Buch lesen: «Starke Kinder», Seite 2

Schriftart:

Außengesteuertheit versus Eigenverantwortung

Wir wollen nun etwas genauer betrachten, was Außengesteuertheit gegenüber Eigenverantwortung bedeutet. Dazu müssen wir bei der frühkindlichen Ich-Entwicklung beginnen. Wir werden sehen, wie in den verschiedenen Phasen, in denen sich der Verstand ausbildet, verschiedene Entscheidungen fallen. Sie bewirken ab einem bestimmten (Ich-Findungs-) Punkt, dass entweder die Urteilskraft nachlässt und die Anpassung an die äußeren Faktoren überwiegt, oder dass das eigene Tun und Lassen dem individuellen Richtigkeitsempfinden entspringt. Ersteres ist der Weg der Außengesteuertheit bzw. Fremdbestimmtheit, letzteres derjenige der Eigenverantwortung.

Neugeborenenstatus

Bei der Geburt haben Kinder kein konkretes Selbstbild. Wie sollten sie auch, da sie sich ihrer Möglichkeiten und Grenzen noch völlig unbewusst sind? Schließlich entwickelt sich kein Selbstbild aus dem Nichts. Kinder brauchen zwischenmenschliche Begegnungen, damit sie durch diese individuellen Auseinander-Setzungen einen Begriff davon bekommen, wer sie sind. Es ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg ihrer Selbstfindung. In diesem Stadium sollten die Eltern sich auf die Gewahrwerdung ihrer innigen Verbundenheit mit dem Kind konzentrieren (natürlich neben der Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse). Kinder brauchen das Gefühl bedingungsloser Liebe und Fürsorge, damit sie später auf dem harten Weg der Selbsterkenntnis auch einen Rat von uns annehmen können. Bedingungslose Liebe gibt dem Kind zu verstehen, dass es so von uns angenommen wird, wie es ist, ganz gleich „was“ einmal aus ihm wird.

Kleinkindstadium

In diesem Stadium beginnen die Kinder, sich gezielt mit der Umgebung auseinander zu setzen und Gesetzmäßigkeiten ausfindig zu machen. Sie merken rasch, dass Aktionen Reaktionen bedingen, und verfolgen ganz genau, was womit zusammenhängt. Wenn Johnny schwarze Bohnensuppe vertropft, macht es „platsch“ und Mutti eilt herbei und jammert unbegreiflicherweise, während sie den schönen Klecks aufwischt. Oder wenn Rachel zum ersten Mal aus einer Tasse nippt, erlebt sie, wie man in ihrer Familie vor Freude jauchzt, auf und ab springt und sich überhaupt wie ein Haufen Verrückter aufführt. Die Beispiele zeigen uns, wie sich das kindliche Selbstverständnis in diesem Stadium anhand zunehmender Körperbeherrschung entfaltet und zwar in engem Zusammenhang mit äußeren Reaktionen darauf.

Vorschulkinder und jüngere Grundschüler

In dieser Phase sind Kinder erstmals massiv auf Beurteilungen anderer angewiesen. Nicht nur sind sie jetzt mehr Menschen ausgesetzt (wie LehrerInnen, MitschülerInnen, FreundInnen und NachbarInnen), sondern sie erkennen auch langsam, dass sie nicht von allen bedingungslos geliebt und anerkannt werden. Weiter sind die Kinder nun in dem Alter, wo sie verschiedene Fähigkeiten entwickeln, die kontrollierbar und kritisierbar sind, – wie schnell sie ihre Schuhe binden, wie gut sie lesen, ob sie den Ball weiter als einen Meter schießen können, und ob sie zugeben, Barney Videos geguckt zu haben. Dieses laufende Geprüft- und Gelobt- und Getadeltwerden spielt bei der Ausformung eines abstrakteren, äußerlichen Selbstverständnisses eine wichtige Rolle.

Ältere Grundschüler und weitere

Bereits ab der dritten Klasse vergleichen Kinder das eigene Selbstverständnis laufend mit den Bewertungen anderer. Sie sind sich schmerzlich bewusst, dass alles an ihnen von ihrer Umgebung beurteilt wird, Grundeinstellung, soziale Fähigkeiten, Persönlichkeit, intellektuelle Kompetenz, körperliche Erscheinung, Sportlichkeit und so weiter. In dieser Phase entscheidet sich gewöhnlich, ob sie ihr Selbstwertgefühl auf Fels oder auf Sand bauen – da die Kinder dazu übergehen, sich entweder hauptsächlich an äußeren Vorgaben zu orientieren, um in der Welt zurecht zu kommen, oder an eigenen Überlegungen. Wir werden später noch genauer auf die ausschlaggebenden Faktoren eingehen.

Selbstbestimmte Kinder lassen sich von ihrem Verstand leiten, indem sie äußere Einflüsse beobachten und einordnen. Durch dieses Nachdenken gelangen sie zu einer objektiven Selbsteinschätzung – statt sich Selbstbeschönigungen hinzugeben. Sie bedenken die Folgen ihres Tuns im voraus und handeln entsprechend. Ihr Tun ist eher ein Antworten als ein Reagieren. Diese Kinder sind aus sich selbst motiviert – voll eigener Gedanken und Ideen.

Außengeleitete Kinder passen sich hingegen jeder äußeren Anforderung an, ohne das eigene Urteilsvermögen zu bemühen. Ihr ungestilltes Anerkennungsbedürfnis verhindert eigenständige Entscheidungen. Es kommt lediglich zu einer „indirekten Selbstbestimmung“ und damit zu einer sozialen Maske – jener „So wie es sich gehört“-Fassade, die sich für die Selbstverwirklichung so hinderlich erweist. Und das Schlimme daran ist, dass das Selbstvertrauen um so mehr nachlässt, je besser die Fassade funktioniert.

Ein weiterer Nachteil mangelnder Eigenständigkeit ist, dass außengesteuerte Kinder nicht lernen, sich in der Kunst des Selbstgesprächs und der Selbstbeobachtung zu üben. Ohne diese Fertigkeiten ist keine Selbstbeherrschung möglich und deshalb sind diese Kinder so unberechenbar. Sie reagieren stets nur. Sie sind getrieben. Wir werden im Folgenden immer wieder fragen, warum Kinder den einen oder anderen Weg gehen. Dabei werden vor allem praktische Tipps gegeben, die die Entwicklung in Richtung Eigenverantwortung fördern.

Sollten Sie bei der Lektüre dieses Buches erschrocken feststellen, dass Sie Ihre Kinder bisher eher außengesteuert erzogen haben, im festen Glauben, alles richtig zu machen, geraten Sie nicht in Panik. Schließlich gehören Sie zu den wenigen Müttern oder Vätern, die sich um eine möglichst gute Erziehung ihrer Kinder bemühen. Ich versichere Ihnen, dass Ihre Kinder, sofern Sie die Ratschläge in diesem Buch beherzigen, bald eigenverantwortlich werden. Und es wäre kein Wunder, wenn auch Sie auf diesem Weg Fortschritte machen! Ich jedenfalls hatte vierzehn Jahre einen ziemlich außengerichteten Erziehungsstil gepflegt, bevor ich schließlich Erziehungsmethoden entdeckte, die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fördern. Und es zeigten sich bald dramatische Effekte bei meinen Kindern (und mir). Man lernt außengesteuertes und selbstbestimmtes Verhalten grundsätzlich besser auseinander zu halten, sei dies nun an sich selbst, an seinen Kindern oder an anderen Menschen. Und je mehr Sicherheit man dabei gewinnt, desto leichter fällt der neue Erziehungsstil.

Stellen Sie sich vor, es gäbe nur selbstbestimmte Kinder auf der Welt! Wir wären dann eine Gesellschaft, in der wir in Kenntnis unserer wahren Stärken sinnvolle Rollen spielten und einander weiterbrächten. Wir würden unser Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten statt denjenigen anderer. Vergleichen wir das mit einer außengesteuerten Welt, in der die Menschen versuchen, einander den Rang abzulaufen, und auf der Jagd nach Spitzenpositionen sich selbst und andere verraten. Gehen wir noch einen Schritt weiter, und vergegenwärtigen wir uns, dass wir als Eltern es in der Hand haben, welchen dieser Wege die Menschheit gehen wird! Wir können mit unseren Erziehungsgrundsätzen an einer selbstbestimmten Welt mitwirken. Ich sage nicht, dass dies ein leichtes Unterfangen ist, ganz und gar nicht, denn die Menschheit hat Jahrhunderte außengesteuertes Verhalten auf dem Buckel, das sich über Meinungsbildung und gesellschaftliche Normen in den Einzelnen fortpflanzt. Und da diese Fremdbestimmung die Erziehung so allgemein betrifft, lauert überall der böse Wolf. Aber er kann in jedem von uns gezähmt werden. Wenden wir uns nun den sieben Erziehungsgrundsätzen zu, durch die dieser erstrebenswerte Wandel herbeigeführt werden kann.

Die Praxis

1
Die richtige familiäre
Atmosphäre schaffen

Die Sonne scheint von allein.

– Anonym

VON DEN SIEBEN ERZIEHUNGSGRUNDSÄTZEN ist dieser wohl der entscheidendste. Denn ohne eine Atmosphäre, in der Selbstbestimmtheit gedeihen kann, werden die anderen sechs Grundsätze nichts fruchten, so sehr wir uns auch anstrengen mögen! Genau so gut könnte man versuchen, die Golden Gate Brücke auf einem Seerosenblatt zu errichten. Legen wir also zunächst ein solides Fundament. Und dazu müssen wir uns als erstes genauer ansehen, wo wir der Anpassung in Kleinigkeiten übermäßigen Raum geben. Dann werden wir überlegen, wie sich solche schädlichen Angewohnheiten überwinden lassen.

Angepasstes Verhalten reduzieren

Drei elterliche Verhaltensweisen fördern übermäßige Anpassung beim Kind: Wenn man selbst Außengesteuertheit vorlebt, wenn man sein Kind unter Druck setzt und wenn man seinem Kind nichts zutraut.

Wenn man selbst Außengesteuertheit vorlebt

Wir sollten nicht vergessen, dass unsere Art, auf äußere Einflüsse zu reagieren, für unsere Kinder in mehrfacher Hinsicht ein Beispiel ist. Die Art unseres Handelns, Fühlens und Denkens entscheidet über das Selbstgefühl unserer Kinder, da sie durch uns lernen, wie man in der Außenwelt zurechtkommt: Mit uns verknüpfen sie ihre Zukunftsvorstellungen. Das kann einem ziemlich Angst machen. Und da die meisten von uns bis zu einem gewissen Grad außengesteuert sind, suchen auch wir Bestätigung bei anderen. Wenn wir also nicht aufpassen, geben wir mit unserem Verhalten ein Beispiel übermäßiger Anpassung ab.

Zuviel Anpassung dem „richtigen Image“ zuliebe

Unsere Kinder erfassen mit Leichtigkeit die leisesten Anzeichen von Außengesteuertheit. Wenn wir uns zum Beispiel ständig abkämpfen, um uns sozial besser zu stellen und nach oben zu kommen, werden unsere Kinder das bemerken. Wir schuften täglich rund um die Uhr, damit wir durch ständige Neuanschaffungen unseren Erfolg beweisen können. Wir versuchen, die richtigen Dinge zu sagen, die richtige Kleidung zu tragen, die richtige Ausstattung zu besitzen, den richtigen Job zu ergattern, den richtigen Status zu haben, im richtigen Augenblick die Ellenbogen zu benützen, alles nur, um im Konkurrenzkampf ums soziale Ansehen der Sieger zu sein. Unsere Kinder durchschauen unser Verhalten ganz genau. Und da sie oft nur unser erweitertes Ich darstellen, lassen wir sie entsprechend mitmarschieren.

Wie können wir also diese ungesunden Verhaltensweisen stoppen und uns aus dieser Tretmühle befreien? Wir könnten versuchen, unser Tun zu hinterfragen, und so oft wie möglich nach unseren Motiven forschen: Tun wir dies, weil wir es für richtig halten, oder nur deswegen, weil wir gesellschaftliches Ansehen gewinnen wollen? Wir sollten diesen inneren Dialog auch hin und wieder laut führen und vor unseren Kindern unsere Pläne und Motive erwägen. Indem wir sie an unseren Entscheidungsfindungen teilhaben lassen, beflügelt das ihren eigenen inneren Dialog. Sie lernen eigenständig Betrachtungen und Abwägungen durchzuführen.

Überbewertung bedingter Anerkennung

Vielleicht ist es unser größtes Anpassungsmotiv, dass wir uns zu sehr von bedingter Liebe und Anerkennung abhängig machen. Diese Abhängigkeit wird zum Beispiel deutlich, wenn wir uns nach Strich und Faden fertig machen, nur weil wir in der Arbeit in einer Kleinigkeit versagt haben. Wir glauben dann, überhaupt keine Liebe verdient zu haben, weil wir bestimmte Erwartungen, die wir selbst oder andere an uns stellen, nicht erfüllt haben. Wenn unsere Kinder mitbekommen, wie wir uns selbst herabsetzen, vermitteln wir ihnen den Eindruck, wir seien Ausgestoßene oder Verlierer, die keine Liebe verdienen. Wie sollten sie dann nicht zu dem Schluss kommen, dass die äußeren Einflüsse mächtiger sind, als ihr inneres Wesen?

Um keine solchen unterschwelligen Botschaften mehr zu vermitteln, sollten wir Selbstherabsetzungen möglichst vermeiden. Statt etwa zu sagen: „Warum habe ich Idiotin dem Chef nicht bloß ein teureres Geburtstagsgeschenk gemacht. Jetzt ist Cindy befördert worden und nicht ich!“ wäre es wesentlich günstiger, wenn wir sagen: „Mensch, ich habe wirklich mit der Beförderung gerechnet. Aber immerhin habe ich mein Bestes gegeben, und das war gut so. Sicher ergibt sich bald etwas anderes. Ich werde weiter mein Möglichstes tun.“ Auf diese Weise werden unsere Kinder merken, dass wir uns an das halten, was wir gut gemacht haben, statt uns an dem zu orientieren, was andere von uns halten. In anderen Worten, sie werden lernen, über das nachzudenken, was in ihrer Macht steht, statt sich über Dinge zu ärgern, die nicht in ihrer Macht stehen.

Zu hohes Anspruchsdenken

Wenn wir ein zu hohes Anspruchsdenken haben, lehrt das unsere Kinder ebenfalls, sich an Äußerlichkeiten zu orientieren. Und das betrifft auch ihre Einschätzung anderer Menschen und die Frage, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollen. Haben wir zum Beispiel für einen älteren Nachbarn das Mittagessen mitgekocht, solange dessen Frau im Krankenhaus war, und schimpfen wir dann vor unseren Kindern, der alte Opa hätte nicht einmal danke gesagt, schließen sie aus dieser Bemerkung, dass gute Taten vergolten werden müssen. Sie fangen dann an, ihre Liebe und ihre Freundlichkeitsbezeugungen mit der Anerkennung abzurechnen, die sie erhalten.

Und aus diesem Anspruchsdenken wird langsam eine Anspruchshaltung. Die wirtschaftliche Schieflage in unseren Land beruht größtenteils auf einer überzogenen Anspruchshaltung ihrer Bürger. Es werden massenhaft ungerechtfertigte Privilegien abgeleitet. Und obwohl manche Forderungen gerechtfertigt sind und verteidigt werden müssen, sind es viele nicht, wie kostenloses Parken, Arbeitsplatzgarantie, billige Krankenversicherung, etc. Wenn unsere Kinder immer wieder diese Beschwerden hören, eignen auch sie sich eine Anspruchshaltung an. Sie entwickeln einen fordernden Lebensstil. Wir brauchen uns dann nicht zu wundern, wenn sie etwa verlangen, dass wir ihnen das Benzin und die Versicherung ihres Auto bezahlen. Und das mit der größten Selbstverständlichkeit.

Das überzogene Anspruchsdenken ist für den Geiz und die Korruption, die sich in der Gesellschaft mehr und mehr bemerkbar machen, wesentlich mitverantwortlich. Wir müssen unseren Kindern klarmachen, dass wir allein Anspruch auf unser Leben und unsere schöpferische Kraft haben, woraus sich alles andere ableitet. So können wir zum Beispiel Robert fragen, warum er für die Beaufsichtigung seiner jüngeren Geschwister bezahlt werden möchte, da wir zum Elternabend müssen. Gehen wir dann mit ihm die Gründe durch, wird er bald einsehen, dass er eine Verpflichtung mit einer Verdienstgelegenheit verwechselt hat.

Und was hat das mit Außengesteuertheit und Selbstbestimmung zu tun? Eine Menge! Das Anspruchsdenken nährt in unseren Kindern den Glauben, ihr Selbstwert hänge von anderen ab und sei an Äußerlichkeiten messbar. Damit keine solche Haltung in ihnen entstehen kann, sollten wir möglichst keine Erwartungen an unsere Freundlichkeit und Liebe knüpfen. Bemühen wir uns also um grundsätzliche Freundlichkeit und Zuvorkommenheit! Auf diese Weise werden unsere Kinder langsam begreifen, dass ehrliche Arbeit und gute Taten an sich lohnend sind und alles, was sie für ein gesundes Selbstwertgefühl brauchen, in ihnen selbst liegt.

Falscher Umgang mit Gefühlen

Wir alle gehen hin und wieder vor unseren Kindern falsch mit unseren Gefühlen um und geben dadurch ein schlechtes Beispiel ab. Zum einen leugnen wir bisweilen Traurigkeit, Enttäuschung, Schuldgefühle, Verlegenheit und Wut. Wenn Mutti partout keine Träne über Onkel Jacks Tod vergießen will, interpretiert ihr Kind Trauer als „ein schlechtes, verbotenes Gefühl.“ Zum anderen geben wir unseren Kindern ein schlechtes Beispiel im Umgang mit Gefühlen, wenn wir sie falsch adressieren. Wenn Vati in einer schrecklichen Laune heimkommt, weil er Stress in der Arbeit hatte, und dann diesen Ärger an seinem Kind auslässt, erhält dieses die Botschaft, dass es für die Gefühle anderer verantwortlich ist, ja vielleicht sogar Schuld an ihnen ist. Und wenn wir an negativen Gefühlen wie Ärger oder Kummer lange Zeit festhalten, ohne sie zu verarbeiten, ist das ebenfalls kein gutes Beispiel. Werden negative Gefühle gehegt, lernen unsere Kindern daraus, dass es für unangenehme Gefühle keine Lösung gibt und man sich damit eben abfinden muss.

Unser fehlerhafter Umgang mit Gefühlen fördert im doppelten Sinn die kindliche Außengesteuertheit. Erstens hilft es unseren Kindern, eine dickhäutigere Fassade aufzubauen, hinter der sie ihr wahres Selbst verbergen. Zweitens gibt es ihnen zu verstehen, dass Gefühle, jene wichtigen Kommunikationsmittel, zugunsten äußerer Einflüsse verändert, verdrängt oder geleugnet gehören. Dadurch werden unsere Kinder zur Unterwürfigkeit erzogen. Es lenkt ihre Aufmerksamkeit nach außen und lässt innere Kommunikationsformen verkümmern.

Wir sollten also versuchen, unsere Gefühle in einer gesunden Weise auszudrücken. Wir sollten versuchen, sie möglichst nicht zu unterdrücken, um Kritik und Lächerlichkeit zu vermeiden. Und wir sollten versuchen, sie dadurch zu entschärfen, dass wir nicht ewig an ihnen festhalten. Stellen Sie sich Emotionen wie eine Kiste frischen Fisch vor. Es ist o.k., die Fische zu kochen und zu essen, dazu sind sie schließlich da. (Sicher werden Sie irgendeinen Fisch finden, der mit dieser Aussage nicht einverstanden ist.) Aber die Reste sollten nicht zulange aufbewahrt werden, sonst fangen sie bald zu stinken an! Nehmen Sie sich ihrer an und lassen sie los. Wenn sie zu stinken anfangen, müssen wir sie dem armen Onkel Harry nicht vorwurfsvoll vor die Nase halten und behaupten, es sei sein Fisch! Wir sollten mit unseren Gefühlen (unserem Fisch) verantwortlich umgehen.

Wenn Kinder zu sehr unter Druck gesetzt werden

Ein zweite Erziehungsfehler ist, dass wir unsere Kinder oft zu sehr unter Druck setzen. Nichts trägt mehr zur Außengesteuertheit und Schwächung ihres Selbstvertrauens bei, als wenn wir Bedingungen an unsere Liebe knüpfen.

Liebe in Antwort auf wunschgemäßes Verhalten ist bedingte Liebe. Wir äußern unsere Liebe oft nur, wenn wir von unseren Kindern angetan sind, statt dies auch in Zeiten zu tun, wenn sie es am meisten brauchen. Sehen wir uns einige Formen bedingter Liebe an, bevor wir uns fragen, wie wir diese schlechten Angewohnheiten einstellen können.

Eingeschränkte Wertschätzung

Wir teilen unsere Liebe oft eingeschränkt mit, indem wir etwa sagen „Sei ein Schatz und hilf mir“, oder „Du bist ein Schatz, aber vorhin warst du wirklich ein wenig frech“. Diese „Wertungen“ legen unsere Liebe quasi an die Leine, an der sie herbeigezogen werden kann. Unsere Kinder müssen daher annehmen, sie müssten sich unseren Wünschen entsprechend verhalten, damit sie von uns geliebt und anerkannt werden. Ist dies einmal verankert, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie dies anderen gegenüber genauso machen. Damit unsere bedingungslose Liebe deutlich wird, sollten wir daher möglichst auf Zusätze verzichten, die unseren Kindern sagen, wir hätten sie mehr geliebt, wenn ...

Wenn nur Sonnenseiten verlangt werden

Oft scheinen wir unseren Kindern nur für Höchstleistungen ausdrücklich unsere Anerkennung zu zollen. Zum Beispiel klopfen wir ihnen anerkennend auf die Schulter, wenn sie ins Tennisteam kommen oder lauter Einsen im Zeugnis haben. Wir hängen ihre besten Arbeiten an die Kühlschranktür und schmeißen alles andere nicht ganz so Perfekte in den Müll. Kurz, wir loben unsere Kinder in den höchsten Tönen oder gar nicht. Damit geben wir ihnen zu verstehen, dass sie unsere Liebe nur verdienen, wenn sie unsere Ideale erfüllen!

Doch wir sollten unsere uneingeschränkte Liebe deutlich machen. Unsere Kinder brauchen herzliche Zuwendung unabhängig von ihren Noten, Meinungen oder momentanen Kleidungsvorlieben. Wir könnten Tommy sagen, wie gern wir ihn haben, wenn er nach einem langen schwierigen Schultag ganz missmutig heimkommt. Wir könnten Alice herzlich umarmen, weil sie im Alleingang ihr Volleyballteam angefeuert hatte, das haushoch verlor. Wir könnten auch das 2+ Diktat an die Kühlschranktür hängen, wenn Peter besonders viel dafür geübt hat.

Vielleicht sollten wir auch weniger auf Worte und mehr auf Taten setzen. Wenn wir unseren Kindern durch Taten „Ich liebe dich“ sagen, ist das so, als sprächen wir durch ein Megaphon. Es ist einfach ein Knüller. So könnten wir mit ihnen gemeinsam in einem Malbuch Bilder ausmalen. Wir könnten ihrer Pausenbrottüte einen kleinen Grußzettel beilegen. Auch eine wortlose kurze Umarmung ohne besonderen Grund vermag Kindern deutlich zu machen, wie sehr wir sie lieben.

Wir machen sehr schnell den Fehler, uns nur auf die Rollen zu konzentrieren, die unsere Kinder einmal spielen sollen, statt sie als die Personen zu akzeptieren, die sie gerade sind. Es ist o.k., sie in ihrem Fleiß und Ehrgeiz zu bestätigen. Aber sie nur dafür zu loben, weil sie Neurochirurg werden, eine gute Note in der nächsten Physikschulaufgabe bekommen, oder Klassensprecher oder Klassensprecherin werden wollen, und sich dafür kräftig ins Zeug legen, ist nicht o.k. Wir sollten ihnen auch zu verstehen geben, dass sie an sich schon außergewöhnlich sind. Bethany, 13, sagt: „Ich weiß, dass mich meine Mutti so liebt, wie ich bin, und nicht nur ein Wunschbild von mir. Dadurch traue ich mir viel mehr zu.“

Manchmal sitze ich gerne mit meinen Kindern zusammen und sage ihnen jeweils, wie wunderbar sie sind und wie gern ich ihre Mutter bin. Voller Freude zähle ich dann auf, warum ich sie für so besonders halte, welche bemerkenswerten Talente sie haben, welche Hürden sie bereits genommen haben und so weiter. Bedenken Sie also stets: Vorbehaltlos lieben wir unsere Kinder dann, wenn wir sie so lieben, wie sie sind, und nicht, wie wir sie gerne hätten.

Wenn Kindern nichts zugetraut wird

Ein anderer weit verbreiteter Erziehungsfehler ist, dass wir unseren Kindern zu wenig oder gar nichts zutrauen. Dieser Mangel an Vertrauen bringt unsere Kinder dazu, mehr auf äußere Signale zu achten als auf innere. Sehen wir uns zu dieser Problematik einige Beispiele an und wie sich solche Fehler beheben lassen.

Repression

Oft wird Kindern von Geburt an unterschwellig Untauglichkeit signalisiert. Sie werden für unterlegen und hilflos gehalten, so dass sie zu dem Schluss kommen, Eltern und andere Autoritätspersonen seien dazu da, ihre Mängel auszugleichen. Schreit ein Baby, nehmen wir es etwa in den Arm, wiegen es und sagen: „Pst! nicht weinen“. Obwohl das gut gemeint ist, beschneiden wir damit seinen Ausdruckswillen, in einer Entwicklungsphase, in der Schreien das einzige ihm zur Verfügung stehende Mittel ist, sich auszudrücken, es sei denn, man will vollgeschissene Windeln mit zählen.

Und der subtile Unterdrückungsmechanismus setzt sich fort. Trotz aller Missbilligung und Versagensunterstellung bleiben unsere Kinder erstaunlich selbstbewusst, bis sie sieben oder acht Jahre alt sind. Noch gibt es für sie nichts außerhalb ihrer Reichweite und nichts, was sie nicht verdienten. Ein großes Feuer ist schließlich nicht so schnell gelöscht!

Manchmal halten wir diese kindliche Wesensart für Egoismus. Wobei schon einige die Vorstellung abschreckt, so sehr wird in unserer Gesellschaft der Egoismus als Untugend angesehen. Oft befürchten wir, unsere Kinder könnten durch ihre Ichbezogenheit scheitern. Wir haben Angst, dass ihre Selbstbestimmung sie weniger umgänglich macht und sie dadurch keine nützlichen Mitglieder der Gesellschaft werden. Mir macht allein die Vorstellung, meine Kinder könnten in der Öffentlichkeit einmal völlig aus dem Rahmen fallen, eine Gänsehaut. Gott behüte, dass andere von mir denken könnten, ich würde meine Kinder „verderben“ oder ich wäre eine schlechte Zuchtmeisterin, weil dann alle Welt sähe, was für eine schlechte Mutter ich bin. Und wie beschwichtigen wir solche Ängste? Leider vermitteln wir unseren Kindern gewöhnlich den Eindruck, dass ihre Direktheit und ihr Erkundungsdrang falsch – ja sogar egoistisch und verwegen seien. So klopfen wir beispielsweise unseren Kindern rasch auf die Finger, wenn sie staunend nach einer Kerzenflamme greifen, statt sie unter Aufsicht selbst herausfinden zu lassen, dass die Flamme heiß ist und sie sich daran verbrennen können. Kinder sollten eigene Erfahrungen sammeln dürfen und nicht nur auf den Erfahrungen anderer aufbauen müssen.

Hierzu fällt mir ein Artikel ein, über einen afrikanischen Stamm, bei dem Kinder sehr frei erzogen werden. Wenn die Frauen Wäsche waschen, dürfen die Kleinsten mit am Ufer plantschen. Die Kinder dürfen ohne weiteres mit so gefährlichen Gegenständen wie Macheten hantieren, die wir unsere Kinder kaum anschauen und geschweige denn anfassen ließen! Interessanterweise kommt es dabei zu erstaunlich wenig Unfällen, etwa dass ein Kind ertrinkt. Wahrscheinlich liegt es an unserer Schwarzseherei. Wenn wir überall nur Gefahren sehen, statt unsere Kindern praktisch aufzuklären, wird auch oft etwas passieren. Durch das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiungen werden oft die schlimmsten Alpträume wahr.

Mit unseren Befürchtungen halten wir also nicht selten unsere Kinder schon von klein auf vom eigenen Denken und Tun ab. Sie werden von elterlicher oder anderweitiger Autorität abhängig, da sie irgendwann aufhören, selbst nach Antworten zu suchen. Andererseits können sie schon bald die leisesten Anzeichen der Zustimmung und Ablehnung lesen, um möglichst gefällig zu reagieren.

Elterliche Gewalt und Vorherrschaft

Man hat Eltern Jahrhunderte lang weisgemacht, die mit Abstand beste Form der Erziehung sei die autoritäre. Doch wir machen einen Fehler, wenn wir aus unseren Kindern partout, und sei es mit Gewalt, gute Erwachsene machen wollen, statt sie zu eigenen Entscheidungen zu ermutigen. Wir setzen mit unseren autoritären Vorschriften fort, worunter auch wir zu leiden hatten: die Fremdbestimmung.

Kindern wird gesellschaftskonformes Denken und Verhalten aus zweierlei Gründen anerzogen. Erstens will man sie vor Spott, Kritik und Außenseitertum bewahren. Man möchte seine Kinder glücklich und erfolgreich in der Gesellschaft integriert sehen. Zweitens benützen manche Eltern ihre Kinder dazu, eigene Defizite auszugleichen. Sie wollen mit ihren Kindern vor allem angeben. So kommt es, dass Eltern ihre Kinder unbewusst zur Entwicklung eines falschen Selbst ermutigen. Auch wenn ein solches äußeres Selbst den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht wird, die Kinder selbst macht es unglücklich. Und es verwirrt sie. Fragen wir uns also, wie sich solche erzieherischen Angewohnheiten überwinden lassen. Es gibt drei Seiten elterlicher Gängelung:

 „Sei nicht so garstig!“

 „Überlass das Denken mir“ [auch bekannt als „Vater (Mutter) weiß es am besten“].

 „Ich weiß, was am besten für dich ist.“

„Sei nicht so garstig!“

Wahrscheinlich die raffinierteste Art der Bevormundung, weil Kinder oft keine Gängelung darin sehen. Sie arbeitet mit versteckten Formen der Schuld, der Aufopferung und der Schande. Und sie lockt mit bedingter Anerkennung und Zuneigung. Heidi, 15, sagt: „Mein Vater möchte, dass ich lauter Einsen schreibe. Bei einer Zwei fühle ich mich schon unglaublich schlecht. In der sechsten Klasse hatte ich einmal eine Fünf und er behandelte mich wie die letzte Idiotin.“ Die folgenden Bemerkungen illustrieren das sehr gut:

„Wenn du mich wirklich gern hättest, mein Schatz, würdest du dich in der Schule mehr anstrengen.“ (Schuld)

„Also gut. Ich werde dir dein Pausenbrot für morgen machen. Ich bin ja überhaupt diejenige, die ständig alles macht. Zu Diensten, der Herr.“ (Aufopferung)

„Was heißt, du hast deine Chemieschulaufgabe versaut? Verdammt noch mal, deine Eltern sind Chemiker! Was für eine Schande für die Familie!“ (Schande)

Das mögen drastische Beispiele sein, doch wenn wir einmal genauer hinhören, was wir zu unseren Kindern sagen, werden wir durchaus ähnliche Strukturen erkennen:

„Kannst du wirklich nicht ein bisschen früher aufstehen? Jedes Mal habe ich den Stress mit dem Berufsverkehr, wenn du den Bus versäumst. Das verdirbt mir den ganzen Tag.“ (Schuld)

„Möglicherweise kündigen sie mir jetzt, aber das ist mir egal. Bevor ich eine schlechte Mutter bin und alle deine Softballturniere versäume, lasse ich es lieber darauf ankommen.“ (Aufopferung)

„Du hast eine Drei im Diktat? Mensch, das ist bisher deine schlechteste Note. Waren die anderen alle besser als du?“ (Schande)

Selbst in diesen relativ milden Fällen wird das Selbstbewusstsein des Kindes unterhöhlt. Eine der gebräuchlichsten Bemerkungen, die ein Gefühl der Schuld oder der Scham hervorrufen, ist: „Ich bin so enttäuscht von dir“. Sie scheint so harmlos zu sein. Wir alle machen sie. Doch sie motiviert unsere Kinder mehr zur Anpassung als zur Selbständigkeit. Wir sollten daher sehr darauf achten, was wir sagen, und uns jedes Mal fragen: „Motiviere ich zur Anpassung oder zur Selbständigkeit, wenn ich das jetzt sage?“

„Überlass das Denken mir“ (oder „Vater [bzw. Mutter] weiß es am besten“)

Es ist ein alter Fehler, wenn Eltern für ihre Kinder denken und ihnen auf diese Art vorschreiben, wie sie zu fühlen und sich zu verhalten haben. Dazu einige Kommentare von Kindern:

„Meine Eltern weisen immer auf meine Schwächen hin.“

„Sie mischen sich ständig in alles ein. Das macht mich wahnsinnig. Wenn sie mich nur mehr selber machen ließen. Mensch, ich kann das auf meine Weise, ohne alles durcheinander zu bringen, so wie sie das befürchten.“

„O Gott, manchmal fühle ich mich wie unter einem Mikroskop. Ich gehe dann in mein Zimmer hoch und mache die Tür hinter mir zu, um meine Ruhe zu haben.“

„Meine Mutter und mein Vater behandeln mich manchmal so, als hätte ich keinen Verstand. Vielleicht denken sie, ich könne ihn noch nicht benützen. Überhaupt, manchmal sind eher sie selbst schwer von Kapee.“

„Ich wünschte, meine Eltern würden sich nicht dauernd in mein Leben einmischen.“

16,99 €
Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
281 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783946433200
Verleger:
Rechteinhaber:
Автор
Download-Format:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip