Szenenwechsel

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Szenenwechsel
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Alle Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit Namen, Personen, Firmen u.ä. sind purer Zufall.

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Szenenwechsel. Kriminalroman

Elisa Scheer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2015 Elisa Scheer

ISBN 978-3-7375-6295-9

DI, 15.04.2008

„Du weißt aber schon, dass du jetzt Vertretung hast?“, fragte Lilly vorsichtig an, als sie Hilde versonnen vor dem Direktoratsbrett stehen sah.

Hilde fuhr zusammen. „Was – jetzt?“

„Jetzt ist doch die vierte Stunde?“

„Mist, ich hab mich verlesen, ich dachte, in der fünften… Danke!“

Hilde eilte davon, und Lilly sah ihr kopfschüttelnd nach. Sonst war Hilde doch der Inbegriff von Zuverlässigkeit – und heute? Komplett durch den Wind. Die Wandkarte für die elfte vergessen, die korrigierte Schulaufgabe für die sechste auf dem Tisch liegen gelassen, keinen Becher unter den Kaffeeautomaten gestellt… gerade, dass sie nicht den Kopierer mit einer nicht kopierfähigen Folie ruiniert hatte. Was war denn heute bloß los?

Hilde war schon auf dem nächsten Treppenabsatz, als ihr einfiel, dass sie gar nicht wusste, wohin sie musste. Also zurück und nachgesehen – aha. 9 c, in A 31: anderer Trakt, dritter Stock.

Die Tür von A 31 stand offen, und fröhlicher Lärm drang nach draußen. Jetzt sausten auch noch zwei Mädchen auf den Gang, offenbar, um einander eine obendrein offene Limonadenflasche abzujagen.

Na bitte – die vordere blieb stehen, als sie Hilde sah, und die Limonade schwappte über ihr T-Shirt.

„Scheiße“, fluchte sie halblaut und betrachtete ihre nasse Vorderseite.

„Sei froh, dass das T-Shirt wenigstens dunkel ist, und schraub nächstes Mal die Flasche lieber zu“, kommentierte Hilde mitleidlos. „Jetzt aber rein ins Zimmer!“

„Mist, die Suttner“, murmelte die andere. „Wieder nix mit Hausaufgaben.“

„Gut beobachtet“, feixte Hilde. „Nix mit Hausaufgaben.“

Sie schloss die Klassenzimmertür und lehnte sich lässig ans Pult. Die Neuntklässler warfen ihr irritierte Blicke zu, begaben sich dann aber für ihre Verhältnisse relativ zügig auf ihre Plätze, wo sie abwartend stehen blieben.

„Sehr gut“, lobte Hilde. „Für die, die mich noch nicht kennen sollten, ich heiße Suttner, und ich wünsche euch einen guten Morgen. Ihr dürft euch setzen.“

Geräuschvolles Hinsetzen und munter einsetzendes Geplauder.

„Zum Ratschen hatte ich euch nicht aufgefordert. Was fällt euch denn jetzt gerade aus?“

„Musik“, rief jemand.

„Nee, Deutsch“, wurde aus der hinteren Ecke widersprochen.

„Also, kurz vor Ostern solltet ihr euren Stundenplan eigentlich im Kopf haben.“ Hilde sah auf dem Plan nach, der auf dem Pult klebte, und fluchte innerlich: Klassenzimmertausch und Stundenplanänderungen…

„Okay, egal – Musik oder Deutsch, das ist beides nicht meins, aber ich bin sicher, ihr habt auch Lücken in Mathe.“

„Nein!“ Wilder Protest.

„Das könnt ihr mir ja sofort beweisen. Wir machen ein bisschen Grundwissen. Nehmt was zu schreiben raus. Wir fangen auch ganz simpel an, versprochen.“

„Das kennen wir“, murmelte die mit dem Limo-T-Shirt gut hörbar, „das sagen Lehrer immer, und dann ist es doch sauschwer.“

„Dann übst du vielleicht zu wenig?“, schlug Hilde vor. „Also, zum Aufwärmen: Vier durch Wurzel zwei – bitte macht den Nenner rational!“

Zweiunddreißig Augenpaare signalisierten völliges Unverständnis. Hilde seufzte innerlich. Noch nie davon gehört, was?

„Mit Dummstellen kommt ihr auf die Dauer aber auch nicht durchs Leben. Na gut, komm du“ – sie zeigte auf eine besonders unschuldig blickende und formidabel geschminkte Miniaturvenus – „doch mal raus an die Tafel. Wir beide machen es den anderen jetzt vor.“

Zehn zähe Minuten später hatten alle – sogar die völlig erschöpfte Saskia – verstanden, wie man einen Nenner rational machte. Hilde ließ die Klasse in Partnerarbeit weiterüben und lehnte sich an das vorderste Fensterbrett, um ab und zu zu leiserem Sprechen zu ermahnen.

Sie hatte Kopfschmerzen, sie war nach der letzten Nacht todmüde, und diese blöden schwarzen Samtjeans kniffen am Hintern und in der Taille. Nur diese Stunde noch, und dann noch den Leistungskurs und die Zehnte – aber die waren ehrgeizig. Und aufgeweckt. Nicht so wie die hier… ihre eigene Neunte bestand auch nicht gerade aus lauter Einsteins, kein Wunder in dem hormongebeutelten Alter, aber die hatten eine vernünftige Arbeitshaltung. Meistens wenigstens. Nachher sollte sie unbedingt nachsehen, welche Pfeife diese Herzchen hier in Mathe auf dem Gewissen hatte.

„Frau Suttner?“

Sie eilte in die letzte Reihe und beugte sich über einen verkritzelten Block.

„Ich krieg da die blöde Wurzel nicht weg!“, klagte ein beängstigend dünnes Mädchen.

„Was haben wir uns denn als Regel erarbeitet?“

„Äh – dass wir mit der Wurzel malnehmen sollen?“

„Erweitern“, korrigierte Hilde. „Stimmt. Und – geht das hier nicht?“

„Doch“, gab das Mädchen zu. „Hab ich gar nicht gesehen…“ Sie beugte sich wieder über ihren Block. Hilde betrachtete gedankenvoll das Heft neben dem Block – Ines Malsen 9c - und die dürren Ärmchen und machte sich im Geist eine Notiz, mit Susi Werner, der Verantwortlichen für Suchtprävention, zu sprechen. Eindeutige Anzeichen für eine ausgewachsene Anorexie!

Nach einigen Minuten schloss sie die Partnerarbeit ab, besprach die Ergebnisse, ließ noch einige gemischtquadratische Gleichungen lösen (daran haperte es bekanntlich bis zum Abitur) und beendete dann die Stunde einigermaßen erleichtert.

Die Klasse verabschiedete sie fröhlich und schien es nicht mehr ganz so arg zu bedauern, um eine Stunde Hausaufgaben, Stadt-Land-Fluss oder Schüler-Memory gekommen zu sein.

Hilde eilte zurück ins Lehrerzimmer, drängte sich zu ihrem Platz durch und schlug ihren Terminkalender auf. Erledigt – erledigt – erledigt – äh. Das Ex abgeben. Und die Zettel wegen der Raumänderung ab nächster Woche aufhängen, an rund zwanzig Türen im gesamten Gebäude. 8 a (B 22) und 11 d (D 07) tauschen bis auf weiteres den Raum. Gipsfuß in der elften, wahrscheinlich. Sie schrieb eine Notiz wegen Ines Malsen und legte sie Susi Werner ins Fach. Armes Mädel…

Stundenplanänderungen musste sie auch noch einarbeiten – Sissy Eichberger war schwanger und musste liegen; glücklicherweise war sie wegen ihrer zwei schon vorhandenen Kleinkinder auf acht Stunden heruntergegangen, das ließ sich vertreten… Mathe und Physik, hm. Sollte sie sich die Matheklasse (vier Stunden eine siebte) selbst ans Bein binden? Später mal nachsehen, ob da was ging…

Ihre Gedanken schweiften ab, zu Tante Martha.

Die Arme, wo hatte sie sich bloß diese Lungenentzündung geholt? Sie war immer pumperlgesund gewesen, sportlich, zwar etwas moppelig wie die ganze Familie - und dann holte sie sich eine Lungenentzündung und starb mit 69 Jahren! Nach drei Tagen!

Gestern hatte Hilde sie noch besucht, und Tante Martha hatte sich gefreut – und heute früh dann der Anruf von der Klinik.

Na, Papa würde sich die Hände reiben, der alte Geier. Tante Martha war ziemlich wohlhabend gewesen, eine reiche Witwe eben, und wahrscheinlich erbte Mama alles – wer sonst? Und was Mama hatte, kriegte Papa schnell in die Finger. Er würde alles verkaufen und – was und? Alles aufs Sparbuch? Goldbarren in die Schweiz schaffen? Münzen im Garten vergraben? Er war ja doch ein bisschen paranoid. Schön blöd, Immobilien sollte man im Moment lieber halten, die Preise waren ziemlich im Keller. Aber Papa konnte nicht mit Geld umgehen, er hatte einfach nur Angst, im Alter zu verhungern. Und Mama glaubte, Papa habe die Weisheit mit Löffeln gefressen. Nach dreiunddreißig Jahren Ehe!

Aber Sabine glaubte ja auch, ihr Tobias sei der reinste Nobelpreisträger. Auch schön blöd.

Und der liebe Martin hielt sich sowieso für Gottes Geschenk an die nach Weisheit dürstende Menschheit. Tolle Familie. Na, wenigstens war Martins Freundin ein bisschen kritischer. Jenny hatte manchmal eine Art, ihn von der Seite anzusehen…

Das Läuten riss Hilde aus ihren Gedanken, und die nächsten zwei Stunden war sie gründlich von Tante Martha abgelenkt. Erst als sie gegen halb vier ihre beiden übervollen Taschen zum Parkplatz schleifte und sie aufatmend im Kofferraum versenkte, kam sie wieder zum Nachdenken.

Sie blieb eine Zeitlang bei offener Fahrertür sitzen und überlegte, was nun alles zu tun sei. Wahrscheinlich sollte sie erst einmal im Krankenhaus anrufen… Hatte Tante Martha zu Lebzeiten irgendetwas veranlasst? Sie hatten sich sehr gut verstanden, aber darüber hatten sie nun doch nie gesprochen. Wollte sie begraben werden – oder eingeäschert? Eine Grabstelle gab es, auf dem Leichinger Parkfriedhof, weil Tante Martha zu Lebzeiten ihres Mannes dort gewohnt hatte. Aber mehr fiel Hilde nicht ein, also kramte sie ihr Handy aus der Tasche und rief im Krankenhaus an. Die Stationsschwester kannte sie schon und versicherte ihr, das Institut Ewiger Frieden habe sich der Verstorbenen bereits angenommen. Nein, es gebe nichts zu tun - naja, bei Gelegenheit könnten die persönlichen Habseligkeiten der Verstorbenen abgeholt werden – aber noch nicht heute. Und nein, es habe sonst niemand nachgefragt. Habe Frau Willinger denn noch mehr Angehörige gehabt? Und ja, ihre Adresse habe man auch an Ewiger Frieden weitergegeben.

O ja, dachte Hilde wütend, das Handy im Schoß. Eine Schwester, einen Schwager, einen Neffen und noch eine Nichte. Und keiner kümmerte sich? Hilde hatte ihnen allen mitgeteilt, dass Tante Martha mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Papa war beruflich viel zu eingespannt für solche Bagatellen, Mama hatte versprochen, ihre Schwester zu besuchen, Sabine hatte das gestresste Muttertier gegeben und gefragt, wo sie denn bitte ihre süßen Kleinen lassen sollte, außerdem habe Tante Martha gemeckert, sie und Tobias hätten zu früh geheiratet, und Martin hatte seine Mailbox offenbar nicht abgehört.

 

Und dann hatten sie es alle verdrängt. Aber wenn Mama und Papa was erbten, dann kämen sie und hielten die Hand auf, wetten? Sie würde den Teufel tun und bei ihren Eltern betteln - aber Martin und Sabine war ja nichts zu peinlich!

Sie schnallte sich an, drehte den Zündschlüssel und fuhr los, darum bemüht, ihren Zorn nicht an den anderen – wie üblich beschränkten – Autofahrern auszulassen.

Zu Hause sah sie sich gereizt um.

In letzter Zeit fühlte sie sich immer gereizt, wenn sie nach Hause kam. Warum eigentlich? War sie schon so ein Workaholic? Aber hier hatte sie doch wenigstens einen eigenen Schreibtisch. Und genügend Zeug darauf, das mal abgearbeitet werden wollte. Die Klausur, das Extemporale, der Raumplan, der Exkursionsentwurf, der Beitrag zur Schulhomepage, die Macken im Geometrieprogramm… Sie beäugte die wüsten Haufen auf dem zu kleinen Schreibtisch missmutig, stellte ihre beiden Taschen ab und warf den Mantel aufs Bett.

Aufräumen müsste sie mal wieder: Ein Einzimmerappartement müllte wirklich im Handumdrehen zu… Außerdem war die Wohnung sogar für ein Zimmer dürftig. Zweiundzwanzig Quadratmeter, und davon gingen ja noch der Zwergenflur mit dem völlig unzureichenden Kleiderschrank und das Zwergenbad mit der extrakurzen Wanne ab. Lila gekachelt!

Der ganze gesichtslose Block mit sechs Stockwerken à zwanzig Wohnschließfächern stammte aus den mittleren Siebzigern. Das musste die absolute Hochphase des grottenschlechten Geschmacks gewesen sein, überlegte Hilde, während sie sich umsah. Lila Kacheln! Und der kleine, aber klotzige Betonbalkon mit Schmiedeeisen verziert.

Alles andere war einfach abgewohnt, die Türen vor der mickrigen Kochnische hingen leicht schief, der Beton auf dem Balkon war ziemlich vermoost, und der Teppichboden hatte, als er neu war, sicher eine Farbe gehabt, vielleicht blau? Mittlerweile war ein undefinierbares Graubraun daraus geworden.

Manchmal fragte sie sich ja schon, ob sie das eigentlich noch notwendig hatte. Immerhin verdiente sie seit dreieinhalb Jahren recht ordentlich, warum hauste sie also immer noch in dieser Mickerbude aus ihrer Studentenzeit, in einer lauten und schmuddeligen Gegend, die nicht einmal verkehrsgünstig zum Mariengymnasium lag?

Sie wusste es ja. Sie wollte eines Tages eine richtige Wohnung haben, und zwar eine Eigentumswohnung. Zwei Zimmer und eine richtige kleine Küche. Und ein Bad in einer Farbe, bei der einem nicht die Augen tränten!

Seit ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie gespart, investiert, umgeschichtet und mittlerweile immerhin rund siebzigtausend Euro in sicheren Anlagen zusammen – aber als Eigenkapitalanteil war ihr das immer noch zu wenig, eine vergammelte Bude aus den Sechzigern oder Siebzigern wollte sie nicht, und etwas Neueres oder gar – hach… - einen renovierten Altbau gab es nicht für solche Sümmchen. Also weitersparen, auch wenn Martin und Sabine höhnten.

Die mussten gerade reden, dachte Hilde, während sie sich in dem kleinen, voll gestopften und peinlich unordentlichen Zimmer umsah. Martin hauste mit seiner Jenny in der Einliegerwohnung bei den Eltern – vier Zimmer, aber eben immer noch Hotel Mama… dass Jenny sich das gefallen ließ?

Und Sabine und Tobias hatten ein ziemlich heruntergekommenes kleines Reihenhaus gemietet, dem ihre beiden kleinen Mädchen wahrscheinlich über kurz oder lang den Rest geben würden. Soo toll wohnten die also auch nicht. Toll wohnten nur die Eltern; das Haus war, auch abgesehen von der überdimensionierten Einliegerwohnung, kolossal. Zehn Zimmer, beste Lage in Henting – aber nicht mehr gut in Schuss. Papa wollte kein Geld für Handwerker ausgeben, konnte aber selber gar nicht viel machen. Und wenn neue Emissionswerte festgelegt wurden und er die Heizung sanieren musste, weinte er bitterlich: Wo er doch so arm war!

Hilde grinste vor sich hin. Gestörte Wahrnehmung, eindeutig. Er verdiente ausgezeichnet, hatte das schuldenfreie Haus, kein Kind mehr auf der Tasche, wahrscheinlich ein fettes Depot – und ehrlich Angst zu verhungern. Er musste in absehbarer Zeit eine gesetzliche Rente, eine Betriebsrente, eine Privatrente und die Zahlungen aus einer Lebensversicherung bekommen. Aber am Hungertuch nagen… Eindeutig gaga! Und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer – als sie ein Kind gewesen war, war er noch halbwegs normal gewesen, zwar geizig und kleinlich, aber nicht komplett durchgedreht.

Verkehrte Welt – der reiche Vater in der Riesenvilla fühlte sich am ärmsten, und die Kinder, die objektiv viel ärmer waren, waren es zufrieden. Na, sie selbst jedenfalls.

Aber heute nicht. Heute nervte die Winzbude. Überall lag Zeug herum, weil einfach zu wenig Platz war. Die Ordner standen schon auf dem Boden, der Schreibtisch war so mit Papierstapeln bedeckt, dass sie das letzte Erdkunde-Ex auf ein Klemmbrett gepackt und es im Bett sitzend korrigiert hatte. Unhaltbare Zustände, sie brauchte eine größere Wohnung.

Und endlich eine richtig wirkungsvolle Diät. Sie war gut einsachtzig groß, ja, aber sie wog auch gut über neunzig Kilo, und außer zwei schwarzen Hosen passte fast nichts mehr. Obwohl sie im Lauf dieses Jahres schon Punkte gezählt, eine Blutgruppendiät gemacht, eine Zeitlang täglich gejoggt und es vor kurzem erst mit LowFat versucht hatte. Deswegen hatte sie seit Januar auch schon drei Pfund zugelegt.

Und was wollte sie noch, falls die gute Fee mal vorbeikam? Mehr Geld? Genau, damit sie sich endlich mal eine größere Wohnung zulegen konnte.

Hilde schlug sich energisch auf die Knie und stand auf. Auf die gute Fee konnte sie lange warten. Action war angesagt! Erstmal Mama anrufen.

Ihre Mutter wusste schon Bescheid und war halb erleichtert, halb geknickt, dass Hilde die Angelegenheiten mit dem Krankenhaus in die Hand genommen hatte.

„Dann kümmere ich mich um die Trauerfeier. Arme Martha… Neunundsechzig ist doch wirklich kein Alter… Ewiger Frieden, hast du gesagt? Ach ja, da waren wir mit Oma damals auch, glaube ich. Und die Sterbeurkunden… Papa ist schon ganz nervös… der Arme!“

Das fand Hilde nun gar nicht. Papa war wirklich nicht arm, er bildete es sich nur ein. Sozusagen finanzielle Hypochondrie, wenn es so etwas gab. Immerhin war es nicht schlecht, wenn nun endlich Mama das Nötigste erledigte, denn sie selbst hatte weiß Gott noch etwas anderes zu tun.

Aufräumen zum Beispiel!

Sie stapelte den herumliegenden Kram etwas unentschlossen auf, aber davon wurde es leider kaum besser. Es gab eben einfach zu wenig Platz…

Nein, so hatte das Ganze wenig Sinn. Vielleicht würde Tante Martha ihr ja ein paar Mäuse hinterlassen und sie könnte sich ein neues Regal - Unsinn. Wo sollte sie das denn noch hinstellen? Die Wohnung war einfach zu klein

Wenn sie ordentlich sparte, könnte sie sich in fünf Jahren vielleicht wirklich eine Wohnung… in einer nicht allzu anspruchvollen Gegend, Selling vielleicht… noch unter fünfunddreißig eine Wohnung gekauft? Dafür lohnte es sich doch, hier noch ein bisschen auszuhalten.

Aber aufräumen musste sie doch noch. Und sich etwas einfallen lassen, um wenigstens die LowFat-Pfunde wieder loszuwerden.

Zu trinken war auch nichts mehr im Haus. Kein Diet Coke… Und zum Einkaufen hatte sie jetzt wirklich keine Zeit.

Kurz entschlossen füllte sie eine der herumstehenden leeren Flaschen mit kaltem Leitungswasser und trank gleich die halbe Flasche leer. Gar nicht schlecht. Wenn sie auf Wasser umstiege… zwei Flaschen pro Tag… mindestens einen Euro fünfzig – im Jahr bestimmt 500 Euro. Immerhin doch! Und die lästige Flaschenschlepperei hätte sich auch erledigt.

Außerdem hatte sie irgendwo gelesen, dass Süßstoffe dick machen sollten. Zucker aber auch – also sollte sie am besten nur noch Wasser trinken. Und da das Leisenberger Leitungswasser völlig in Ordnung war: billig, bequem und gesund…

Schon mal eine gute Idee.

Aber dabei konnte es nicht bleiben. Das Regal sah einfach furchtbar aus. In einem solchem Saustall konnte man doch nicht arbeiten!

Hilde setzte sich auf das ungemachte Bett und betrachtete das Regal sinnend. Brauchte sie all diesen Krempel denn wirklich noch? Vielleicht sollte sie das Ganze mal gründlich aufräumen, so wie es diese ganzen Entrümpelungsratgeber empfahlen?

Ächzend erhob sie sich und schaute auf die Uhr: Fünf - kein Grund, die Aktion auf morgen zu verschieben!

Im Regal befanden sich gefühlt ungefähr dreihundert Bücher, mehrere Stapel von Unterlagen, zehn Ordner (die anderen standen auf dem Boden überall herum), ein Stifteköcher, ein Drucker, eine Mehrfachsteckdose, an der Laptopkabel und Drucker hingen, das Modem, ein Stapel Zeitschriften, ihr Handyladegerät, der überdimensionierte Locher, ein Haufen leere Klarsichthüllen, die sich sofort auf den Boden ergossen und mühsam wieder eingesammelt werden mussten, ihr Schlampermäppchen, ein Stapel ungeöffneter Briefe und ein neckisches rosa Adressbuch.

Hilde packte alles auf den Schreibtisch, holte einen Klappeinkaufskorb für das Altpapier, drehte das Radio auf und setzte sich.

Überflüssige Kopien, alberne Krimis, ganze Mengen von noch alberneren Diätzeitschriften – alles wanderte in den Korb; die Briefe wurden geöffnet – Bankkrempel, Krankenkasse, Autoversicherung, Werbung, Bettelbriefe – und teils entsorgt, teils in den richtigen Ordner geheftet.

Schon besser. Hilde streckte sich und betrachtet zufrieden die Altpapierkiste. Ihr Blick verfinsterte sich, als sie das Chaos auf dem Schreibtisch registrierte. Verdammter Kleinkram!

Aber im Schrank musste doch noch - genau! Hinter einem Stapel unbefriedigend gebügelter und gefalteter T-Shirts fand sich eine runde, schwarz-weiß karierte Pappschachtel, die bis auf eine leere und längst ausgeduftete Parfumflasche und ein affiges Stofftaschentuch mit gelblichen Liegekanten leer war. Hilde kippte diesen Inhalt in den Müll, klopfte den Staub aus der Schachtel und fegte allen brauchbaren Kleinkram hinein, bis zum Handyladegerät. Damit war der Schreibtisch bis auf den noch abzuheftenden Kram eigentlich leer.

Eigentlich.

Also, ran an die Ordner! Schon der erste, Geographie 7, enthielt eine Menge doppeltes und unnützes Zeug. Hilde sortierte aus, heftete wichtigere Unterlagen ein, platzierte Extemporalien und Notenlisten hinten (hatte sie tatsächlich schon sechsmal eine Siebte gehabt?) und warf eine Menge Papier in den Korb.

Schon fast halb acht. Heute wurde sie mit dem Kram nicht mehr fertig, das war mal klar. Aber vielleicht wenigstens noch zwei von den aktuellen Ordnern? Mathe 10 und Mathe 12. Wenigstens die beiden. Und vorher mal das Regal durchputzen!

Das Durchputzen ging schnell – den Lappen konnte sie hinterher allerdings wegwerfen. So viel Staub? Wann hatte sie das Regal zum letzten Mal ausgewischt? Musste Jahre her sein.

Die beiden aktuellen Ordner machten aber direkt Spaß – da konnte man so richtig Altpapier entsorgen. Wieso hatte sie denn von jeder Schulaufgabe zehn Kopien aufgehoben? Die Kopiervorlage in der Hülle reichte doch wohl?

Sobald alles ordentlich verräumt war und die drei fertigen Ordner schön im Regal standen, nahm Hilde sich die überall herumliegenden Bücher vor. Okay, ein Regalbrett für Schulbücher, zwei für alle anderen. Sie sortierte sie in drei Stapel – brauchbar, naja und „Weg damit“ und stopfte dann die mindestens hundert Bücher, die als „Weg damit“ aufgelaufen waren, in zwei große Tragetaschen. Morgen Nachmittag in die Lesefabrik, vielleicht waren das noch mal fünfzig Euro? Die Bücher sahen ja ganz anständig aus, dass sie Mist waren, merkte man ihnen von außen schließlich nicht an.

Die mittelmiesen Bücher sortierte sie ordentlich in die beiden obersten Regalfächer und schob sie ganz nach hinten, dann kamen die anständigen Bücher davor.

Sah gar nicht schlecht aus.

Darunter (richtig in Griffhöhe) die Schulbücher, wieder darunter die Mäppchen für die einzelnen Klassen, daneben der Drucker, der Laptop und ein paar DVDs mit Mathe- und Geographie-Software. Ein Fach war noch frei. Hilde schob die Kiste mit dem Kleinkram dort hinein und stellte den Ordner mit dem Privatkrempel daneben.

Die unaufgeräumten Ordner kamen vorläufig auch in dieses und das allerunterste Fach – und damit sah das Zimmer eigentlich ganz gut aus.

Bis auf das ungemachte Bett und das Bewusstsein, dass der Schrank im Flur überquoll und der Kram in der Kochnische auch mal eine Durchforstung vertragen konnte.

 

Aber zunächst mussten die unnützen Bücher weg! Hilde fuhr mit den Tüten (und einer weiteren mit allen leeren Colaflaschen) nach unten in die Tiefgarage und packte alles in ihren Kofferraum. Morgen nach der Schule war das Zeug dann weg.

Oben sah es tatsächlich schon viel besser aus – obwohl der Schreibtisch noch nicht leer war und sie genau wusste, dass nur drei Ordner anständig aufgeräumt waren. Viertel nach neun… einer ging noch. Vielleicht Mathe 9? Oder Geographie 11?

Sie zog sich aus, vermied den Blick in den Spiegel (den Schwabbel musste sie nicht täglich sehen), streifte das lässige Riesennachthemd über, schminkte sich ab, putzte sich die Zähne und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Mathe 9 und Geographie 11 gingen beide gut voran, so gut, dass sie sich um kurz nach zehn noch tatendurstig nach einem weiteren umsah und schließlich auch noch Mathe 6 entrümpelte. Danach musste sie ohnehin aufhören, denn der Altpapierkorb quoll schon über und im Nachthemd konnte sie ihn ja schlecht ausleeren gehen.

Tief befriedigt schüttelte sie ihre Bettdecke auf und schlüpfte darunter. Wenn sie noch ein paar Tage so weiter machte, hätte sie in der Wohnung wieder den Überblick. Bei einer so kleinen Wohnung war das schließlich notwendig!