinnen und Migranten arbeiten. Genau so wie andere Menschen mir geholfen haben als Flüchtling, will ich auch meinen Beitrag leisten für andere Menschen, die dasselbe oder noch Schlimmeres erlebt haben als ich.

EF

Danke Hassim und Abbas!

Wir sollten geschlachtet werden, weil wir Ungläubige sind!
Rasul und Rasha Alaskoria, eine christliche Familie aus dem Irak

EF

Rasul und Rasha Alaskoria, seid ihr aus dem Irak oder aus Syrien?

Rasul und Rasha (in der Folge RR)

Wir sind aus dem Irak.

EF

Euer Familienname klingt ein bisschen anders! Woher stammt er? Seid ihr Christen?

RR

Ja. Wir gehören zur chalcedonischen Kirche.

EF

Gehört sie zur katholischen Kirche?

RR

Genau. Wir sind eine Teilkirche, die in Einheit mit der Kirche von Rom, der katholischen Kirche, lebt.

EF

Aus welcher Stadt kommt ihr?

RR

Eigentlich aus Bagdad. Aber 2004 sind wir das erste Mal wegen der Invasion der Amerikaner nach Mossul geflohen. Wir wurden danach als Christen verfolgt.

EF

Wie war die Situation vor der ersten Invasion im Irak?

RR

Wir waren – um in einem Bild zu sprechen – die „Blumen Iraks“. Speziell die Christen genossen den Schutz des irakischen Staates. Das war zu der Zeit von Saddam Hussein!

Nach dem ersten Krieg fing das Elend an. Der Staat war zerstört, zerschlagen worden. Es herrschte totales Chaos. Und die Verfolgungen gegen die Christen nahmen ihren Anfang.

EF

Gab oder gibt es noch viele Christen im Irak?

RR

Damals ja. Über 3 Millionen! Jetzt ist die Zahl der Christen sehr stark zurückgegangen – auf maximal 100.000! Ein Ergebnis des Krieges und der Christenverfolgung!

Nach dem Jahr 2003 konnten sich die Christen anfangs noch einigermaßen schützen. Sie zogen aufs Land, lebten in christlichen Dörfern, die damals noch bestanden.

Wir flohen aus Bagdad in ein kleines Dorf namens Batraia, in der Nähe von Mossul. Batraia war so ein christliches Dorf. Dort konnten wir einigermaßen sicher leben. Die Stadt Mossul und die Dörfer im Umland der großen Stadt unterstanden damals der Kontrolle der Kurden.

Aber das Schlimmste kam dann 2014! Als Daaisch (ISIS) in die Stadt Mossul einmarschiert ist. Das geschah am 10. Juni 2014. Das Datum werde ich nie vergessen!

Die kurdischen Soldaten kamen in unser Dorf und versicherten uns, dass sie uns schützen werden. Der Priester der Gemeinde vereinbarte mit den kurdischen Soldaten, dass er die Glocken der Kirche läuten wird, sollte ISIS näher an Batraia heranrücken.

EF

Ist das dann tatsächlich auch geschehen? Kamen die Kämpfer von ISIS auch nach Batraia?

RR

Ja. Aber erst ein paar Monate später! Aber während dieser Monate lebten wir unter konstantem Terror, in Angst und Schrecken. Wir wussten, dass ISIS zu jeder Zeit in Batraia einziehen konnte!

Am 6. August 2014 geschah es dann auch. Die Glocken wurden geläutet! Es war mitten in der Nacht. Unsere zwei Kinder schliefen schon in ihren Betten. Man hat uns mitgeteilt, dass wir nur wenige Stunden Zeit hätten, um zu fliehen, denn Daiisch, die Kämpfer des Islamischen Staates, waren schon auf dem Marsch aus Mossul in unser Dorf! Überstürzt und voller Schrecken packten wir die ganze Familie ins Auto und sind nach Alqosch, einem Dorf in Kurdistan, geflohen.

EF

Konntet ihr etwas mitnehmen?

RR

Panisch vor Angst, sind wir mit den weinenden Kindern zum Auto gerannt. Gott sei Dank hatten wir uns schon in den vergangenen Wochen auf diesen Augenblick vorbereitet. Unser Auto hatten wird mit Benzin vollgetankt, hatten es in der Garage untergestellt und fast nie benutzt.

Wir haben alles hinter uns gelassen: unser Haus, meine eigene große Firma.

EF

Was für eine Firma hattest du?

RR (Rasul)

Ich war Eigentümer einer Firma für Elektrogeräte! Das Geschäft hatte drei Stockwerke! Alles wurde geplündert. Nach der ersten Flucht im Jahre 2003 haben wir hart gearbeitet, um ein neues Leben aufzubauen. Und nun war in einem Augenblick wieder all das, wofür ich viel Schweiß vergossen hatte, einfach weg!

EF

Wie habt ihr ISIS erlebt?

RR

Ganz am Anfang, als ISIS im Juni 2014 das erste Mal in Mossul eingezogen ist, hatten die Christen keine Probleme. Viele von ihnen konnten damals noch im Mosul arbeiten. Erst zwei Wochen später, am 20. Juni 2014, hat ISIS zu einem Treffen mit den christlichen Bischöfen aufgerufen. ISIS hat auch öffentlich verlangt, dass die Christen die Jizie zahlen sollen. Jizie ist eine Steuer, die Christen den Muslimen zahlen mussten, wenn sie in Mossul und Umgebung weiterhin leben wollten. Mehrmals versuchte ISIS, das Treffen mit den Bischöfen zustandezubringen. Doch zu keinem der drei Termine ist auch nur einer von den Bischöfen hingegangen. Nach dem dritten gescheiterten Versuch entschied ISIS, die Christen aus Mossul zu verjagen. An jede Haustür einer christlichen Familie wurde der Buchstabe N, das „Nun“ geschrieben. ,N‘ steht für Nasrawi. Der aus Nazaret, sprich Jesus. Ein anderes Wort, das auch an die Häuser geschrieben worden ist, war „halal“.

EF

Halal? Ich verstehe das nicht! Das bedeutet doch „Fleisch“, das in muslimischen Restaurants angeboten wird – außer Schweinefleisch!

RR

Genau. Wir Christen waren Halal, Fleisch. Halal: Wir sollten geschlachtet werden, weil wir Ungläubige sind! Wir wurden auch dazu gezwungen, ein Kopftuch mit einem Schlitz anzuziehen, der nur die Augen freiließ.

EF

Bei mir meldet sich eine dringende Frage: Warum haben die Bischöfe an diesen von ISIS geforderte Treffen nicht teilgenommen? Hatten Sie Angst? Was war der Grund?

RR, Rasul

Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. – Aber vielleicht war es besser, dass sie nicht dahingegangen sind. Vielleicht hätten die Leute von ISIS den Bischöfen etwas angetan.

Rasha

Die Männer der Kirche haben uns immer gesagt: „Bleibt im Land, bekommt Kinder!“ Aber wenn es dann darauf angekommen ist, uns zu schützen, waren sie verschwunden, haben sie sich versteckt.

Rasul

Aber was hätten denn die Oberhäupter der Kirchen überhaupt machen können? Sie waren doch in dieser Situation völlig ohnmächtig, so wie wir alle!

EF

Ihr habt euch von der Welt vergessen gefühlt. Auch von der Kirche weltweit?

RR

Wir haben uns total vergessen und verlassen gefühlt!

EF

Ihr seid dann nach Kurdistan geflohen. Was ist weiter geschehen?

RR

Ronza und Zam, unsere beiden Kinder, waren damals noch zwei und vier Jahre alt. Wir flüchteten zuerst von Mossul nach Erbil. Von Erbil sind wir weiter in die Hauptstadt, nach Bagdad, zu meinem Bruder. Bis Anfang September 2014 sind wir in Bagdad geblieben, also etwa zwanzig Tage. Dort bereiteten wir die große Reise in die Türkei vor.

EF

Habt ihr euch in Bagdad wenigstens etwas sicherer gefühlt?

RR

Überhaupt nicht! – Jeden Tag hörten wir in den Nachrichten, dass ISIS immer näher an die Hauptstadt heranrückte. Seit dem Jahr 2003 wussten wir ja, dass es keine wirkliche Sicherheit mehr gab! Während dieser zwanzig Tage in Bagdad haben wir uns im Haus meines Bruders vor Angst versteckt.

Rasha

Ich habe ein Kopftuch, einen Kopfschleier, getragen, der nur die Augen frei ließ, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Rasul

Unsere Halsketten mit dem Kreuz haben wir unter dem Hemd versteckt. Gott sei Dank konnte ich noch einen Flug von Bagdad nach Istanbul buchen. Er kostete 2500 Dollar für die ganze Familie.

EF

Das ist aber teuer für einen Flugweg!

Rasul

Das war der einzige Flug, der möglich war.

In Istanbul bin ich dann zum Büro der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gegangen und bat um Schutz für mich und meine Familie. Nach langem Warten kam eine libanesische Frau auf uns zu und informierte uns darüber, dass der erste Termin, einer von dreien, für den Asylantrag im August 2018 wäre! Das wären also noch vier lange Jahre bis dahin gewesen! Wie sollten wir vier Jahre in der Türkei leben? Du weißt ja sicher, wie schlecht die Flüchtlinge in der Türkei bezahlt werden und wie teuer die Mieten sind!

EF

Ja, ich habe davon gehört!

RR

Und nicht nur das! Nicht nur wurden wir im Irak wegen unserer Religion verfolgt, in der Türkei wurden wir automatisch diskriminiert. Jedes Mal, wenn uns dort jemand gefragt hat, ob wir Christen sind, haben sie gelacht und meinten: Nein, das geht nicht! Wir sollten doch bitte sofort zum Islam übertreten!

Rasul

Wir durften auch unsere kleinen Kreuze nicht offen tragen.

Einmal hatte ich einen Job bei einem Metzger. Sobald der Mann mitbekommen hat, dass ich Christ bin, hat er mich gefeuert. Er war der Überzeugung, dass ich ein Ungläubiger bin.

Wir haben in ständiger Angst gelebt. Ein Beispiel: Wir haben uns mit verschiedenen Familien heimlich zusammengefunden, in Verstecken, zwanzig, dreißig Christen, um gemeinsam beten zu können. Wir beteten das Vaterunser und den Rosenkranz. Als die Nachbarn uns einmal fragten, warum wir uns versammelten, antworteten wir, dass wir eine Geburtstagsparty feierten.

Wir haben sozusagen eine „Kirche bei uns zu Hause“ gegründet.

Meistens haben wir noch einen Priester dazu eingeladen.

Weißt du, Elizabeth, ich bin eher ein Mensch, der nicht gerne Mitleid bei anderen erregen will. Aber wie wir als Christen verfolgt worden sind, das ist nicht zu beschreiben.

EF

Weißt du, Rasul, dass ich dich erst seit ein paar Tagen mit einem Kreuz an deinem Hals sehe?

Rasul

Ja, ich habe es letzte Woche neu gekauft. Im Irak und in der Türkei hatte ich immer Angst, es zu tragen. Aber als ich in Deutschland angekommen bin, wusste ich, dass ich an einem sicheren Ort bin.

 

EF

Wie lange musstet ihr in der Türkei leben?

RR

Ein Jahr und zwei Monate lebten wir in Ankara.

EF

Was habt ihr da machen, wie habt ihr da leben können? Ihr habt ja mehrmals versucht zu arbeiten und seid immer wieder gescheitert. Wovon konntet ihr leben?

Rasul

Es war eine sehr harte Zeit. Nachdem ich mehrmals, weil ich Christ bin, gefeuert worden war, habe ich schließlich eine Arbeit gefunden, ohne Versicherung, illegal. Ich musste meine Religion verbergen, um diesen Job zu bekommen. Die Arbeit war illegal, weil ich keine türkische Aufenthaltsgenehmigung hatte.

EF

Was für eine Arbeit war das?

Rasul

Meine Arbeit war in der Marmorindustrie. In diesem Job arbeitete ich ungefähr fünf Monate lang. Der Monatslohn betrug 200 türkische Lira.

EF

Wie viel ist das?

Rasul

250 Euro.

EF

Wie viele Stunden am Tag musstest du arbeiten?

Rasul

Acht Stunden. Aber nicht nur ich! Sondern alle anderen Flüchtlinge auch.

EF

250 Euro Gehalt im Monat! Wie kann man da über die Runden kommen?

Rasul

Mein Vater und meine Mutter lebten mit uns im selben Haus. Mein Vater bekam noch seine Rente aus dem Irak. Wir teilten uns die Miete. Es blieb uns aber fast nichts für das Essen und die anderen Lebenshaltungskosten übrig. Du musst dir das vorstellen: Die Miete für das Haus kostete 600 Euro. 250 Euro konnte ich durch meine Arbeit dazu beisteuern, der Rest kam hinzu dank der Rente meines Vaters.

Durch meine körperlich harte Arbeit erlitt ich eine Muskelverletzung. Das kam vom schweren Tragen der großen Marmorsteine, manchmal zehn, elf, zwölf, fünfzehn Stockwerke hoch. Ohne Lift. Sehr bald hatte ich unerträglich starke Schmerzen am Rücken. Wir mussten immer sehr schnell arbeiten, sonst hätten wir die Arbeit bald verloren. Was sollte ich machen? Ich brauchte das Geld!

EF

Also: Was ihr durch die schwere Arbeit verdient hattet, ging auch gleich wieder weg.

RR

Wir konnten keinen Cent, sozusagen für den schwarzen Tag, auf die Seite legen. Nichts!

Dann konnten wir, dank Deutschland, das seine Türen für uns geöffnet hatte, flüchten. Es wurde uns gesagt, dass das Rote Kreuz auf der Route da sei und dass den Menschen geholfen würde. Aber es war sehr hart, weil damals im November 2015, als wir losmarschierten, bereits Winterszeit war. In den Ländern, die wir durchquert haben, herrschte Todeskälte. Sie war unsere ständige Begleiterin, angefangen von der Türkei, über Griechenland, Makedonien, Serbien und so weiter.

Rasha fügt hinzu

Es war sehr hart. Die Reise begann ganz früh am Morgen. Das waren echte Mafiosi, die Schleuser! Sie haben mit Menschen gehandelt wie mit Waren auf dem im Markt. Genau so! Wir wurden sehr oft über den Tisch gezogen.

EF

Wie habt ihr das alles bezahlen können?

Rasul

Rasha hat einen Teil ihrer Familie in Pforzheim. Sie schickten uns Geld für die Reise. Es war für uns sehr unangenehm, dieses Geld anzunehmen. Aber welche andere Wahl hatten wir?

Die Schleuser haben uns, dicht gedrängt, in ein fünfzehn Meter langes Boot eingesperrt. Über neunzig Menschen in so einem kleinen Boot!! – Die Wellen gingen hoch.

Im Boot trafen wir andere christliche Familien. Wir haben gemeinsam die vier Stunden auf dem Meer nur gebetet. Als wir endlich in Griechenland angekommen waren, habe ich mich wieder wie ein Mensch gefühlt. Die Griechen gaben uns sofort Wasser zu trinken und etwas zu Essen und brachten uns zu einem Heim. Dort konnten wir unsere nassen Kleider wechseln und uns etwas ausruhen.

EF

Das war erst der Anfang der Reise.

RR

Genau. Von dort aus ging die Reise weiter nach Athen. Gemeinsam mit den anderen christlichen Familien. Insgesamt fünfundzwanzig Personen waren wir. Eines haben wir uns fest versprochen: Egal, was geschieht, wir bleiben zusammen! Einer hilft dem andern! So war es dann auch.

Gemeinsam reisten wir mit dem Bus und auch mit dem Zug. Von einer Station zur nächsten Haltestelle. Es gab keinen längeren Stopp! Wenn wir nachts im Bus reisten, konnten wir manchmal ein wenig schlafen. Am frühen Morgen – kaum angekommen – ging es ab zur nächsten Station. Wir konnten uns nicht ein einziges Mal richtig ausruhen.

Aber wir haben alles gemeinsam überbrückt! Aus unseren Gebeten konnten wir viel Kraft schöpfen.

EF

Wie viele Tage dauerte die Reise?

RR

Vierzehn Tage hat die Reise gedauert. Aber das Schlimmste war Serbien! Die Eiseskälte, die Angst, die Gewalt und die schlechte Behandlung durch die Serben.

Von einer Landgrenze zur anderen gab es immer mehr Zäune. Das Militär ließ immer nur eine kleine Gruppe durch. Das Gedränge war ganz furchtbar. Die Menschen waren wie Tiere in einem Käfig. Keinen Respekt mehr vor Frauen, Kindern oder älteren Menschen! Es herrschte das Gesetz des Dschungels: Der Stärkere überlebt!

Ich habe vor mir mit eigenen Augen gesehen, wie ein alter Afghane in Serbien am Zaun umgefallen und einfach gestorben ist. Er konnte nicht mehr weiterlaufen, war zu schwach vor lauter Warten, Gedränge und Stress.

EF

Das war an jeder Landesgrenze so?

RR

An jeder Grenze. Härte kam auch hinein durch die jeweiligen ethnischen Gruppierungen der Flüchtlinge. Jede Gruppe, sprich: Syrer, Iraker, Kurden, Afghanen, musste für sich eine Menschenbarriere aufbauen, um ihre eigenen Kinder und Frauen vor dem Gedränge der jeweils anderen Gruppe zu schützen. – Hätten wir das nicht gemacht, wären wir nie durchgekommen.

Rasha

Wir haben den Tod mehr als zehnmal vor Augen gesehen. Das Überqueren des Mittelmeers war eigentlich die leichteste Übung. Was danach kam, das war wirklich hart!

Der Druck war spürbar, wir mussten weiter. Wir konnten nicht an einer Grenze verweilen. Wenn man nicht selbst Druck macht und sich durchsetzt, dann bleibt man schnell an der Grenze hängen.

Wie oft haben wir nachts dicht am Zaun geschlafen, ohne Zelt, ohne jeden Schutz vor der Kälte, um die Ersten zu sein, wenn die Zäune wieder aufgemacht wurden!

Meine Kinder habe ich fest in meinen Armen gehalten vor lauter Angst. Aber wir mussten es machen!

Rasul

Für uns Männer war es machbar. Aber für die Frauen und die kleinen Kinder war und ist es immer noch eine Katastrophe! Eine Katastrophe, die andauert, auch wenn die Sache selbst schon vorbei ist! Unbeschreiblich!

EF

Gab es denn nicht eine Vereinbarung oder eine Absprache, dass Frauen und Kinder Vorrang haben?

Rasha

Keinen verabredeten Code, keine Humanität! Nur: Der Stärkere überlebt!

EF

Und jetzt, da ihr in Deutschland seid, Verwandte in Pforzheim habt: Welche Hoffnungen und Wünsche habt ihr für die Zukunft?

Rasul

Unsere Kinder! Wir haben schon gelebt. Worauf wir jetzt hoffen, ist eine bessere Zukunft für unsere Kinder!

Manchmal geht mir der Gedanke durch den Kopf: Was wäre, wenn Deutschland die Türen nicht aufgemacht hätte? Was wäre dann mit uns? Wie wäre unser Leben?

Ich sage jeden Tag gemeinsam mit meiner Familie: Nushkor allah! Dank sei Gott, dass wir heil und gut in Deutschland angekommen sind. Wir sind den Deutschen sehr dankbar, hier leben zu dürfen.

EF

Ja, Gott sei Dank! Das ist das Wichtigste, dass ihr heil angekommen seid. Ich kann mir gut vorstellen, dass es hart ist, neu anfangen zu müssen, nachdem man jahrelang in seinem Heimatland alles unter großen Anstrengungen aufgebaut hat – und von einem Tag zum anderen brutal herausgerissen wird.

RR

Das geschah ja nicht nur einmal. Wir wurden mehrmals herausgerissen, mehrmals mussten wir neu anfangen.

Aber dieses Mal wissen wir, dass wir hier in Deutschland in Sicherheit sind. Wir wissen, dass wir hier nach einer guten Zukunft streben können. Ein Haus zu kaufen, die Kinder aufwachsen zu sehen, Elektrizität, sauberes Wasser zu haben – ohne die Angst, dass alles von einem Tag zum anderen nicht mehr da ist. Keine Verfolgungen mehr erleiden zu müssen. Keine Angst haben zu müssen, wegen unserer Religion mit dem Tode bedroht zu werden. Keine Angst mehr zu haben, ein Kreuz zu tragen. Wir fühlen uns hier sicher!

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