Buch lesen: «Doggerland»
Élisabeth Filhol
Doggerland
Roman
Aus dem Französischen übersetzt von Cornelia Wend
Die Originalausgabe des vorliegenden
Buches erschien unter dem Titel Doggerland
© P.O.L. Éditeur, 2019
Dieses Buch erscheint im Rahmen des
Förderprogramms des Institut Français
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus GmbH 2020
Deutsche Erstausgabe Oktober 2020
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg
ePub ISBN 978-3-96054-233-9
Inhalt
Margaret
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Marc
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Storegga
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Epilog
Doggerland, 6150 v. Chr.
Margaret
1
Sie haben gesehen, wie es geboren wurde, wie es im Meer vor Island aus dem Nichts auftauchte. Sie verfolgten gebannt, wie es sich entfaltete, eingenistet in seinem Tiefdruckbett, gezeugt von einem Schwall subtropischer feuchter Luft, der sich an die Grenzen des arktischen Ozeans verirrt hatte. Und nun explodiert es förmlich, eine Bombe. Wie in einem Film, den man im Schnellvorlauf abspielt, da war nichts und nun ist es da. Man spricht es auf Französisch eher wie Xavère aus und weniger wie Xavier, noch ist Xaver keine Katastrophe, noch ist es ein schönes Anschauungsobjekt. Als solches verdient es, auf Initiative der europäischen Meteorologen, mit einem eigenen Taufnamen ausgezeichnet zu werden. Es ist ausreichend unerwartet, unvorhersehbar und spektakulär.
Sie haben gesehen, wie es sich südöstlich vor Grönland erhob, wie es in Rekordzeit dreist seine Hülle durchbrach, vor den Augen der von Tempo und Ausmaß des Phänomens kalt erwischten numerischen Wettervorhersagemodelle.
Sie haben gesehen, wie es sich einkringelte, sich einrollte, in der aufsteigenden Bewegung der Konvektion, und wie es im Zeitraffer, aufgeputscht durch einen schwindelerregenden Druckabfall in diesem Gebiet, seinen Durchmesser vergrößerte. Da war nichts und urplötzlich ist es da, von Anfang an ganz es selbst, ein Titan, kaum auf der Welt, schon aktiv und im Vollbesitz seiner Kräfte. Jetzt erwacht es über dem Nordatlantik zum Leben und sprengt sogleich den Bildschirmrahmen, dabei nimmt es ohne weitere Umschweife eine vollendete Form an, wie Athene, die in voller Rüstung dem Schädel ihres Vaters entsprang. Es wird größer, es wächst, entwickelt sich in einem exponentiell zunehmenden Tempo und beginnt, sich von Westen her auf den Weg Richtung Osten zu machen, wird im Laufe der Stunden immer größer, die Isobaren werden immer zahlreicher, stehen immer enger. Und sie sitzen hinter ihren Bildschirmen, verarbeiten, analysieren und bemühen sich um eine möglichst korrekte Einordnung der vielen ungewöhnlichen Parameter, die das möglich gemacht haben, und bereiten sich auf das Schlimmste vor.
In diesem Stadium wird noch keine offizielle Warnung herausgegeben. Aber die Mitarbeiter der verschiedenen meteorologischen Dienste, vom Met Office, vom Deutschen Wetterdienst, von Météo-France oder vom Meteorologisk Institutt, stehen bereits Gewehr bei Fuß. Denn das, was die Modelle der in Echtzeit mit Daten gefütterten Hochleistungsrechner jetzt voraussagen, ist, dass man ihre Hilfe nicht mehr benötigt, um Xaver vorherzusehen, das Ausmaß lässt sich mit eigenen Augen abschätzen, ein Ausmaß, das für viele Meteorologen präzedenzlos ist, ein solches Phänomen hat man seit zwanzig oder dreißig Jahren nicht mehr beobachtet. Sie starren auf die Satellitenbilder und können nicht glauben, was da im Gange ist, was sich im Schatten der Drei-Tages-Vorhersagen abspielt, die Jüngeren unter ihnen haben dergleichen noch nie gesehen. Es wächst und breitet sich in diesem Zeitraum, in dem es ohne jeden Zeugen über dem Atlantik bläst, übertragen durch Sensoren, Bojen, Satelliten und über den Umweg von Simulationen, immer weiter aus, wie eine mythische Macht, halb konkret, halb abstrakt, nicht wirklich real, aber auch nicht nur rein theoretisch. Sie bewundern es für das, was es ist, eine Ausnahmeerscheinung in all seinen Parametern und dem Zusammentreffen dieser Parameter, wie eine seltene Planetenkonstellation, ein Schauspiel, das man nur ein- oder zweimal in seinem Leben erlebt, sie sind hingerissen von der Schnelligkeit seiner Entwicklung und seinem Wachstumspotenzial, während die Daten auf den Bildschirmen an ihnen vorüberziehen, permanent aktualisiert werden, und das ist erst der Anfang. Sie sehen bereits die zweite Phase voraus, je näher es dem Jetstream kommt, jenem Starkwindband in großer Höhe, das mit einer konstanten Geschwindigkeit von 320 km/h um die Erde rast. Unter allen Szenarien, über die man sich bei den verschiedenen Diensten, von kleinen Abweichungen abgesehen, einig ist, wird das Worst-Case-Szenario in nicht mal einer Stunde das Rennen machen, das imponierendste von allen, wegen der maximalen Energieübertragung durch den über Xaver hinwegziehenden Jetstream, der die Konvektion zusätzlich verstärkt, seine Rotationsgeschwindigkeit um ein Vielfaches beschleunigt und das Sturmtief im Handumdrehen in eine meteorologische Bombe verwandelt. Überall bei den staatlichen Wetterdiensten in Nord- und Westeuropa werden Meteorologen und IT-Experten an ihre Arbeitsplätze beordert. Sie stehen untereinander in engem Kontakt, haben einen direkten Draht zu den Behörden und zum Katastrophenschutz, denn was sich da aufbaut, ist gigantisch, das wissen sie. Der Sturm wird in seiner wahren Dimension erfasst, er wird in die ihm angemessene Kategorie eingeordnet. Auf Basis dieser Einstufung werden, untereinander abgestimmt und in sämtlichen Landessprachen, Unwetterwarnungen herausgegeben.
Am Sitz des Met Office in Exeter eilt Ted Hamilton in den Gängen des weitläufigen Open-Space-Büros von einem zum anderen, kommentiert, unterbricht sich, geht zum nächsten, beobachtet die Gesichter hinter den Bildschirmen, die eher gebannt als verängstigt wirken. Er ist gerade erst zu seinem Team gestoßen und richtet sich darauf ein, die ganze Nacht hier zu verbringen. Er hält diese Hochspannung für wünschenswert und notwendig, solange es keine fruchtlose Nervosität ist, oder, noch schlimmer, eine stressbedingte Überforderung, sondern ein Bereitschaftszustand, in dem alle Sinne geschärft sind, eine angespannte Aufmerksamkeit, die über einen längeren Zeitraum hinweg produktiv ist, den Dimensionen des Phänomens angemessen. Seine Mitarbeiter sind dafür ausgebildet, sind genau darauf geeicht. Auch Offiziere, Chirurgen oder Piloten sind schließlich dafür trainiert, mit außergewöhnlichen Situationen umzugehen, die dafür nötigen Kompetenzen gehören zwar nicht zum eigentlichen Kernbereich ihrer Tätigkeit, sind aber dennoch unabdingbar für die Ausübung ihres Berufes. So sieht Ted Hamilton das jedenfalls, als sturmerprobter Schotte. Er lebt hier in der Grafschaft Devon gewissermaßen im Exil, seitdem ihn ein allerletzter Karrierekick vom Wettervorhersagezentrum in Aberdeen, das er sieben Jahre geleitet hat, hierher verschlagen hat. Er ist der Auffassung, dass die Routine, die ihren Arbeitsalltag prägt, die dreimal täglich herausgegebene Vorhersage, nicht das Wesentliche überlagern darf, ihre eigentliche Aufgabe, nämlich, sich mit Katastrophenszenarien zu befassen, jene Fähigkeiten zu mobilisieren, die durch die tägliche Routine eingeschläfert werden, und das Unvorhersehbare zu managen. An diesem Abend also tritt das Unvorhersehbare in Gestalt von Xaver auf, der selbst in Ted Hamiltons Augen ziemlich dick aufträgt, hier gleitet eine bereits außergewöhnliche Lage in einen Zustand ab, der präzedenzlos ist, in ein meteorologisches Extrem, dazu angelegt, sie mindestens fünf Tage Vollzeit zu beschäftigen, angefangen von seinem Auftreffen auf die Westküste dieses Landes in dieser Nacht bis hin zu seiner vollen Entfaltung über Mitteleuropa im Laufe des Sonntags oder Montags.
Die Stadt Exeter wurde 2003 als Standort für das Met Office ausgewählt. Breitet man eine Karte Südenglands vor sich aus, dann entdeckt man sie an einer Flussmündung, etwa sechzig Kilometer nordöstlich von Plymouth gelegen. Die Flussmündung gehört zum Fluss Exe, der sich bei Exmouth in die Bucht von Lime ergießt, einem kleinen Badeort, in dem Ted Hamilton ein Haus gemietet hat. Man kann sich ausmalen, was eine Versetzung von Aberdeen nach Exeter für ihn bedeutet hat. Das ist in etwa so, als würde man jemanden von Lille nach Marseille versetzen. Im Bewusstsein, in Schottland fest verankert zu sein, dort seine Wurzeln und all seine Bindungen zu haben, hielt er es für keine gute Idee, dass irgendjemand ihm nach Exeter folgte. Diejenigen, die das hätten tun können, brachte er davon ab, oder zumindest ermunterte er sie nicht dazu. Er wollte sie nicht dazu nötigen, in einen tausend Kilometer weiter südlich gelegenen Ort auszuwandern. Nun nutzt er seinen Urlaub und seine Überstundenausgleichstage, um regelmäßig den Weg in umgekehrter Richtung zurückzulegen, von Süd nach Nord. In der restlichen Zeit vertieft er sich komplett in seine Arbeit. Eine Zeit wie diese, in der die Ereignisse sich überstürzen, sind in seinen Augen ein willkommenes Intermezzo. Draußen der Sturm und er eingeschlossen in seinem Glaskasten. Wenn er wieder auftauchen, seinen Glaskasten verlassen und nach Hause fahren wird, um sich auszuruhen, wird der Wind sich gelegt haben, aber die wilde Brandung vor seiner Villa am Ende des Strandes wird bezeugen, dass all das kein Traum gewesen ist, dass er nicht aus einem Paralleluniversum wieder aufgetaucht ist, dass in seiner Abwesenheit tatsächlich etwas passiert ist. In einigen Stunden ist es so weit. Jedes Mal erlebt er das abgekapselt vom Rest der Welt, über den Umweg von Bildschirmen. Er analysiert, stellt Prognosen auf, beaufsichtigt die Reaktionen, alles mittels ein paar Mausklicks – in Ermangelung von Joysticks, wie sie in der modernen Kriegsführung verwendet werden. Aber es findet statt. Zuerst trifft es immer die Westküsten, während die Sturmflut die Britischen Inseln umrundet, sich auf beiden Seiten der Shetlandinseln ihren Weg über die Nordsee bahnt und im gesamten Nordseebecken ausbreitet. Der Wind hingegen geht direkt über das Gebiet von Irland und Großbritannien hinweg. Einmal entfesselt, ist er dem Meer eine Länge voraus. Am Anfang haben die Wellen Mühe, sich zu bilden, als würden sie von einer unsichtbaren Hand immer wieder umgeschlagen, als würde man ihnen die Basis entziehen oder ihre Köpfe herunterdrücken, bevor sie die Chance hätten, sich weiter auszubreiten, um die von der Beaufortskala geforderte Wellenlänge und -höhe zu erreichen und das erwartete Schauspiel zu liefern. Für den Morgen des fünften Dezember, einen Donnerstag, werden für die Seegebiete Forties, Dogger und Fisher Windstärken von elf bis zwölf vorausgesagt und Wellenhöhen von über dreizehn Metern, wenn die Sturmflut vom Atlantik angerast kommt, vor sich das hastig zu Wellenbergen aufgetürmte Oberflächenwasser herschiebend, ein Phänomen, das man Windsee nennt, eine See, die noch beängstigender ist als der Wind selbst, den man darüber fast vergisst. Am Anfang lässt der Wind ihr überhaupt keinen Spielraum, lässt dem in seinem Becken gefangenen Meer keinen Platz, um sich zu erheben und seine Kraft zu entfalten und auf die Gewalt des Sturmtiefs mit Gegengewalt zu reagieren, so als wäre es auf dem falschen Fuß erwischt worden. Es kann keinen Schwung holen, ihm nichts entgegensetzen, steht unter seinem Joch, aber dann dehnt es sich doch unter seinem Oberflächenwasser aus und wird größer. Die von drei Seiten, im Westen, im Osten und im Süden, von Land begrenzte Nordsee schwillt unter der Wirkung des niedrigen Luftdrucks an. Und die Kraft des Windes, die sie an der Oberfläche in Schach hält, sie daran hindert, sich zu einer Sturmsee zu erheben so wie eine Armee sich erhebt, die ihre Versuche immer wieder zunichte macht und sie über einige Stunden in einem widernatürlichen Zustand hält, mit kurzen Wellen, weißen Schaumkronen, Wasser und Gischt, Wasser und Gischt …, diese Kraft des Windes kann letztendlich nichts ausrichten gegen seine Ausdehnung, seine Verformung, nichts gegen eine ansteigende See, die bereit ist, ihr Bett zu verlassen. In der Zeit, in der ihr die Energie gegeben wird, den Kopf zu heben – was im Süden des Beckens, wo die Küsten flach sind und es Polder gibt, sehr viel beunruhigender ist als im Norden des betroffenen Bereichs –, breitet die Flutwelle sich aus und bedroht die Küste. Einige Lokalpolitiker haben diese Bedrohung bereits in ihren Planungen berücksichtigt, haben dem Risiko in ihren Küstenschutzmaßnahmen Rechnung getragen. Andere hingegen können sich nicht vorstellen, dass für sie vom Meer eine echte Gefahr ausgeht.
Es ist zwanzig Uhr an diesem Mittwoch, dem vierten Dezember 2013, im Hauptquartier des Met Office, alle blicken auf und wenden sich dem Riesenbildschirm am Ende des Raumes zu, auf dem gerade Xavers Weg angezeigt wird. Ted Hamilton muss einräumen, das Bild ist beeindruckend. Aber in den verschiedenen Szenarien, die er in Vorbereitung auf den Orkan durchspielt, ist die Windgeschwindigkeit nicht seine größte Sorge. Er geht von einem der hintereinander oder zu Tischgruppen angeordneten Arbeitsplätze zum anderen und stellt auf seine typische Art, kurz und bündig, die auf jene, die ihn nicht gut kennen, manchmal etwas schroff wirkt, seine eigenen Synthesen und Projektionen auf. Eigentlich müsste die Anspannung jetzt spürbar steigen, der auf den Teams lastende Druck greifbar sein, aber dem ist nicht so. Wenn Ted Hamilton Dienst hat, herrscht eher gespannte Erwartung vor als Nervosität. In der in dieser Häufigkeit und Intensität bereits jetzt ungewöhnlichen Folge von Winterstürmen in diesem Jahr ist Xaver zunächst eine Art Wunderkind, bevor er zur angekündigten Katastrophe wird, ein meteorologisches Meisterwerk, es überrascht, beeindruckt und fesselt die Mitarbeiter, die Bereitschaft haben, und jene, die man zur Verstärkung hinzugerufen hat. Sie sind weniger verängstigt als gebannt, als sie die Fotos des Ungeheuers und sein Blutbild sehen, und die Tatsache, dass es ihm gelungen ist, sein Nest im Unsicherheitsbereich der Vorhersagemodelle zu bauen, fasziniert viele. Wenn die Natur sämtliche Grenzen sprengt wie hier, überbordet, überrascht, selbst für hochentwickelte Superrechner unkalkulierbar, unkontrollierbar und unvorhersehbar ist, dann neigt man dazu, sie zu respektieren. Die Vorhersagemodelle haben eine gewisse Fehlermarge und sie nimmt sich ihre Freiheit, so dass bei jeder Aktualisierung der Grafikkarten, bei jeder Bildwiederholung, Xavers exzessiver Charakter, sein von Stunde zu Stunde wachsender Umfang immer deutlicher zutage treten, und damit auch die mit seiner Schönheit untrennbar verbundene Macht, das in ihm steckende Potenzial und die von ihm ausgehende Bedrohung.
In einer Viertelstunde wird Ted Hamilton im Pressesaal erwartet. Er wirft einen Blick auf die Wanduhr, zieht sich dann in einen Winkel des Raumes zurück, in dem auf einem Podest eine ganze Batterie von Druckern steht. Dort oben kann er sich für einen Moment aus dem Geschehen herausziehen und sich zugleich einen Überblick über die Lage verschaffen. Er versucht, sich in regelmäßigen Abständen dem ständigen Fluss an zu bearbeitenden Informationen, den Bergen von dringenden Anfragen, der Notwendigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen, zu entziehen, sich von der allgemeinen Aufregung freizumachen. Dazu fühlt er sich umso mehr verpflichtet, als es beim Dienst nicht viele gibt, die durch ihren Status und ihre Funktion in der Lage sind, das zu tun, Abstand zu gewinnen, eine Standortbestimmung vorzunehmen, die Geschehnisse einzuordnen, den Begriff des größten anzunehmenden Schadensrisikos neu zu bewerten, den er auf ganz pragmatische Art und Weise als Angriff auf die Unversehrtheit von Personen versteht. Den Rest, den materiellen Schaden, den ökonomischen Preis, behandelt er, egal wie groß der Druck von außen ist, immer als zweitrangig. Während Xaver sich auf Europa zubewegt und sich weiter seinen Weg bahnt, macht Ted sich an die schwierige Aufgabe, eine Notfallskala zu erstellen, die dem gesunden Menschenverstand entspricht, und dabei nicht das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren, die Belange der Bevölkerung, denn zugleich wetteifern alle darum, seine Schiedssprüche einem vielfältigen Bündel von Interessen zu unterwerfen. Er weiß, dass es so viele sich manchmal widersprechende Partikularinteressen gibt, wie es Kunden gibt, die einen Vertrag mit dem Met Office haben, von den Hochseefischern bis zu den Luftfahrtgesellschaften über die Offshore-Industrien, die Transportunternehmen, die Versicherungsgesellschaften, die Medien und natürlich die Gemeinden. Insgesamt sind es Tausende, aus dem privaten oder öffentlichen Sektor, denen das Institut seine maßgeschneiderten Dienste anbietet, über ein ausgedehntes Netz von Ingenieuren, Key-Account- und After-Sales-Managern. An einem Tag wie diesem und in dem Bewusstsein, dass die Küstenbewohner an vorderster Front sind, zögert Ted Hamilton nicht – mit dem Abstand, den er durch viele Jahre Berufserfahrung und eine gewisse Geisteshaltung gewonnen hat –, in der von einem Mitarbeiter verfassten Pressemitteilung den Ton zu verschärfen, um zu verhindern, dass durch eine stereotype Ausdrucksweise die Gefahr so weit heruntergespielt wird, dass manche Lokalpolitiker, das weiß er, Entwarnung geben und sich ins Bett legen könnten. Denn der für die nächsten Stunden angesagte Höhepunkt von Xaver über Großbritannien ist seiner Ansicht nach nicht zugleich der Moment, von dem die größte Gefahr ausgeht. Was ihm Sorge macht, und zwar noch etwas mehr als der Wind selbst, ist die Tatsache, dass eine Sturmflut, die das Wasser der Nordsee anschwellen lässt und zu einer hohen bis sehr hohen See nahe der Küste führt, zusammenfällt mit einem großen Gezeitenkoeffizienten. An den tiefer gelegenen Küstenabschnitten des Nordseebeckens im Allgemeinen und der Südküste Englands im Besonderen besteht bei extrem hohem Hochwasser auch ein extrem hohes Überschwemmungsrisiko. Die entscheidende Frage – soll man evakuieren oder nicht, den Notfallplan in Kraft setzen oder nicht? – dürften sich die zu einem Krisentreffen zusammengekommenen Bürgermeister der exponiertesten Gemeinden von Norfolk und Yorkshire bereits stellen, während sie, die Augen auf den Bildschirm geheftet, die Entwicklungen vor Ort verfolgen, mit Unterstützung der Fachleute des Met Office, die ihnen in Realzeit Analysen und Lageeinschätzungen zur Verfügung stellen.
Bevor Ted Hamilton in den Pressesaal geht, zieht er eine Isobarenkarte aus dem Drucker, die dieser in regelmäßigen Abständen ausspuckt, und stellt sich an den Kaffeeautomaten. Gerade will er den Saal betreten, da überlegt er es sich anders und bittet einen Mitarbeiter um Kopien der vor wenigen Minuten herausgegebenen Unwetterwarnungen seiner europäischen Kollegen. Er wartet geduldig, eine Hand auf der Klinke, trinkt derweil seinen Kaffee aus und entsorgt den Becher in den rechts neben der Tür stehenden Edelstahl-Mülleimer. Er denkt an seine Schwester Margaret, mit der er gestern Abend telefoniert hat, an seinen Schwager Stephen, der für das Forewind-Konsortium arbeitet, und an ihren Plan, morgen früh von Aberdeen aus mit einem Direktflug nach Dänemark zu fliegen. Er lässt seinen Blick über den überfüllten Open-Space-Raum schweifen, über die Gesichter, denen die Anspannung angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, und der Größe der Aufgabe, die vor ihnen liegt, deutlich anzusehen ist, und in dem Moment denkt er, dass diese Reise vielleicht nicht unerlässlich ist. Kurz spielt er mit dem Gedanken, sie anzurufen und sie zu überreden, ihre Abreise zu verschieben, dann gibt er die Idee mangels Zeit auf, aber nicht nur deshalb. Er ist sich nicht sicher, ob dieser Schritt Sinn macht, denn selbst wenn Margaret sich seinen Bedenken nicht verschließen sollte – und er denkt, dass er sie überzeugen könnte –, so wird Stephen bestimmt nicht von seinem einmal gefassten Entschluss abrücken. Er lebt in einer Welt, in der man die Windkraft als Ressource betrachtet, in der man Klimaereignisse als das letzte Ehrengefecht einer Natur einstuft, die früher, bevor man sie an die Kandare genommen hat, unbegrenzt geherrscht hat, und er, Stephen Ross, gehört seinem Selbstverständnis nach zu jener Kategorie von Männern, die innerhalb weniger Generationen die Tendenz umgekehrt haben, die das Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten gekippt haben, und der beste Beweis dafür sind in seinen Augen die Offshore-Windparks, die er baut. Ted Hamilton begnügt sich damit, Margaret eine SMS zu schicken. Und um ganz sicherzugehen, nimmt er sich vor, im Morgengrauen beim Flughafen in Aberdeen anzurufen und sich bestätigen zu lassen, dass alle Flüge gestrichen wurden. Dann betritt er den Presseraum, wo der Kommunikationsdienst bereits an der Arbeit ist. Als er einige Minuten später in einer Doppel-Live-Schaltung auf den Bildschirmen von Sky News und BBC erscheint, wirkt er auf die, die ihn aus der Nähe kennen, größer, als er in Wirklichkeit ist, und zugleich ein wenig schmaler, während er sich redlich Mühe gibt, beim Sprechen den Ansatz eines Lächelns zu zeigen, oder zumindest nicht so streng oder barsch zu wirken wie sonst manchmal.
Die Unwetterwarnung wurde herausgegeben. Der Sturm nähert sich den europäischen Küsten. Es ist mehr als ein Sturm, es ist ein Orkan, der da über dem Nordatlantik tobt, noch hat man keine Bilder von Meer und Wind, abgesehen von den Satellitenaufnahmen ist er bisher eine rein abstrakte Erscheinung, aber er steuert auf die Küsten zu, macht sich auf den Weg über den Atlantik, kündigt sich bereits auf hoher See vor den Britischen Inseln an, indem er etwas Regen vorausschickt, und noch vor Mitternacht wird er auf Land treffen, das steht fest. Fest steht auch, welchen Weg er nehmen wird, das ist mehr oder minder vorhersehbar, genau wie die Schäden, die er anrichten wird, auch wenn die Bevölkerung sich das derzeit noch nicht vorstellen kann. Er wird erwartet, er wird in die Annalen eingehen, er trägt bereits einen Namen, spricht man ihn deutsch aus, klingt er hart, das passt besser zu ihm, dennoch ist es schwer, an ihn zu glauben, man muss allein auf die Pressemitteilungen vertrauen, die auf Englisch, Deutsch, Niederländisch, Dänisch und Französisch herausgegeben werden. In allen Anrainerstaaten der Nordsee bei allen Wetterdiensten herrscht die gleiche Hektik, alle sind sich bewusst, dass etwas Ungewöhnliches bevorsteht, und sich hinter den Karten und Satellitenanimationen, über die der Durchschnittsbürger nicht verfügt, eine ganz reale Bedrohung verbirgt, und man ihn wachrütteln muss, damit er Vorsichtsmaßnahmen ergreift, seine Fähigkeit zum Selbstschutz wecken muss, die nur noch rudimentär ausgebildet ist, da er keine Angst hat, da die Natur, zu der er auf Distanz gegangen ist, ihm keine Angst macht, außer jenen, die noch in direktem Kontakt zu ihr stehen, den Seeleuten, den Beschäftigten der Offshore-Industrien.
Nunmehr wird die Meldung in einer Dauerschleife auf allen Kanälen gesendet. Die Wissenschaftler vom Met Office beraten ihre Kunden, die auf der Nordsee arbeiten. Sturm Xaver hat gerade die im Nordwesten von Großbritannien gelegene Inselgruppe der Hebriden erreicht und wird als nächstes Schottland und Norfolk überqueren, bevor er in Richtung Skandinavien weiterzieht. Auf den vor Aberdeen gelegenen Bohrinseln beginnt man, die Plattformen zu sichern und die Arbeiter zu evakuieren. Das sie umgebende Meer wirkt bisher noch glatt. Aber der Wind hat zugelegt. Das Meer wird sich erheben, sich in Stellung bringen, nun seinerseits seine Stärke demonstrieren und darauf reagieren, es wird immer wieder gegen die Pfeiler der in der Dunkelheit hell erleuchteten Bohrinseln schlagen, und die werden weiter oben, in ihren Aufbauten, ins Wanken kommen durch den Windwiderstand, und es wird ihre Sockel erschüttern, ihre Betonverankerung in einhundertzwanzig Metern Tiefe bedrohen, während oben in der Höhe das Knirschen, das Knacken dem Ohr ein ebenso deutliches Maß vorgeben wird wie ein Anemometer. Aber noch ist es nicht so weit, noch ist das Meer auf dem Weg, ist weiß und kaum strukturiert, hatte nicht die Zeit, so wie der Wind, dessen Geschwindigkeit mit dem Heranziehen der Front immer stärker wird, seine Kräfte zu bündeln und sich seinen Weg zu bahnen: Statt zum Sturm auf die Förderanlagen und Windparks anzusetzen, statt sich unter dem Bauch der Bohrinseln rund zu machen und den Zwischenraum in regelmäßigen Intervallen auszufüllen, bereit, sie im Ganzen anzuheben, treibt es nur kurze Wellen zwischen den Pfeilern hindurch und Schaumkronen in einen orangefarbenen Lichtkreis. Währenddessen nimmt die Windgeschwindigkeit zu, 25 Knoten, 30 Knoten werden auf den Anzeigetafeln in den Cockpits der Helikopter angezeigt, die gerade ihre letzte Runde aufnehmen, und an Bord der Transportboote, die sich mit ihrer Besatzung in Richtung Aberdeen aufmachen, während der Wind sich jetzt lautstark zu Wort meldet, von einer Stunde zur nächsten an Sicherheit gewinnt, mit der Faust ausholt und alles zu Boden drückt, was ihm Widerstand leistet.