Feine Damen. Kriminalroman

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Feine Damen. Kriminalroman
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Feine Damen. Kriminalroman

Elisa Scheer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2019 Elisa Scheer/R. John (85540 Haar)

www.elisa-scheer.de

ISBN 978-3-748568-65-0

1

Coco hatte das Ehepaar Bernstetter freundlich zur Tür begleitet und sah ihnen nun einen Moment lang gedankenvoll nach. Ob die beiden den Bungalow in Leiching-Süd kaufen würden? Tadellose Bausubstanz, allerdings ein sehr kreativer Grundriss… Sie hätte die Hütte nicht haben wollen, denn abseits vom nötigen Maklergeschwätz war sie, wie Coco fand, völlig verbaut. Der Frau hatte es aber gefallen, dass man sofort im Wohnzimmer stand und das Gästeklo erst hinter dem Esszimmer zu finden war. Wer hatte bei den beiden wohl das Sagen?

1,1 Millionen… da fiele etwas Ordentliches für sie selbst ab, wenn das Geschäft zustande käme. Und warum auch nicht? Gewöhnungsbedürftig war das Haus, aber prima in Schuss und eine solide Anlage. Nicht einmal wahnsinnig teuer, wenn man das große Grundstück und die erstklassige Lage in Betracht zog!

Immomax verkaufte bekanntermaßen auch keinen Schrott, mit so etwas ruinierte man sich nur den Ruf, fand Max, der Inhaber - Max Freilinger, der sich als Immobilienkönig von Leisenberg sah, Was allerdings war schon Leisenberg?

Gut im Geschäft waren sie aber wirklich, vor allem mit noblen Anwesen in Leiching, Waldstetten, Rothenwald und im Waldburgviertel. Hohe Preise, hohe Courtagen…. Und die Preise stiegen ja ständig, nicht nur hier….

Sie warf noch einen Blick in das großzügige offene Treppenhaus mit den schrägen Glasfassaden. So möchte ich auch wohnen, sollten die Kunden sofort denken. Das hoffte Max wenigstens.

Sie wandte sich ab, weil drinnen ihr Smartphone brummte. Oh, Whatsapp!

Heute Abend 19:00 Gruselsitzung, las sie. Geschrieben hatte Hel.

Ach, Mist! Hatte Claudia wieder ein Tribunal einberufen? Was war es wohl dieses Mal?

Keine von ihnen dreien wusste, was diese Kuh sich davon versprach, immer wieder auf ihren Stieftöchtern herumzuhacken – und mittlerweile auch auf ihrer eigenen Tochter, die sich Cocos Meinung nach recht nett zu entwickeln begann.

Keine hörte auf sie, Papa reagierte milde gereizt und Leander benahm sich seiner Mutter gegenüber noch unverschämter als alle anderen. War diese Person eigentlich nicht lernfähig? Sie war doch eigentlich nicht gar so beschränkt? Warum brach sie immer wieder einen Krach vom Zaun?

Sie schrieb zurück Unser Dresscode? Abgeranzt, schwarz oder Paris Hilton? und tippte auf Senden.

Mal sehen, was Hel vorschlug – oder würde Jack sich zuerst rühren? Die verkürzten Namen waren auch etwas, was Claudia maßlos ärgerte, aber sie hatten sich untereinander noch nie anders genannt und auch keinen Grund gesehen, dies zu ändern, nur weil die blöde Kuh Damen der Gesellschaft aus ihnen machen wollte.

Welche Gesellschaft denn? Ihnen allen war Waldstetten doch herzlich egal, sie wohnten doch ohnehin nicht dort. Viel zu langweilig.

Sie sortierte die Unterlagen, die sie den Bernstetters vorgelegt hatte, wieder in die Mappe zurück und räumte ihren Schreibtisch auf, wobei sie auf ein weiteres Brummen ihres Telefons wartete.

Da, endlich. Ah, Jack war schneller gewesen! Abgeranzt mit Hippie-Elementen, schlug sie vor. Ich hab da eine Pumphose aufgetan, da kippt die Olle aus den Latschen.

Sie schrieb sofort zurück: Gute Idee. Ich hab da auch noch was Uraltes…

Und wenn sie ganz großes Glück hatten, trafen sie in Waldstetten noch irgendwelche spießigen Nachbarn und konnten eine kleine Show abziehen…

Ihr Büro sah perfekt aus; sie schloss es ab und ging Max Bericht erstatten. Der lobte ihr Verhandlungsgeschick und reichte ihr ein weiteres Projekt, dieses Mal in Rothenwald. „Da ist nur die Adresse gut, die Bude hat´s schwer nötig. Und Denkmalschutz.“

„Klasse… Wen hasse ich so sehr, dass ich ihm das andrehen will?“

Max lachte. „Hau schon ab ins Wochenende – und denk dir bis Montag eine Strategie aus!“

Das sollte man sich nicht zweimal sagen lassen! Sie fuhr nach Hause nach Mönchberg und wühlte sich dort durch das unterste Fach im Kleiderschrank. Dort bewahrte sie alten Kram, Verkleidungen und Wochenendlumpen auf und ganz hinten fand sie tatsächlich einen wahnsinnigen Rock in Bollywood-Farben, mit üppigen Volants und sehr erfreulich verknittert. Wo hatte sie denn diese weiße bestickte Baumwollbluse…

Das Handy meldete sich wieder – Hel: Ich hätte ein Paillettenkleid im Stil der Achtziger, vom Flohmarkt. Schade…

Coco versprach: Beim nächsten Mal. Und Löwenmähne!

Hel: Logisch. Wie in dieser ollen Serie!

Coco schickte ein breit grinsendes Smiley zurück und suchte weiter nach der lappigen Bluse – da war sie ja!

Dazu Flipflops? Nein, damit konnte man so schlecht fahren… aber irgendwo mussten doch noch diese Stoffdinger sein, weiß?

Hinter den anständigen Schuhen gab es gleich zwei Paar – schwarz und annehmbar das eine, das andere weiß und unfassbar schmutzig. Die waren perfekt!

Sie setzte sich aufs Bett und schüttelte über sich selbst den Kopf: Sechsunddreißig Jahre alt, eine angesehene Immobilienmaklerin mit Uniabschluss, in einer sehr angenehmen Beziehung, aus ordentlicher Familie (das war wohl am wenigsten von Bedeutung) – und sie benahm sich wie mit vierzehn…

Hel und Jack übrigens genauso. Die drei Pubertiere… He, guter Titel, wie die drei Musketiere! Sie griff sofort wieder zum Telefon und teilte ihren Schwestern diesen Einfall mit. Umgehend erhielt sie zwei grinsende Smileys.

Kurz vor sechs – sie sollte duschen und sich in diese Hippiekluft werfen. Und ein möglichst windiges Täschchen finden…

Um sieben parkte sie vor dem Haus ihres Vaters und betrachtete erst einmal leicht kopfschüttelnd die Fassade zur Straße hin: Was machten die albernen Buchsbaumkübel auf beiden Seiten der Haustür? Und diese Blumenrabatte auf der Seite – wie in Versailles! Hatte Claudia jetzt auch noch einen Gärtner? Sie hatte sich doch wohl nicht die zarten Fingerchen schmutzig gemacht?

Resigniert klingelte sie und drückte dann das schmiedeeiserne Tor auf.

Die Haustür öffnete sich zögernd und Pat erschien.

„Scharf“, sagte die sofort, „aber ich glaube, sowas hab ich auch noch irgendwo… Ach ja, und die gnädige Frau ist im Salon.“

Coco steuerte den Salon, also das Wohnzimmer, an, wo auf zwei weit voneinander entfernten Samtsofas Papa mit einem E-Book-Reader und Claudia mit einem Hochglanzmagazin saßen.

Claudia sah auf. „Du lieber Himmel!“

„Hallo, Claudia. Papa…“ Sie umrundete Claudias Sofa und küsste ihren Vater auf die Wange. „Was liest du da Schönes?“

„Einen Krimi, meine Süße. Du siehst sehr bunt aus.“

„Ja, zur Feier des Tages.“

Ihr Vater unterdrückte ein Prusten und klopfte auf den Platz neben sich, während Claudia einen entrüsteten Laut von sich gab. „Wenn du immer so herumläufst, wundert es mich nur, dass du deine Arbeit noch nicht verloren hast!“

Coco schüttelte den Kopf. „Mach dir da mal keine Gedanken. Ich kleide mich immer entsprechend dem Anlass.“

„Was soll das heißen?“

Coco wurde einer Antwort enthoben, denn es läutete wieder und Jack trat auf: Pumphose mit Blumendruck in allen Farben des Regenbogens, dazu ein schwarzes Spitzenshirt und eine Handvoll bunter Holzperlenketten.

„Jack, sind das Birkenstock?“

„Mehr oder weniger, warum?“

„Schauen scharf aus“, log Coco mit einem Seitenblick auf Claudia.

„Ein geschmackloser Aufzug“, rügte Claudia sofort. „Warum könnt ihr euch nicht wie Damen kleiden?“

„Wie sollte das aussehen?“

„Um die Tageszeit wäre ein Cocktailkleid angemessen.“

Jack prustete los und Coco erkundigte sich: „Wie sieht so etwas aus? Du trägst ja selbst keins – wolltest du uns nicht ein Vorbild sein? Gibt es das überhaupt noch?“

„Blödsinn“, meinte Jack, „nur noch in Claudias Buch über den vornehmen Lebensstil. Erschienen 1960 oder so. Claudia, das ist bald sechzig Jahre her, kauf dir halt mal ein neues Buch!“

„Ach, Jack – schau doch hin – sie liest ja keine Bücher, nur Promiklatschzeitschriften. Aber vielleicht sind da ja Cocktailkleider drin…“

Dr. Martens hüstelte kurz und sah seine Tochter dann streng an. „Coco, lass es jetzt.“

„Sie hat aber doch gar nicht angefangen“, ereiferte sich Jack prompt.

„Trotzdem. Man kann auch einmal über etwas anderes reden!“

In diesem Moment schlenderte Leander herein, nickte seiner Mutter müde zu, warf sich auf ein freies Sofa und fuhr sich elegant durch die durchgestylte Frisur. „Ihr schaut aus wie heute in der Schule“, teilte er seinen Halbschwestern dann mit.

„Ach ja?“

„Bad Taste Day.“ Er grinste breit und schien leicht erstaunt, als Coco und Jack lachten. Claudia sah kopfschüttelnd von ihrer Klatschzeitschrift auf und zog dann ihre Uhr zu Rate. „Wo bleibt Helene, eure Schwester?“

„Oh, danke“, antwortete Jack. „Wir wären sonst nie darauf gekommen, dass Hel unsere Schwester ist.“

„Und wo ist sie?“

„Keine Ahnung. Vielleicht macht sie sich noch hübsch?“

„So wie ihr? Ihr wisst wirklich nicht, was ihr eurer Herkunft schuldig seid…“

Dieses Mal gab Dr. Martens ein warnendes Grunzen von sich, das ganz offensichtlich seiner Frau galt, denn die murrte halblaut: „Ist doch wahr!“

„Wie eine Zeitreise“, murmelte Jack.

„Eigentlich ganz lustig“, gab Coco ebenso leise zurück.

Schließlich tauchten gleichzeitig Pat und Hel auf und Claudia erhob sich. „Na endlich! Warum kommt ihr so spät? Euer Vater ist schon ganz ungeduldig.“

 

Coco drehte sich zu Papa um, der gerade milde erstaunt aufsah, diese Behauptung aber nicht weiter kommentierte.

„Es ist zwei Minuten vor sieben, was willst du denn?“, fragte Hel nicht ganz zu Unrecht.

„Du kommst wohl auch nur, um dich hier gratis durchfüttern zu lassen? Möchtest du dann auch direkt nach dem Dessert wieder gehen?“

Hel verdrehte ihre perfekt geschminkten Augen zur Decke. „Ich komme, um Papa zu sehen und weil du wieder mal einen Befehl herumgeschickt hast. Das Essen ist mir ziemlich egal.“

„Und wo ist dein Mann?“

„Hat was Besseres vor.“

„Unerhört!“

„Claudia, nun lass es doch“, mahnte ihr Mann. „Kein Wunder, dass die Kinder sich so benehmen, wenn du sie provozierst.“

„Also, das ist doch… Pat, was hast du denn da Unmögliches an? Wenigstens meine Tochter sollte doch etwas mehr Stilgefühl haben!“

„Woher das denn?“, murmelte Coco nicht gerade leise, was ihr einen sehr giftigen Blick eintrug.

Pat, die mittlerweile pinkfarbene Jeans und ein grell oranges T-Shirt trug, zuckte die Achseln.

„Ich finde, du passt super zu Coco, mit diesen Bollywood-Farben“, fand Jack. „Es wird schön bunt bei Tisch – und eigentlich habe ich direkt ein bisschen Hunger.“

„Tatsächlich?“, fragte Pat und ließ sich zwischen Coco und Hel aufs Sofa fallen. „Ich habe hier eigentlich selten Hunger. Mamas neue Köchin ist grauenhaft. Wieso hast du die Frau Ungstetter eigentlich rausgeworfen?“

„Sie wollte eine Gehaltserhöhung“, antwortete Claudia Martens ärgerlich. „Unverschämt, was Hauspersonal heutzutage verlangt!“

„Personal ist bekanntlich der einzige echte Luxus heutzutage“, ließ sich Dr. Martens vernehmen, ohne den Blick vom Reader zu wenden.

„Aber das ist doch eine Notwendigkeit!“, entrüstete sich Claudia. „Ein Grundbedürfnis!“

„Vor hundert Jahren vielleicht“, spottete Coco. „Mir scheint, du bist tatsächlich eine Zeitreisende. Deine übrigen Ansichten würden recht gut dazu passen.“

Jack und Pat kicherten beifällig, Hel seufzte. „Was ist denn jetzt?“

„Pat, sieh mal nach, wie weit Frau Mohr ist.“

„Wenn´s sein muss?“ Pat arbeitete sich theatralisch ächzend aus dem Sofa empor und schlenderte zur Tür.

„Und bring mir ein Bier mit!“, befahl Leander.

Sie drehte sich um. „Du kannst mich mal, hol´s dir doch selber!“

„Pat!!“

„Pat hat ganz recht“, fand Jack. „Der kleine Pascha kann ruhig selber gehen. Lässt deine Freundin dir so etwas durchgehen, Leander?“

„Leander hat doch noch gar keine Freundin!“, empörte sich Claudia prompt. „Doch nicht mit sechzehn!“

„Wann denn sonst?“, fragte Coco. „Aber Mütter wissen bekanntlich auch nicht alles, gell, Leander?“

Der grinste zwar, hütete sich aber, etwas zu sagen.

Pat kam zurück und vollführte vor ihrer Mutter einen Hofknicks. „Madame, il est servi…“

Alle lachten – außer Dr. Martens, der noch damit beschäftigt war, seinen Reader herunterzufahren, und Claudia, die vor Ärger sprachlos war.

Man begab sich zu Tisch; wie üblich rotteten sich die Stieftöchter auf einer Seite zusammen - so hatte es Claudia wenigstens einmal formuliert. Sie hatte festgelegt, dass die Dame des Hauses an der einen Stirnseite und der Hausherr auf der anderen zu sitzen hatte, so dass die andere Längsseite Claudias leiblichen Kindern blieb, die dort früher erbitterte Kämpfe unter dem Tisch ausgefochten hatten und auch heute manchmal noch nicht ganz darüber erhaben waren.

Frau Mohr servierte die Suppe und stapfte grußlos wieder hinaus; Claudia schöpfte sich Blumenkohlcreme mit Kräutercroutons in ihren Teller und reichte die Terrine dann weiter – an ihre Kinder, ihren Mann und schließlich die Stieftöchter, die über diese unglaublich subtile Art der Geringschätzung grinsten.

Hel sagte allerdings doch, als sie an der Reihe war, in die Terrine spähend: „Bisschen wenig, was? Dachtest du, wir kommen nicht? Oder sollen wir aschenputtelmäßig hungern?“

Coco gluckste, Jack fügte hinzu: „Und pro Nase ein Crouton… nein, Claudia hat mindestens zehn…“

Leander lenkte ab, indem er seiner Schwester zwei Croutons klaute. Die regte sich nicht auf, sondern sagte: „Du kannst sie alle haben, die schmecken ranzig. Wie lange war denn die Schachtel schon abgelaufen?“

Claudia ließ ihren Löffel in den Teller fallen, so dass die Suppe spritzte und Flecken auf ihrer Seidenbluse hinterließ. „Da seht ihr, was ihr gemacht habt!“

„Wieso wir?“, fragte Coco. „Du hast den Löffel in die Suppe geworfen, was hast du erwartet?“

„Ich möchte von euch nichts mehr hören! Ihr seid so unhöflich, aber das ist vielleicht kein Wunder, nach dieser Erziehung! Euer Vater ist so enttäuscht von euch!“

„Claudia, hör auf damit!“ Dr. Martens funkelte sie über den Tisch hinweg an, warf dann aber auch seinen Töchtern einen warnenden Blick zu. „Und ihr benehmt euch eurem Alter entsprechend. Ich weiß, dass ihr das könnt!“

„Solange wir nicht provoziert werden“, murmelte Jack.

„Jacoba, das gilt auch für dich!“

Coco aß schweigend und unlustig. Die Croutons waren tatsächlich sehr alt und schmeckten ranzig. Und was sollte das mit der Erziehung? Mama hatte ihre Mädchen durchaus gut erzogen! Na, besser als diesen kleinen Rotzlöffel Leander auf jeden Fall…

„Leander, ich hatte heute eine E-Mail von deiner Schule“, verkündete der Vater in diesem Moment.

Pat prustete in ihre Suppe.

„Wieso du?“, fuhr Claudia auf.

„Der Aussage dieser Frau Suttner zufolge, weil du auf ihre Mails nicht reagiert hast. Ich höre also, dass Leander nur recht unregelmäßig am Unterricht teilnimmt. Leander?“

„Fällt doch dauernd aus“, murmelte der.

„Nein, ganz offensichtlich nicht. An der Mail hing eine Liste sämtlicher Fehlzeiten. Siebenundzwanzig Tage und hundertvierundvierzig einzelne Stunden. Du schwänzt also.“

„Das ist in der Oberstufe doch ganz normal.“

„Nein, ist es nicht. Wenn das erlaubt wäre, würde die Schule nicht so sorgfältig über deine Fehlzeiten Buch führen. Frau Suttners Hinweis war auch recht interessant, dass man in den letzten Jahren fast bei allen, die durchs Abitur gefallen sind, eine sehr lückenhafte Anwesenheit feststellen konnte. Und ganz ehrlich, mein Sohn – dass du ein Genie wärst, ist mir bisher noch nicht direkt aufgefallen. Du wirst also etwas Fleiß aufwenden müssen – und dazu regelmäßig am Unterricht teilnehmen. Mit sofortiger Wirkung hast du übrigens Attestpflicht.“

„Das darf die gar nicht!“, fuhr Claudia auf, während ihr Söhnchen mürrisch dreinsah.

„Doch, darf sie“, antwortete der Vater. „Wer, wenn nicht sie, sollte das denn entscheiden? Mit später kommen und zum Ausgleich früher gehen ist jetzt nichts mehr. Wenn du die Schule früher verlässt, gehst du auf der Stelle zum Arzt.“

„Und der nimmt dir dann immer wieder mal ein bisschen Blut ab“, prophezeite Coco.

Leander erbleichte.

„Warum das denn?“, wollte Pat wissen, die als frischgebackene Abiturientin natürlich über Fehlzeiten erhaben war.

„Na, man muss dieser Schulschwäche doch auf den Grund gehen? Vielleicht ist es Blutarmut? Oder sonst eine Krankheit? Da bräuchtest du doch eine Therapie?“

Leander murmelte etwas, was wie „Blöde Weiber“ klang. Sein Vater fuhr auf: „Du isst jetzt in der Küche weiter. Dein Benehmen ist unter aller Kanone.“

Leander trollte sich murrend.

Claudia sah giftig in die Runde. „Ihr habt den armen Jungen provoziert! Aus lauter Missgunst!“

„Ach“, entgegnete Jack, „was sollten wir ihm denn neiden? Seine Manieren? Dass er immer noch zur Schule geht? Möchte eine von euch etwa noch mal in die Pubertät zurück?“

Ihre Schwestern lachten abwehrend.

„Er ist der Sohn und Erbe!“, triumphierte Claudia, was ihren Mann verblüfft blinzeln ließ.

Coco prustete in ihren halbleeren Teller. „Hast du das aus einer deiner geliebten Seifenopern? Vielleicht liest du mal nach, was das bundesdeutsche Erbrecht tatsächlich vorsieht.“

„Was?“

Dr. Martens nickte. „Caroline hat vollkommen Recht. Alle erben zu gleichen Teilen. Ich hätte Leander durchaus gerne zu meinem Nachfolger, aber dazu braucht er ein anständiges Abitur und entweder ein BWL-Studium oder eine gute Ausbildung zum Immobilienkaufmann. Und das sehe ich noch lange nicht!“

„Ach, du möchtest ihn wohl lieber enterben und deine gierige Tochter zu deiner Nachfolgerin machen?“

„Das verbitte ich mir“, warf Coco kalt ein, „ich bin mitnichten gierig und mit meiner Position bei Immomax sehr zufrieden. Nach Crommer ist das immerhin der zweitgrößte Immobilienmakler in Leisenberg.“

„Heuchelei“, murmelte Claudia und beobachtete kritisch, wie Frau Mohr eine Bratenplatte, eine Schüssel Salzkartoffeln und eine Platte mit grünen Bohnen auf den Tisch stellte und die Suppenterrine im Gegenzug abräumte.

„Glaub doch, was du willst.“

„Mit dem, was du hier am Essen sparst, kannst du Leander dann ja eine eigene Firma kaufen“, kommentierte Hel mit kritischem Blick auf den Hauptgang. „Das reicht doch schon wieder nicht für alle!“

„Wirklich, Claudia, etwas wenig scheint es schon zu sein“, merkte auch Michael Martens an.

„Ihr habt wohl extra das Mittagessen eingespart?“, fuhr Claudia ihre Stieftöchter an und tat sich selbst großzügig Braten und Kartoffeln und erheblich weniger Gemüse auf.

„Nehmt euch selbst“, forderte sie die anderen auf.

„… wenn es unbedingt sein muss. Nächstes Mal bringe ich mir eine Leberkässemmel mit“, murmelte Jack. Pat kicherte. „Regt euch nicht auf, ich sehe schon von weitem, dass die Bohnen matschig sind. Und die Bratensauce ist mit Mehl angedickt. Sieht man ja schon an der Farbe. Also, da koche ich ja besser!“

„Willst du das übernehmen?“

„Was würdest du denn zahlen?“

„Zahlen??“ Das klang regelrecht entsetzt.

„Logisch. Gute Arbeit ist auch gutes Geld wert und wie wir vorhin schon festgestellt haben, sind Hausangestellte wirklich teuer. Sagen wir, netto dreitausend plus Kost und Logis?“

Hel und Jack prusteten und Coco grinste breit.

Claudia blinzelte benommen. „D-dreitausend? Bist du wahnsinnig? So gierig wie diese drei dort? Außerdem habe ich das vorhin natürlich nicht ernst gemeint, du kannst doch nicht ernsthaft Köchin werden wollen?“

„Warum denn nicht?“

„Ich bitte dich, Patricia! Eine Patricia Martens aus Waldstetten wird doch nicht Köchin!“

„Warum nicht?“, wollte Jack wissen.

„Dass ihr für gesellschaftliche Nuancen kein Gespür habt, wundert mich nun nicht.“

„Die Fünfziger lassen grüßen“, spottete Coco und schob ihren Teller von sich. „Der Braten ist übrigens kräftig versalzen, offenbar ist Frau Mohr schwer verliebt.“

„Stimmt!“ Pat und Hel stellten das Essen ebenfalls ein. Der Hausherr beobachtete das Dauergezänk halb amüsiert, halb gereizt, essen tat er aber auch nicht mehr.

„Wir könnten zum Markt fahren und im San Carlo noch ein nettes Eis essen“, schlug Hel vor.

Das hielten alle Mädchen für eine sehr gute Idee; Claudia schnaufte natürlich entrüstet. „Und der Dialog von Früchten?“

„Du meinst, Obstpampe über den Teller geschmiert?“, entgegnete Coco und wartete interessiert auf die Reaktion, die prompt kam: „Ihr seid solche Banausinnen! Das ist das angesagte Dessert!“

„Ja, in den Achtzigern. Hab ich schon mal gelesen. Du hast Zurück zur Natur verpennt“, behauptete Jack sofort und Pat ergänzte: „… neben ungefähr dreißig anderen Trends.“

Claudia ließ schon wieder vor lauter Ärger ihr Besteck fallen und Bratensauce gesellte sich zu den Suppenflecken auf ihrer Seidenbluse.

„Michael! Sag doch auch mal was! Deine Töchter sind so schlecht erzogen!“

„Unsere gemeinsame Tochter ist kein Quäntchen besser, meine Liebe“, war die gleichmütige Antwort. „Du lieferst einfach unwiderstehliche Steilvorlagen, da darfst du dich nicht wundern.“

Das war offenbar zu viel. Claudia erhob sich, warf ihre Damastserviette in die Bratensauce und rauschte hinaus.

„Und ihr müsst ja auch nicht auf jede Provokation einsteigen! Oder habt ihr es so nötig, euch eure Überlegenheit zu beweisen?“

„Wir könnten uns doch einmal ganz normal mit oberflächlicher Höflichkeit unterhalten, ohne Gespinne, das sie aus dem Fernsehen hat, und ohne Gerede darüber, dass wir gierig, unerzogen und eine Riesenenttäuschung sind. Wir fangen schließlich nie an, aber kaum nimmt man sich vor, dieses Mal freundlich zu bleiben, kommt sie mit etwas derartig Grobem um die Ecke…“

 

„Ein bisschen Selbstachtung musst du uns schon auch zugestehen, Papa“, fügte Hel hinzu und Pat nickte eifrig. „ich hätte allerdings noch gerne gewusst, was ich statt Köchin beruflich machen sollte…“

„Ich bitte dich“, antwortete Coco. „Drei Semester Kunstgeschichte oder so was; vielleicht ein bisschen in der Schweiz oder in Frankreich. Da gibt´s Adelige.“

„In der Schweiz nicht!“

Darüber wurde nun leidenschaftlich und ohne besondere Sachkenntnis gestritten; der Vater schüttelte schwach lächelnd den Kopf.

Frau Mohr brachte schweren Schrittes die Fruchtpampe; alle Schwestern leiteten ihre Teller zu Leander in der Küche um, nur Coco bot ihren dem Vater an, der wieder schwach lächelte und murmelte: „Jedes Mal dieses beleidigte Hinausrauschen… geht ihr jetzt wirklich Eis essen?“

„Komm doch mit! Leander muss bestimmt Hausaufgaben machen – und Claudia schmollt in ihrem Boudoir…“

„Danke, aber eure Mädelsgespräche möchte ich nicht stören. Viel Spaß beim Eisessen!“

Sie hatten sich auf der Terrasse des San Carlo einen der letzten freien Tische geschnappt und üppige Eisbecher bestellt, je nach Geschmack eher Schoko-Nuss oder eher Früchte (nicht als Pampe!), mit oder ohne Sahne, Schokosauce oder Kokosraspeln, alle aber mit Nougatwaffeln, und löffelten nun zufrieden.

„Haben wir uns verdient“, fand Pat. „Das Essen wird von Mal zu Mal schrecklicher.“

„Meinst du Claudia oder den Fraß?“, erkundigte sich Coco angelegentlich und biss knurpsend in ihre Waffel.

„Eher den Fraß. Die Mohr kocht scheußlich, ich esse normalerweise schon gar nicht mehr in Waldstetten, schließlich gibt es überall Pizza oder Leberkässemmeln.“

„In deinem Alter kann man das auch noch essen“, seufzte Hel mit einem neidvollen Blick auf die schlanke Figur der Jüngsten. „Ich glaube, ich lege jedes Jahr zwei Kilo zu.“

„Dann lass halt die Sahne weg“, mahnte Jack mit einem beziehungsreichen Blick auf den hochgetürmten Eisbecher ihrer Schwester.

„Die ist doch das Beste!“

„Dann beklag dich nicht“, meinte Coco, genüsslich ihren Löffel ableckend. „Schaut mal, da kommt ein hübsches Kerlchen vorbei!“

Alles schaute.

Tatsächlich: hochgewachsen, schlank, gut geschnittenes Gesicht, glänzendes Haar, keine sichtbaren Tattoos, weißes Hemd und unzerrissene Jeans. Vielleicht Ende zwanzig.

Der junge Mann kam näher, warf einen Blick auf den Tisch der vier Schwestern, stutzte und machte dann eiligst, dass er weiterkam. Coco wandte sich ihren Schwestern zu und stellte erstaunt fest, dass Hel und Jack ebenfalls etwas blass geworden waren.

„Was habt ihr denn? Hat er euch beiden so gut gefallen?“

Hel und Jack sahen sich kurz an, misstrauisch, wie es Coco schien, und wechselten dann zeitgleich das Thema:

„Da soll jetzt ein toller neuer Film laufen, über - “

„Habt ihr eine Ahnung, warum Claudia heute so ganz besonders angriffslustig war? Pat, entschuldige, sie ist deine Mutter, aber -“

Pat winkte ab. „Geschenkt. Mich nervt sie ja auch, mit ihrer Art, allen einen Lebensstil überstülpen zu wollen, den sie im Fernsehen gesehen hat.“

Coco lachte. „Kennt ihr „Royals“? Seid froh, dass sie sich nicht das zum Vorbild genommen hat!“

Pat freute sich: „Wäre doch toll! Wir müssten bei diesen grässlichen Essen Nylonstrümpfe und diese affigen Hütchen tragen, sonst ist Mama not amused.“

„Fascinators heißen die“, ging Hel eifrig darauf ein. „Bescheuerte Dinger. Als nächstes machen wir beim Reinkommen noch einen Hofknicks?“

„Ich verstehe gar nicht, wie man sich auf so veraltetes Zeug versteifen kann“, überlegte Coco. „Claudia ist – wie alt, Pat? Sechsundvierzig? Warum verhält sie sich, als sei sie Jahrgang 1900?“

„Vielleicht glaubt sie, in unseren Kreisen“ – Jack sprach dies mit dem passend gespitzten Mündchen aus – „ist sowas wichtig?“

„Dann kann sie aber nicht gerade viel vom Leben ganz normaler Familien aus der – naja – oberen Mittelschicht verstehen“, wandte Coco ein. „Bis zum Königshaus ist da doch noch ein weiter Weg, glücklicherweise. Lieber im Netz Klatsch über Prinzessinnen lesen als selbst eine sein.“

„Über ihre Familie erzählt sie eigentlich nie etwas“, gab Pat zu bedenken. „Nur, wie brav und angemessen sie sich immer aufgeführt hat. Na, wer´s glaubt…“

„Was hat sie eigentlich für einen Beruf? Also, gehabt?“, wollte Jack wissen. „Sie kann ja wohl nicht reiche Ehefrau gelernt haben?“

„Das sagt sie ja auch nicht! Wenigstens nicht so genau. Ich denke, irgendwas im Büro. Sachbearbeitung vielleicht. Papa hat mal erzählt, sie haben sich bei einem Firmenevent kennengelernt. Vielleicht war es was vom Immobilienverband Leisenberg?“

„Immobilienverband Oberbayern, wenn schon“, korrigierte Coco. „Eine eigene Leisenberger Gruppe gibt´s nicht, das wüsste ich. Na, damals vielleicht, 1998. Glaub ich aber auch nicht.“

„Dann war sie vielleicht bei Crommer oder so“, überlegte Pat. „Ich hab mir immer vorgestellt, wie die Bonzen an den Tischen sitzen, vorne referiert einer etwas über Umsatzrekorde, und Mama schleicht herum und verteilt Handouts oder kleine Mineralwasserfläschchen.“

Coco gluckste. „Das Bild hatte ich jetzt auch gerade vor Augen. Bloß kann man so etwas doch wohl laut sagen? Immobilien sind doch nicht peinlich? Himmel, ich mach doch auch nichts anders!“

Pat warf ihrer großen Schwester einen schlauen Blick zu. „Ja, aber du würdest nicht Zeug verteilen, sondern am Tisch sitzen. Oder den Vortrag halten.“

„Mag sein, aber Claudia hätte sich doch auch nach oben arbeiten können?“, schlug Jack vor.

Pat kicherte. „Ich bin ziemlich sicher, dass sie kein Abitur hat. Also konnte sie nicht studieren – und ganz ehrlich, ohne Uniabschluss kommst du doch nicht sehr weit. Coco, du bist Betriebswirtin, oder?“

„Ja, klar. Genauso wie Jack Mediendesign studiert hat und Hel Jura. Auch wenn sie nicht in ihrem Beruf arbeitet.“

„Ralf will das eben nicht“, murrte Hel. „Er findet Jura unweiblich.“

„So ein Idiot“, entfuhr es Pat. „Was sollst du denn dann den ganzen Tag machen?“

„Mich hübsch machen für ihn, vermutlich“, antwortete Hel mit einer Grimasse. „Ein bisschen öde ist das schon. Rumsitzen und warten, dass der hohe Herr nach Hause kommt…“

„Und das lässt du dir gefallen?“ Pat war entrüstet und musste gleich einen Riesenbissen Eis nehmen.

Coco war der gleichen Meinung. „In welcher Zeit lebt dein Ralf eigentlich? Das ist doch voll die Fünfziger!“

Pat wollte offensichtlich auch noch etwas sagen, jedenfalls lutschte sie sehr hektisch diesen Eisklumpen klein. Endlich konnte sie wieder sprechen: „Warum machst du das denn mit?“

Hel zuckte die Achseln. „Naja… Teilzeit-Anwältin ist schwierig, für Vollzeit bin ich auch ein bisschen zu - naja – zu faul. Eigentlich ist es so ganz gemütlich… ausschlafen, rumtrödeln, Pflegemaske, Fernsehen, bisschen Sport, die Wohnung dekorieren…“ Sie grinste etwas unsicher.

„Dann beklag dich auch nicht“, murmelte Jack, zog einen Strohhalm aus dem Becher in der Mitte und begann, die Reste in ihrer Eisschale misstönend aufzusaugen.

„Jack!“

„Nostalgieanfall. Ich war gerne ein Kind.“

„Wir auch, aber die Zeiten sind vorbei. Jack, du musst mit dem kindischen Getue aufhören!“

„Ich? Und wer hat mit der Parole Hippielumpen heute angefangen?“

„Doch bloß wegen Claudia! Wenn wir unter uns sind, kannst du die Albernheiten doch lassen. Was gibt´s denn bei dir sonst Neues?“

Jacks Gesicht verschloss sich. „Nichts, was soll schon sein?“

„Komisch“, meinte Coco, „vier nette Frauen, alle nicht hässlich – und nur eine hat einen Freund?“

„Ich hab doch Ralf!“, protestierte Hel, was ihr einen dreifachen Mitleidsblick eintrug.

„Ja, schon klar. Ralf, der will, dass du den ganzen Tag auf ihn wartest. Du Haremsdame, du.“

„Besser Ralf als gar keinen“, schnappte Hel, errötete sofort und senkte den Kopf. „Was hast du denn jetzt wieder?“, wollte Pat in jugendlicher Taktlosigkeit wissen. „Hast du doch noch einen?“

„Das geht euch gar nichts an!“

„Sie hat es nicht geleugnet!“, teilte Pat Coco mit perfektem Theaterflüstern mit.

„Sehr vielsagend“, fand Coco auch prompt. „Führ uns den Knaben doch mal vor – oder ist er noch alberner als Ralf?“