Bin Skorpion, Krebs unerwünscht

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Bin Skorpion, Krebs unerwünscht
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 4

Einleitung 6

Bin Skorpion, Krebs nicht erwünscht 6

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2018 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-420-1

ISBN e-book: 978-3-99064-421-8

Lektorat: Volker Wieckhorst

Umschlagfotos: Ian Andreiev | Dreamstime.com, Elfi Frühwirth

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Elfi Frühwirth (17)

www.novumverlag.com

Einleitung

Ich liege am Boden mit nacktem Oberkörper, dunkelblauer Jeans und schwarzen Schuhen. Mein Kopf ist schwer, ich sehe die große Gestalt des Arztes in dem dunklen Raum zu mir eilen und noch eine Gestalt. Ich weiß nichts mehr, kann mich nur mehr an das Wort „tumorös“ erinnern. Es hallt in mir.

Mein Kopf wird irgendwie von den Armen der Röntgenassistentin vom harten Boden abgestützt. Ihre Stimme ist aufgeregt und nervös. Sie ist einfach kollabiert, höre ich sie hektisch dem Arzt erzählen.

Haben Sie mich nicht rufen gehört, meint sie zu mir?

Nein, habe ich nicht. Ich schwitze und mir ist kalt, alles rauscht in meinem Kopf – tumorös.

Februar 2018


Bin Skorpion, Krebs nicht erwünscht

Es ist ein Donnerstag Ende September. Ein sonniger, warmer Herbsttag und wir sind mit den Kindern im Garten und genießen das angenehme Wetter. Ich arbeite in einem Kindergarten als Kindergartenpädagogin.

Heute nehme ich mir eine Stunde früher frei. Ich will noch kurz eine Routineuntersuchung hinter mich bringen.

Bei meinem Besuch bei der Frauenärztin gestern habe ich kurz erwähnt, dass meine rechte Brust sich etwas fester anfühlt.

Kein Problem, oder?

Ich werde schließlich in einem Monat fünfzig Jahre, und da auch meine Tage in letzter Zeit unregelmäßig werden, denke ich logischerweise an die Menopause.

Eigentlich habe ich zuerst gedacht: Kind will ich jetzt keines mehr. Schließlich siegte natürlich die Vernunft und der Gedanke: „Wie denn auch?“

Aber so geht es vielleicht nicht nur mir. Wenn man so ungefähr siebenunddreißig Jahre seine Tage so annähernd gleichmäßig bekommt, ist es ein eigenartiges Gefühl, wenn sie nach so vielen Jahren einmal ausbleiben.

Mein erster Kuraufenthalt stand auch vor der Tür. Kurzum: Ich wollte sie gleich erledigen, diese Sonographie, zu der mir die Frauenärztin geraten hatte.

Weg von der Arbeit, zehn Minuten später war ich im Röntgeninstitut.

Ich habe irgendwie immer Angst, wenn ich auf so einem harten Plastiksessel in einer Reihe bei einem Arzt sitze und warten muss. Ich kann auch keine Zeitschriften lesen so wie die Frauen neben mir, ich starre einfach vor mich hin, warte, bis die Tür aufgeht und ich meinen Namen höre.

Mir ist klar, dass ich warten muss, schließlich habe ich keinen Termin. Dies ist bei dieser Untersuchung möglich, den Termin für die Mammographie hole ich mir danach.

Ich höre nebenan, dass bereits Termine für Mitte Jänner vergeben werden.

Es ist ungefähr 11:40 Uhr an diesem sonnigen, warmen Donnerstag im September.

Habe ich eigentlich erwähnt, warum ich schreibe?

Ich halte das Warten nicht mehr aus. Warten und nicht zu wissen, was herauskommt bei den Untersuchungen. Es ist unerträglich. Der Tag hat plötzlich viel mehr Stunden und die Stunden mehr Minuten.

Ich weiß auch nicht, ob Schreiben das Richtige ist. Ich tue es einfach. Ich schreibe mir das Erlebte von der Seele. Ich tue es einfach.

Vielleicht lösche ich die Seiten auch wieder in ein paar Stunden.

In meinem Haus ist es ganz ruhig. Mein Mann ist in der Arbeit, mein jüngerer Sohn ist heute in Graz und mein älterer Sohn, der bereits ausgezogen ist, war am Vormittag bei mir.

Alle sind für mich da, wenn ich sie brauche, und trotzdem kann mir niemand helfen. Ich habe ihnen allen vor acht Tagen einen richtigen Schock verpasst, aber ich musste es ihnen doch sagen, wir sind doch eine Familie und noch dazu eine ziemlich gute.

Warum schreibe ich vielleicht noch?

Weil wir so viele sind, weil das, was ich gerade durchmache, viele hautnah verstehen können, und hätte ich jetzt so ein Schriftstück in der Hand, würde ich mich auf meinem Sofa in eine warme Decke verkriechen, hätte dicke, selbst gestrickte Socken an und würde lesen.

Ich würde lesen von einer mir Unbekannten, die gerade das Gleiche oder ein ähnliches Schicksal durchlebt.

Lesen über die Tränen, die man vergießt, die Angst, die einen überfällt, die Hoffnungsschimmer, die auftauchen und die ganz düsteren Gedanken, die man zu verdrängen versucht, damit nicht eine grässliche Angst die ganze Kontrolle über einen bekommt.

Es ist ungefähr 11:40 Uhr an diesem sonnigen, warmen Donnerstag im September, als eine junge Röntgenassistentin eine der Türen vor mir öffnet und meinen Namen nennt.

Jeder weiß, was folgt. Bitte Oberkörper freimachen und zu mir hereinkommen. Vergessen Sie bitte nicht, die Tür abzusperren.

Ich kenne den Raum. Ich war bereits in den letzten 7 Jahren dreimal bei einer Sonographie bzw. Sonographie und Mammographie. Davor auch noch einmal, aber in einem wesentlich längeren Abstand.

Die Untersuchungscouch ist mit frischem Papier überzogen und ich bekomme ein Baumwolltuch in die Hände, damit ich mich nach der Untersuchung abwischen kann.

Ich mag solche Räume nicht. Sie sind dunkel, neben mir rauscht ein Monitor und ich sehe die irgendwie lachsfarbige Wand an meiner linken Seite an mit dem Magnolienast darauf. Ich muss noch warten, überschränke meine Beine und sehe auf meine schwarzen Schuhe.

Schön sind sie nicht, aber warm.

Ich löse den Knopf wieder aus meinen Beinen und liege wieder gerade. Eigentlich möchte ich schon wieder weg sein, denk ich mir, aber so geht es mir immer.

Letztes Mal war ich vor zweieinhalb Jahren da und da war die Zyste in meiner linken Brust nicht größer als ein Jahr zuvor – also.

Der Arzt kommt in den Raum. Er ist groß, sehr groß, und es ist der Chef des Institutes. Er hat an mir noch nie eine Untersuchung vorgenommen.

Bis jetzt kann ich mich an zwei andere Ärzte und einmal eine Ärztin erinnern.

Er begrüßt mich kurz und freundlich, will noch kurz wissen, warum ich zur Frauenärztin gegangen bin und warum sie mich schickt.

Ich antworte: Nur wegen Regelunregelmäßigkeiten und sie schickt mich wegen der leicht spürbaren, etwas härteren rechten Brust.

Er meint nur, während er mit der Untersuchung beginnt: Schauen wir einmal, vermutlich handelt es sich auch hier, so wie links, um ein eher zystenreiches Gewebe.

Ich schaue so gut es geht am Monitor mit. Links ist alles wie bekannt, es hat sich nicht verändert.

In Gedanken schon alles geschafft, weil es bei mir bei jeder Untersuchung immer nur links etwas zu sehen gibt.

RECHTS. Er fährt mit dem Ultraschallgerät über die rechte Brust. Noch einmal.

Ich würde gerne noch eine Mammographie machen, meint der Arzt, und ich antworte sofort: Ich habe noch gar keinen Termin dafür.

Mir kommt in ihrer rechten Brust etwas tumorös vor und darum möchte ich gleich diese Untersuchung anschließen, um sichergehen zu können und anderes ausschließen zu können.

Die Assistentin bittet mich, meine Sachen in die Kabine nebenan zu legen.

Ich spüre mich nicht mehr, ich mache nur mehr. Mein rechter Busen wird in Position gebracht, mir wird komisch, es rauscht nur mehr.

Mir wird ganz komisch, sage ich noch, und sie reagiert und setzt mich auf den kleinen Hocker mit Holzauflage und weißen Beinen. Ich bekomme ein Glas Wasser und lehne meinen Kopf an den Türrahmen. Gott im Himmel.

So sitze ich mit nacktem Oberkörper auf diesem Hocker, brauche zwei Hände, um mein Wasserglas zum Mund führen zu können, da meine Hände so zittern. Ich schwitze und mir ist kalt, alles rauscht in meinem Kopf.

Es geht wieder los, schließlich habe ich nicht ewig Zeit, denke ich mir und man braucht doch ein Untersuchungsergebnis, also ein Mammographie-Bild.

Tumorös, immer wieder dieses Wort. Ich spüre, wie es mir den kalten Schweiß in den Körper treibt. Mir wird schon wieder ganz schrecklich, ich muss das schaffen, mir wird …

Ich weiß nichts mehr. Ich liege am Boden neben dem Mammographiegerät. Es ist dunkel und stickig. Alles brummt, mein Kopf, die Geräte. Was ist passiert?

Ich sehe eine große Gestalt durch den Türrahmen kommen. Es ist der Arzt. Ich liege am Boden, mein Kopf wird durch irgendwelche Körperteile der Assistentin vor dem harten Boden geschützt.

Ich bin kollabiert.

Haben Sie mich nicht rufen hören?, meint sie. Ich keuche, nein.

Ich habe solche Angst, höre ich mich noch zum Arzt sagen, und er meint: Ich verstehe Sie.

Man gibt mit noch kurz Zeit, dann setze ich mich wieder auf diesen Hocker und schlottere vor mich hin.

Es war erst die erste Seite, erfahre ich.

Man gibt mir wieder Zeit. Der Röntgenassistentin habe ich einen sichtlichen Schock verpasst.

 

Wie bin ich hier heruntergekommen? Frage ich sie. Ich habe Sie aufgefangen. Gott sei Dank sind Sie nicht schwer.

Haben Sie mich nicht rufen gehört? Ich habe echt geschrien. Nein, ich weiß nichts mehr.

Man gibt mir wieder Zeit, danach hängt sich die Assistentin einen Schurz um und stellt sich bei der Untersuchung hinter mich, um mich zu halten. Eine Zweite löst aus. Der Arzt meint noch einmal: Habt ihr die Bilder? – und zu mir: Sie müssen das abklären, mit der Frauenärztin reden, eine MR machen.

Ich schlottere am ganzen Körper und bemühe mich, mich anzuziehen. Blauer BH, Unterhemd, da mir meistens kalt ist, und grauer Pulli.

Ich darf so nicht selber nach Hause fahren. Ich muss meinen Mann verständigen. Mein Handy liegt im Auto. Die Assistentin neben mir ist auch geschockt, aber anders als ich.

Bei mir hat sich gerade die ganze Welt verändert. Ich nenne ihr die Nummern, sie tippt sie für mich ein und gibt mir das Handy in die Hände. Ich warte. Dann höre ich die Stimme meines Mannes am anderen Ende. Die Minuten waren so emotional und furchtbar, dass ich sogar weine, während ich diese Zeilen schreibe.

Ich höre nur noch, wie er seinen Namen nennt, und als er meine Stimme unter dieser Nummer hört: Ja, hallo Elfi. Und ich: Du musst mich holen, vom Röntgeninstitut.

Was ist denn los? Und ich: Hol mich bitte, gleich.

Danach werde ich mit einer Nackenrolle auf die Sesselreihe, die orange, die ich eigentlich nicht mag, gelegt. Dort liege ich und warte, man schaut noch einmal nach mir, nach wenigen Minuten.

Danach geht der Alltag in diesem Röntgeninstitut weiter. Ich liege da, bin im verkehrten Film angekommen. Die Leute in meiner unmittelbaren Umgebung sind mir egal. Ich will nur mehr weg.

Ich muss Bescheid geben, wenn ich abgeholt werde.

Ich zittere gerade wieder so, als ob ich das Geschriebene gerade eben erleben würde, dabei ist es heute genau eine Woche und drei Tage her.

Ich muss jetzt etwas Schöneres, etwas für mich Einfacheres schreiben.

Es ist Sonntag. Ich bin wieder alleine zu Hause, da mein Mann wieder Dienst hat. Er ist Polizist und da gibt es auch Wochenenddienste, viele sogar.

Die letzten Sätze habe ich alle mit „ich“ begonnen, fällt mir auf. Früher in der Schule hätte ich damit sicher ein Problem bekommen und eine rote Wellenlinie darunter.

Heute ist mir das mehr als egal, vielleicht ist es auch mein Unterbewusstsein, weil es nur um mich geht, weil ich es bin, die in diesem Drama die Hauptrolle zugeteilt bekommen hat.

Ich wünsche mir so sehr, dass alles gut geht und ich in drei Tagen eine Antwort bekomme, die meine Situation mildert und entschärft.



15. September 2017


Den Mann, auf den ich im Röntgeninstitut warte, kenne ich nunmehr seit siebenundzwanzig Jahren. Er ist mein Traummann und das meine ich aus tiefstem Herzen.

Ich habe ihn in einer Disco im Nachbarort kennengelernt. Ich war damals zweiundzwanzig Jahre. Gerade noch, denn es war ein Samstag Ende September. An das Wetter kann ich mich nicht mehr erinnern, aber an das Datum.

Es war der 28. September, genau der Tag, an dem ich siebenundzwanzig Jahre später diesen Befund bekommen sollte.

Wenn es dreihundertfünfundsechzig Tage in einem normalen Jahr gibt, warum ist es möglich, dass es genau dieser Tag ist? Ich weiß es nicht. Vielleicht weil er mir schon einmal das große Glück gebracht hat und er mir nach dieser großen Prüfung noch einmal Glück bringt.

Der DJ in dieser Disco damals hatte, glaube ich, ein Auge auf mich geworfen und jedes Mal, wenn ich mit meiner Freundin dort hinkam, legte er für mich den Song „I Promised Myself“ auf, weil ich ihn mir schon einmal gewünscht hatte.

Ich mag den Song bis heute und knüpfe daran besondere Momente.

Es war der Song, der im Radio gespielt wurde, nachdem meine erste Beziehung zu Ende war. Wir hatten uns ausgesprochen, Ungeklärtes blieb trotzdem ungeklärt.

Ich stieg in meinen kleinen roten Subaru, öffnete das Schiebedach und schaltete das Radio ein.

Ich spürte damals, jetzt muss ich einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Es war leer in mir und ich fühlte mich allein. Das Lied, das zu hören war, war „I Promised Myself“. Es wurde für mich mein Lied in dieser Zeit.

An diesem 28. September war ich auf der Tanzfläche, ich tanzte zu meinem Lied. Vermutlich meine Freundin auch, ich weiß es nicht mehr.

Sie war es auch, die die zwei Jungs am Tresen kannte, da sie aus unserem Heimatort waren. Ich hatte sie nie zuvor gesehen.

Meinem Mann bin ich schon auf der Tanzfläche aufgefallen, er weiß bis heute, was ich anhatte. Ich übrigens bei ihm auch.

Ein paar Tage später klingelte am Nachmittag in meinem kleinen Landkindergarten das blaue Telefon, damals noch mit Tasten und einem großen Hörer.

Ich weiß noch, dass ich meine Kleinen immer wieder gebeten habe, etwas leiser zu sein, damit ich die Stimme am anderen Ende richtig verstehen konnte.

Auf diese Stimme und diesen Mann warte ich jetzt in diesem Röntgeninstitut so sehnsüchtig, wie es sich nur wenige vorstellen können.

Dann endlich. Ich höre seine Stimme, wie er die Empfangsdame grüßt, und ich melde mich nur mit: Hier bin ich.

Er hat seine Uniform gegen seine schwarze Jeans und das dunkle Marco-Polo-T-Shirt getauscht. Als er auf mich zukommt und meint, was ist denn los, merke ich, dass unsere heile, schöne Welt gerade ganz kaputt ist.

Meine Finger zittern wieder so, dass mir das Schreiben schwerfällt. Neben mir steht die Glastasse mit Lavendeltee. Ich lehne mich zurück, trinke und lese mir die letzten Seiten einfach noch einmal durch.

Es schreibt sich einfach. Ich muss nicht nachdenken. Es ist noch ganz schwer zu verstehen, was in den letzten Tagen passiert ist. Die Geschichten von damals geben mir jedoch Kraft, an das Schöne und Gute zu glauben.

Ich will, nein, wir wollen noch viel gemeinsam erleben, haben wir uns erst gestern geschworen.

Ich stehe auf, hänge mich an seinen Arm und melde mich ab. Keine Ahnung, wie ich in diesem Moment ausgesehen habe, denn die Empfangsdame, von der ich nach der Untersuchung die Rechnung abholen sollte, meint nur: Ich schicke Sie Ihnen mit der Post.

Erst draußen vor der Tür bricht es aus mir heraus. In meiner rechten Brust hat man einen Tumor entdeckt, er ist groß, ich muss es abklären, eine MR machen, damit man mehr weiß.

Ich weiß nicht, wie er in diesem Augenblick ausgesehen hat, ich habe geradeaus gestarrt, mich zugleich tonnenschwer und schwebend wie auf einer Wolke gefühlt.

Man kann es sich nicht vorstellen.

Nur die, denen es so geht wie mir, die verstehen mich jetzt.

Wir setzen uns ins Auto und ich weiß nichts mehr. Ich weiß nur mehr, dass ich so unendlich froh war, dass er bei mir war.

Wir brauchen mehr Klarheit und machen uns auf in ein Röntgeninstitut ganz in der Nähe. Dort war ich heuer schon einmal, um meine Wirbelsäule untersuchen zu lassen, mit der ich schon Probleme hatte.

Eine MR-Untersuchung musste her. In diesem Institut sind kurze Termine möglich, warum auch immer. In Notsituationen wie in meiner vielleicht noch rascher.

Fünf Minuten später erreichen wir das Institut. Obwohl es laut Öffnungszeiten geöffnet haben sollte, stehen wir vor verschlossener Tür und dunklem Innenraum.

Mein Mann wählt die angegebene Nummer. Es läuft ein Band, das uns die Öffnungszeiten mitteilt, die aber ohnehin nicht stimmen.

Er kann es nicht glauben und probiert es noch einmal und noch einmal. Nichts. So ist es, wenn man wirklich jemanden braucht. Man ist allein, irgendwie verloren, fehl am Platz.

Wir sitzen im Auto und mein Mann überlegt, wie er mich beziehungsweise mein Auto nach Hause bekommt, da wir ja jetzt mit zwei unterwegs sind. Er mit seinem, in dem wir sitzen, und meines, das noch immer vor dem ersten Röntgeninstitut steht.

Die Jungs, irgendwie am Abend mit den Jungs. Dann sage ich plötzlich: Ich fahre selbst und du fährst hinter mir. Ich kann das, wenn ich weiß, dass du hinter mir bist.

So machen wir es dann auch. Ich fahre konzentriert und bin froh, nach circa fünfundzwanzig Minuten zu Hause zu sein.

Mein Mann öffnet die Haustür, ich ziehe noch Jacke und Schuhe aus und dann lasse ich mich auf das Wohnzimmersofa fallen. Egal wo meine Arbeitstasche ist, egal was immer. Ich ziehe die Decke über mich und beginne schrecklich zu heulen.

Mein Mann nimmt neben mir Platz, hält meine Hand und ich weiß, dass sich auch in seinen Augen unheimlicher Kummer und Tränen widerspiegeln.

Dann beginnt er wieder die Nummer des MR-Institutes zu wählen. Nichts. Ein Tonband mit einer Stimme, das einem die Öffnungszeiten mitteilt, die gar nicht stimmen.

Wir haben nicht ewig Zeit, obwohl alles momentan zeitlos erscheint. Er muss zurück in den Dienst. Seine Kollegen haben ihn vertreten, so wie er es jederzeit auch für einen anderen machen würde.

Ich sehe ihm das schlechte Gewissen an, mich allein lassen zu müssen, und ich weiß auch, dass ich damit umgehen kann. Eigentlich kann mir niemand helfen und ich will ohnehin nur noch in meiner Decke versinken und weinen.

Er küsst mich und geht aus dem Haus. Ich höre noch, wie er die Haustür absperrt und fährt.

Ich schließe die Augen und verstehe die Welt nicht mehr.

Ich weiß nicht genau, wie lange ich so dagelegen habe. Für mich eine Ewigkeit, in Wirklichkeit höchstens fünf bis zehn Minuten.

Das Handy neben mir schreckt mich auf. Eine lange, für mich unbekannte Nummer. Ich hebe ab.

Die Frauenärztin ist am anderen Ende zu hören. Sie teilt mir mit, dass sie vom Röntgeninstitut einen Befund übermittelt bekommen hat, der … ich weiß den Wortlaut beim besten Willen nicht mehr.

Sie möchte mit mir sprechen.

Wann?

Ich komme sofort, bitte, mein Mann bringt mich zu Ihnen.

Ich merke, wenn ich diese Zeilen schreibe, wie sie mich aufwühlen, ich schreibe zu schnell, mache Fehler, die ich erst später entdecke, wenn ich die Zeilen ein zweites Mal lese.

Damit ist sie einverstanden und obwohl sie bereits freihat, bleibt sie für mich noch in der Ordination, erklärt sie mir.

Ich weiß noch, dass ich sofort nach Beendigung des Gespräches die Nummer meines Mannes gewählt habe.

Er hat umgedreht und war eben diese fünf bis zehn Minuten später wieder vor unserem Haus.

An die Fahrt kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir haben auf dem gleichen Parkplatz geparkt, auf dem ich mein Auto einen Tag zuvor vor dem Besuch der Frauenärztin abstellte. Wir lösen den Parkschein, klemmen ihn hinter die Scheibe und eilen los.

Vorbei an der Gärtnerei, rechts, ein paar Parkplätze entlang, durch das Tor eines Gemäuers in den Arkadenhof, Treppen, Stiegen, ein paar Schritte geradeaus, die Tür links.

Es ist ganz still. Die Lichter sind aus und die Ärztin telefoniert noch gerade von der Stelle, wo normalerweise die Empfangsdame sitzt. Sie deutet mit der Hand in den Warteraum.

Ihre Ledertasche ist bereits an den Türrahmen der nächsten Tür gelehnt, ein Zeichen, dass sie wirklich nur mehr auf mich, auf uns gewartet hat.

Da sitzen wir auf diesen gelb und türkis gefärbten Sesseln mit und ohne Armlehne und starren auf die vielen Fotos von Babys und stillenden Müttern.

Dazwischen fällt mein Blick auf Broschüren, die zur Brustkrebsvorsorge mahnen und für Seminare werben, die das richtige Abtasten der Brust lehren sollen.

Sie lässt uns wirklich nicht lange warten, aber alles wird plötzlich zur Ewigkeit.

Durch meine Gedanken kreist eine zentrale Frage. Was hat der Röntgenarzt um Gottes willen gesehen, dass die Frauenärztin zwei Stunden später schon einen Bericht von ihm vorliegen hat? Was hat er gesehen, dass in der heutigen Zeit eine Ärztin nach ihrer Ordinationszeit noch in der Praxis bleibt, um mit mir diesen Befund zu besprechen?

Mehr Angst kann man nicht haben, man fühlt sich irgendwie wie narkotisiert, gelähmt.

Sie sieht ganz anders aus, als sie in das Wartezimmer auf uns zukommt. Sie hat ihr weißes Arztgewand bereits gegen ein Leinen-Trachten-Outfit mit langem engem Rock und geschnürtem Oberteil getauscht. Sie wirkt darin noch schlanker als in Weiß.

 

Sie setzt sich und hält diesen Befund in den Händen. Einen weißen Zettel in A4-Format, der so viel Ungewissheit und Angst über mich gebracht hat.

Mir wird während des Gespräches klar, dass in meiner rechten Brust oberhalb der Brustwarze ein circa drei Zentimeter großer Tumor gefunden worden ist, der mich auf BI5 katapultiert hat.

Ein Wert, bei dem das Risiko bei 90 % liegt, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Ich brauche eine schnelle Abklärung in einem der Krankenhäuser, die sie mir aufzählt.

Da sie die Ärzte im hiesigen Krankenhaus kennt, empfindet sie dieses als gute Wahl. Sie verschweigt mir aber auch nicht, dass die großen Krankenhäuser in der Hauptstadt natürlich bereits länger Brustgesundheitszentren haben.

Wir verlassen die Ordination mit der Vereinbarung, dass sie einen Termin für mich ausmacht im hiesigen Krankenhaus und mir gleich morgen Vormittag Bescheid gibt.

An diesem strahlend schönen Herbsttag fahren wir nun ein zweites Mal nach Hause. Mit schwerem Gepäck auf der Seele.

Zu Hause sitzt meine Mutter auf einer Holzbank hinter ihrem Haus. Dies ist zugleich in der Nähe der Garageneinfahrt vor unserem Haus.

Kurzum, sie sieht uns kommen und meint beim Aussteigen aus dem Auto nur: Hallo.

Obwohl ich den Gruß erwidere, sagt sie sofort: Passt eh alles?

Es sind die feinen Fühler einer Mutter, die einen kennt und liebt, ob man drei Jahre alt ist oder fünfzig wird. Es ist dieser innere Instinkt, der einen aufhorchen lässt.

Ich mag diese Bank. Sie liegt schön geschützt in der Sonne an der Holzwand des alten Hauses. Die Brombeerstaude daneben gibt im Herbst alles her, was sie nur aufbieten kann.

Große, dunkelrote Brombeeren, die ich gerne einfriere und später mit anderen Früchten mische und zu gesunden Smoothies verarbeite.

Ich schätze es sehr, das zu ernten, was die Natur so hergibt. Der grüne Daumen ist mir sozusagen in die Wiege gelegt.

Wenn die Herbstsonne so wie heute den ganzen Tag auf die Beeren scheint, geht ein besonderer Geruch von ihnen aus. Man kann ihn nicht wirklich beschreiben, und wenn doch, würde ich ihn mit überreif und süß bezeichnen. Die Wespen schauen, was für sie noch bereitsteht und surren ganz wild.

Sitzt man auf der Bank, so fällt der Blick automatisch auf meinen Garten, der hinter unserem Haus liegt. Zwei Häuser nahe beisammen und doch hat jeder sein eigenes Reich.

Alles im Garten ist schon auf die nächste Jahreszeit vorbereitet. Eine dicke Schicht von Grasschnitt bedeckt die Reihen, in denen im Frühling meine eigenen Kartoffeln, Zwiebel, Erdbeeren, Kräuter und vieles mehr zu wachsen beginnen.

Heuer war ich besonders früh dran, alles winterfest zu machen, nicht weil ich etwas geahnt habe, nein, ich hätte nie etwas geahnt, weil nichts anders war. Weder die Größe meiner Brust noch sah man Veränderungen und Schmerzen habe ich auch nicht verspürt.

Jetzt spüre ich sehr wohl etwas. Sie zieht und ich bin mir sicher, es sind die Nerven, die mir jetzt etwas vormachen und auch die Gedanken an das Gefährliche, Angstmachende darin.

Ich war bei meinem Garten früh dran, da mein Kuraufenthalt bevorstand und meine Mutter zwei Tage vor meinem Kur-Ende eine große OP vor sich hat, eine Schulterprothese. Danach wollte ich für sie da sein und mich nicht mehr mit Nichtigkeiten wie Gartenarbeit beschäftigen.

Die Gartenarbeit in den letzten warmen Herbsttagen zu beenden, ist mir ohnedies lieber als in den ersten kalten und nassen Novembertagen.

Da sitzt sie nun, meine Mutter, und findet es vielleicht ein wenig eigenartig, dass ich ihr nicht sofort eine Antwort auf die Frage: Passt eh alles? gegeben habe.

Ich warte noch auf meinen Mann und dann gehen wir die paar Meter zu ihr. Ich setze mich zu ihr auf die Holzbank und ich weiß heute den Wortlaut nicht mehr genau.

Es sind Worte mit einer Verzweiflung in meiner Stimme gewesen und ein leiser Aufschrei wie „Das darf doch nicht wahr sein“ in ihrer Stimme.

Eine bleierne Müdigkeit liegt über mir.

Mein Mann fährt wieder in die Arbeit. Ich gehe ins Haus, nachdem ich auch das Herz meiner Mutter schwer und unendlich traurig gemacht habe.

Mein Blick aus dem Küchenfenster zeigt mir: Sie sitzt noch immer dort, ich weiß nicht, wie lange.

Sie sitzt dort mit ihrem Kummer, den ich ihr gerade zugefügt habe. Einem Kummer, den wir schon einmal durchleben mussten, der kein Happy End hatte und vor dem wir furchtbare Angst haben.

Es war ein anderer Tumor, an einer anderen Stelle bei meinem Vater.

Ich lege mich wieder ins Wohnzimmer, vergrabe mich abermals in die Decke und lasse meinen Gefühlen freien Lauf.

Das Gleiche wie ein paar Stunden zuvor, nur dass mein Mann diesmal nicht mehr umkehren muss und bis neunzehn Uhr im Dienst bleibt.

An diesem Tag brauche ich weder Essen noch Trinken. Ich spüre mich nicht mehr.

Mein jüngerer Sohn bleibt diese Nacht bei einer Freundin, er weiß ja noch von nichts, genauso wie unser älterer Sohn. So sind mein Mann und ich an diesem Abend und in dieser Nacht allein.

Wir liegen jeder in seinem Bett eng beieinander und halten uns an den Händen. In den vielen Jahren, in denen wir uns jetzt kennen und verheiratet sind, haben wir immer jeder in seinem Bett geschlafen.

Kuscheln ist die eine Sache, aber um gut schlafen zu können, braucht jeder von uns seinen Platz. Ich kann auf seinem Oberarm nicht wirklich schlafen und er nicht auf dem Rücken.

Das hat unserer Beziehung nie einen Abbruch getan. Man braucht in einer Beziehung Nähe und Platz für sich selbst.

Wir schlafen in dieser Nacht nicht viel. Wir nicken ein und schrecken hoch. Ich weine, da ich das Ganze nicht glauben, nicht wahrhaben will.

Er drückt mich an sich und küsst mich und versucht Worte zu finden, die mich trösten, obwohl er selbst auch Trost brauchen würde, da auch bei ihm das Erlebte an diesem Tag Spuren hinterlässt.

Als Polizist ist er an vieles gewohnt, hat schon Schreckliches gesehen, musste Geschehenes übermitteln und sah in seiner langen Dienstzeit, wie Schicksale zuschlugen.

Nie nimmt er davon etwas mit nach Hause. Es ist sein Beruf und er kann damit umgehen, konnte es schon immer.

Seine Familie ist ihm sein wichtigstes Gut. Darum ist jetzt alles anders, auch bei ihm.

Momentan fällt mir das Schreiben schwer.

Die wildesten Gedanken treiben sich wieder durch mein Gehirn und ganz vorn, hinten oder irgendwo ist etwas, das mich hoffen lässt und mir eine Chance gibt.

Jetzt lege ich mich kurz auf das Sofa und decke mich zu. Brauche eine Pause. Ich verschränke jetzt im Liegen oft meine Arme und lege die linke Hand auf meinen Busen.

Er ist warm, weich und so wie immer. Mein Busen ist nicht groß, er ist klein. Mein Mann meint, optimal, und wenn er größer wäre, das weiß ich, würde er ihm auch gefallen.

Aus meiner Hosentasche ziehe ich noch ein Amulett aus Bolivien. Ein Geschenk einer Freundin, ein Glücksbringer.

Ich lege ihn direkt auf die Haut, direkt auf die Stelle über der rechten Brustwarze und lege meine Hand darauf und hoffe, dass vielleicht doch alles gut wird.

Normalerweise schlafe ich eine ganze Nacht durch. Meine Freundin beneidet mich immer darum. Für mich ist das ganz normal. Ich könnte auch noch den halben Tag verschlafen, weil ich oft müde bin.

Aber seit gestern ist nichts mehr normal. Wir wälzen uns herum. Einmal schläft mein Mann, einmal ich, und dann merken wir wieder, dass wir beide wach sind und liegen still nebeneinander.

Mein Mann steht um 6:00 Uhr morgens auf und ich um 6:30 Uhr. Yoga lasse ich heute aus. Wäre heute ein Tag wie jeder andere, würde ich im Wohnzimmer meine grüne Yogamatte ausbreiten, die CD starten, die immer im CD-Player liegt, auf die Nummer zwei drücken. Die Viertelstunde Yoga mache ich, glaube ich, seit mehr als sechs Jahren. Sie tut mir für meine Wirbelsäule gut.

Vor sechzehn Jahren bin ich Anfang November die kleine Stiege zwischen unserem Haus und meinem Elternhaus hinaufgehastet, um im Glashaus meines Vaters etwas zu holen, vermutlich für das Mittagessen.

Beim Heruntergehen bin ich auf der doch schon leicht eisigen Stiege ausgerutscht und habe mir an der Wirbelsäule zwei Querfortsätze gebrochen.

Auch heute noch macht mir meine Wirbelsäule noch öfter zu schaffen und mein Beruf mit dem Sitzen auf so kleinen Sesseln tut vielleicht auch noch etwas dazu.

Ein wenig Sport, Rückenmuskeltraining und Yoga helfen mir dabei ganz gut.

Im Frühjahr habe ich einen Physiotherapeuten besucht, bereits bei der ersten Stunde hat er mich irgendwie gedreht, dass ich einen Knacks beim Drehen gehört habe.